Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

7.

Die innere Unruhe, die das Tragen solcher Gedanken in Louisen hervorrief, machte sich, wie gesagt, in ihrem Verhältnis zum Verlobten, zu ihrer ganzen Umgebung fühlbar. Aber litt Louise ein wenig, indem sie tapfer mit der neuen Weltanschauung rang, so litt tiefer und unsagbar schmerzlich die zartere Henriette, eben weil sie, wehrlos und untätig, den Widersprüchen ausgeliefert blieb, mit denen Louise sich auseinandersetzte. Denn auch Henriettens unscheinbares Dasein war in die Wirren der Zeit verstrickt, und weit tragischer als das der Schwester. Auch Henriette liebte einen Flüchtling aus dem Pariser Hexenkessel, einen glücklich Entronnenen und völlig Entwurzelten, doch war dieser Flüchtling kein Soldat, der fröhlich sein altes Recht im neuen Weltbilde behaupten konnte, sondern ein schüchterner junger Priester, dessen Kloster zerstört und dessen Abt gemordet, dessen Orden aber schlechthin aufgehoben war. Er war mit den Texiers verwandt und wurde Vetter genannt. Er durfte, da er die Verfassung nicht beschwören wollte, keinerlei Amtierung üben, doch hinderte ihn niemand, in der kleinen weißen Kapelle des Schlößchens allmorgendlich eine Messe für die Damen zu lesen, ihnen die Beichte abzunehmen und in zarter Weise ihre Seelen, soweit sie dies wünschten, zu beraten. Bei dieser Beschäftigung war er so rein, so knabenhaft ernst und begeistert, daß die Frauenherzen sich ihm liebevoll zuneigten. Frau von Texier, die allerdings mehr Rat spendete als sie empfing, betrachtete ihn mit Mutteraugen als eine Art von Familienheiligen, der alle Texierschen Ansprüche auf eine gesicherte Stellung im Jenseits zu führen hatte; Louise, obgleich sie Rat und Beichte verschmähte, war ihm gut wegen seines Ernstes, wie sie jede Überzeugung zu achten verstand, die sich selbstlos und mutig äußerte; Henriette aber liebte ihn blind und besinnungslos. Sie war sich der schrecklichen Sünde wohl bewußt, und es war keine geringe Verschärfung ihrer Qual, daß sie da beichten mußte, wo ihr schamhaftes Gemüt Schweigen und Verstellung forderte. Sie zermarterte ihr nicht sehr tätiges Gehirnchen nach Ausdrücken der Verschleierung, die sie undurchsichtig wähnte, die aber dem gleichfalls liebenden Pater beseligende und vernichtende Blicke in die aufgewühlten Tiefen ihrer armen Seele gewährten. Es dauerte nicht lange, so wanden sich Beichtiger wie Beichtkind in den Flammen eines ewig unstillbaren Verlangens, und jede Beichte, jede Absolution ward zum Liebesgestammel. Jedes von ihnen schöpfte Wonne aus der gegenseitigen Versicherung ihrer Verworfenheit, ihrer sträflichen Ohnmacht. Sie legten sich gegenseitig die schwersten Bußen auf, aber jede Buße erneute das Gefühl der Abhängigkeit voneinander und galt nicht Gott und seiner Vergebung, sondern dem Beifall oder Mitgefühl des Geliebten. Wenn Julian des Nachts auf den eiskalten Steinfliesen seiner Kammer lag, so gewann ihm dies keinen wesentlichen Fortschritt auf dem Wege der Läuterung: denn je weniger er schlief, desto mehr dachte er des lieben Mädchens. Und wenn Henriette eine erstaunliche Reihe von Rosenkränzen abbetete, so erschlaffte im Gleichklang der ewig wiederholten Formel der Wille immer mehr, und der Geist sank hin in süßen und sündigen Vorstellungen, während der Mund Buße zu tun glaubte. Bei dieser lieblichen Übereinstimmung magerten die beiden Zerknirschten zwar merklich ab, aber ein wonnesames Gefühl der Gleichzeitigkeit, des Schritthaltens, der Zweisamkeit gab ihren Seelen Weide und Labsal. Je übernächtiger und schattenhafter sie einherwandelten, desto unbestreitbarer offenbarte sich jedem die Liebe des anderen. Da sie beide fest in den alten Begriffen und der alten Frömmigkeit ihres Standes ruhten, so ließen sie, streng und furchtsam zugleich, auch nicht den leisesten Gedanken an eine mögliche Veränderung ihrer Lage in sich aufkommen, vielmehr richteten sie ihre unschuldigen Augen fest auf eine gemeinsame Märtyrerkrone und berauschten sich am bitter-süßen Tranke der Entsagung. Dieses leidvolle Glück breitete sich wie eine sanftbestrahlte Wolke um ihre Füße, hob sie vom Boden, ließ sie Unirdisches sehen und gab eine traurige Genüge, bei der so junge, zartempfindende Wesen immerhin bestehen mochten. Aber Louisens scharfblickende Augen drangen durch die Schleier des Geheimnisses, und an demselben Tage war es mit dem Wolkenwandel vorbei. Das starke Mädchen stellte die beiden Träumer augenblicklich sehr energisch zu Boden. Aber nicht um sie zu tadeln oder zu beschämen, tat sie dies, sondern um ihnen einen Weg zu beseligender Wirklichkeit zu weisen. Denn hier war eine gesunde und köstliche Frucht der Revolution zu pflücken: kein Gelübde brauchte den jungen Priester zu binden, und dem weltlich Gewordenen war Werbung und Ehe nicht versagt. Auch eine würdige Aufgabe wußte Louise für ihn: die Republik rief Schule um Schule ins Leben, und Männer, die zu lehren befähigt waren, wurden hoch geschätzt.

Die arme Henriette war erblassend bis an die entfernteste Wand des Gemaches zurückgewichen, während Louise diese ungeheure, kalte und schamlose Weisheit von sich gab. Sie konnte nichts antworten als ein wiederholtes, ganz ersticktes: »Schäme dich! Schäme dich!« und jede Annäherung der Schwester nur durch die entsetztesten Gebärden abwehren. Aber Louise schämte sich keineswegs. Ihr schien eine glückliche Tätigkeit unter Menschen heiliger als ein Mönchsgelübde, wie sie denn überhaupt die tieferen und geistigen Lehren der Revolution mit glühendem Herzen aufgenommen hatte. »Hat Gott denn Männer und Frauen geschaffen,« rief sie eifrig, »damit sie in unfruchtbaren Bußen verkümmern? Hat er uns nicht die Erde gegeben, damit wir sie bevölkern, hat er uns nicht mit den leuchtenden Lettern der Liebe dies Gebot ins Herz geschrieben, dem zu gehorchen so süß ist wie nützlich? Sollen wir klüger sein wollen als diese mächtige Stimme, sollen wir die Natur umdeuten, die so offenbar gleiches Glück für alle ihre Geschöpfe fordert? Gebt euch doch nur hin, es gibt kein Gebot, das über den Geboten der Natur stünde!« In solchen und ähnlichen Worten, die uns heute nicht mehr so fremd klingen, wie sie damals geklungen haben mögen, bestürmte die kühne Jungfrau das erschrockene Gemüt der weiblicheren Schwester.

Henriette blieb natürlich allen Vorstellungen dieser Art völlig unzugänglich, und auch Julian hatte nur die eine Erwiderung, daß die Republik ihn nicht von einem Eid entbinden könne, den er Gott gegeben. Frau von Texier endlich, von Louisen zur Entscheidung herangerufen, schnitt mit wenigen starken Worten die Angelegenheit ab. »Du irrst, mein Kind,« sagte sie streng zu Louise. »Das Gebot, das du hier nennst, ist Gottes Gebot für das Tier. Das soll leben und sich fortpflanzen. Dem Menschen hat Er ein höheres Gebot ins Herz gelegt: das seines Standes! Denn Er hat Menschen geschaffen, die herrschen, und Menschen, die dienen sollen, Menschen, die durch die Tat, und solche, die durch den Geist wirken müssen, und diese Ordnung bedingt die Harmonie der Welt. Mensch ist, wer dies Gebot in seiner Brust deutlich vernimmt, und Frevel über alle Frevel ist es, den durch dies Gebot uns zugewiesenen Posten zu verlassen. Dann lieber sterben!« Louise, schmerzvoll bewegt, suchte noch weitere Einwände vorzubringen, etwa, Gott habe uns Verstand gegeben, um das Nützliche zu unterscheiden, und endlich könne doch die Revolution auch nicht ganz ohne seinen Willen in die Welt gekommen sein, und die Republik sei nun einmal als die herrschende Staatsform und Obrigkeit anzusehen. Es sei gewiß keine Schande, sich die Grundsätze eines Staates zu eigen zu machen, den man als siegreich habe anerkennen müssen, und ihm zu dienen vielleicht noch edler als der gezwungene Müßiggang eines abgeschafften Standes. Da stand die alte Dame auf, sehr hoheitsvoll und sehr bleich, und schloß das Gespräch mit den zornigen Worten: »Dann schlage ich vor, du ließest dich auch gleich in der Republik anstellen, und zwar als Göttin der Vernunft. Das ist gewiß eine Aufgabe, die du glorreich erfüllen würdest!« Die erbitterte Louise gab nach dieser Zurechtweisung jede weitere Auseinandersetzung auf. Als sie niedergeschlagen ihrem Verlobten ihre Ansicht kundtat, hoffend, daß er wenigstens die praktische Seite von der Sache sehen würde, empfing sie die Antwort: »Ich würde mich so gern mit dem Henker zu Tisch setzen, wie ich in einer Republik angestellt sein möchte, wenigstens in dieser Republik, die nichts als Schändlichkeiten aufzuweisen hat. Vergißt du den Königsmord? Klostergelübde oder nicht – Julian ist ein Mann unseres Standes, und den kann er nicht verraten.«

»So muß Henriette zugrunde gehen oder heimlich sündigen,« antwortete Louise aufgeregt. Und van Duyren zuckte die Achseln.

Es war ein neuer und nicht geringer Schmerz für Louise, einzusehen, um wieviel ihre Einmischung die Lage der beiden Liebenden verschlimmert hatte. Denn das einmal Ausgesprochene, seiner verklärenden Schleier Beraubte, stand häßlich und beschämend wie eine entehrende Krankheit da und forderte strenge Trennung. Nun erst begann also die wahre Bitternis der Liebe, Trennung und Sehnsuchtsschmerz, und nun erst der wahre Kampf. Denn beiden war ein Ausweg aus ihrer Not gezeigt worden, an den sie vorher nicht gedacht hatten. Das Ausgesprochene wird zum Möglichen und Wahrscheinlichen, und in den Tiefen verzweiflungsvoller Nächte erschien es als tunlich, ja, als wünschenswert. Der Tag, die Gemeinschaft mit den Standesgenossen, stieß täglich den ungeheuerlichen Gedanken wieder zurück ins Reich des Frevelhaften, die Nacht rief ihn immer wieder auf und schmückte ihn mit allen Rosenlichtern erlaubter Glückseligkeit. Julian wie Henriette litten unsagbar in dieser Zerrissenheit, und ihre jungen Gesichter, eben noch träumerisch weich von zartverklärten Schmerzen, wurden hart im verschärften Kampfe. Louise ging bekümmert umher, trug ihre Verwirrung zu Livarot, empfing aber auch von ihm keine Hilfe; denn der einsichtsvolle Mann erwiderte ganz richtig, daß Julian wohl nicht ohne innere Berufung Priester geworden sei, und daß gegen ein solches Gefühl auch die Voraussicht des eigenen Unterganges wirkungslos bleiben müsse, wenn anders der Mann kein Weichling sei. »Und wenn es sich um den Untergang des geliebtesten Wesens handelt?« fragte Louise erschüttert dagegen. »Ich fürchte,« sagte Livarot bewegt, »auch das kommt nicht in Betracht, wenn etwas Göttliches gegen etwas Menschliches steht. Ich tadle Ihren Vetter, aber ich bewundere ihn auch, und ich wünsche den Unseren viele solche Kämpfer wie er einer ist.« So ging Louise mit dem Eindrucke einer völligen Niederlage umher, und ihre Sorge um die Schwester drückte ihre sonst so freie Stirn.

Bonvouloir, die eine Reihe von häuslichen Obliegenheiten auf sich genommen hatte, war oft in so unmittelbarer Nähe ihrer Gebieterinnen beschäftigt, daß ihr Rede und Widerrede nicht entgehen konnten. Es schien auch niemand nötig zu finden, sich vor ihr in acht zu nehmen. Die innere Redlichkeit ihres Wesens, ihre Anhänglichkeit drückte sich so unverkennbar in ihren Mienen aus, daß sie vom ersten Tage an für eine Vertraute galt, wenn nicht gar für eine Beraterin. Henriette kam eines Tages in ihre Kammer, und ohne ein Wort zu reden, setzte sie sich auf Bonvouloirs Bett und weinte sich aus. Bonvouloir strich ihr über Haar und Wangen, sagte einige Male »Aber! Aber!«, versuchte jedoch klüglich weder zu fragen noch zu trösten. Als Henriette sich gefaßt hatte und hinausging, dankte sie Bonvouloir, ohne daß eine der beiden Mädchen gewußt hätte, wofür. Später geschah es dann einmal, daß Henriette unvermittelt fragte: »Was würdest du an meiner Stelle tun?« und Bonvouloir beinahe mit Empörung erwiderte: »Natürlich nichts anderes, als was Sie jetzt tun, Fräulein Henriette! Ich bin doch keine Jakobinerin!«

Herr von Texier, obgleich völlig eingeweiht, hielt sich mit seinem Urteil zurück, bemerkte nur, es wäre eine Gewissensfrage, in der jeder für sich entscheiden müsse; er würde an Julians Stelle wohl ebenso handeln, fände aber keinen Grund zur Verachtung, wenn der Jüngling den durch die neue Verfassung gebotenen und naheliegenden Ausweg ergreifen und sein Glück über seine Berufung stellen wolle. Er müsse sich dann nur die Möglichkeit vor Augen halten, daß in einem Falle, den sie alle wünschten und herbeizuführen bestrebt seien, die unter dem Schutze der Republik geschlossene Ehe ungültig sein würde. Julian, wie alle übrigen, rechnete viel zu bestimmt mit dem Eintreten dieses besonderen Falles, als daß er nur einen Augenblick hätte schwanken können, dem Gebote des Standes zu gehorchen. Da er aber am Rande seiner Kräfte war und auf irgendeine Art der Erlösung bedacht sein mußte, für sich sowohl wie für die zusammenbrechende Henriette, warf er sich in van Duyrens Arme und beschwor ihn, ihm zur Teilnahme an irgendeinem kriegerischen Unternehmen zu verhelfen, ihn zu bewaffnen, ihn mit Empfehlungsbriefen zu Herrn von Bonchamps oder Herrn d'Elbée zu schicken, damit er sein rebellisches Blut für die Sache aller Guten und Rechtdenkenden vergießen könne, was einzig noch Läuterung und Vergebung für ihn bedeute. Van Duyren versprach zu tun, was der Augenblick zulassen würde; und Henriette weinte am Halse ihrer Mutter neue und heißere Tränen darüber, daß es nicht einmal mehr ein Kloster gäbe, in dem sie ihrerseits Ruhe und Entsündigung finden könne: denn auch diesen letzten armen Trost gebrochener Herzen hatte die Republik vernichtet!


 << zurück weiter >>