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Schluß

1.

Als Bonvouloir auftauchte aus einem Abgrunde der Bewußtlosigkeit, der von brausenden Wirbeln namenloser Schmerzen erfüllt schien, lag sie in einem dunklen, übelriechenden, menschenvollen Raume auf einer leidlich trockenen Strohschütte und hielt ein Kind im Arm. Ihr gestählter Körper hatte den Gefahren einer verfrühten Geburt standgehalten, aber ihr Geist fand sich schwer und langsam in der grausam veränderten Gegenwart zurecht. Sie war tagelang völlig teilnahmslos. Louise, die neben ihr saß, besorgte das Kind und legte es an Bonvouloirs Brust, wo eine gute Lebensquelle aufgebrochen war, rein und gesund trotz des getrübten Gemütes der jungen Mutter. Bonvouloir tat mechanisch, was sie zu tun hatte, aber es verging mehr als eine Woche, ehe ihr versteinertes Gesicht sich beseelte mit jenem unvergleichlichen und einzigen Ausdrucke, der stillenden Müttern eigen ist. In den ersten Tagen hatte sie einmal um sich geblickt und gleichmütig gefragt: »Sind wir im Gefängnis?« – hatte dann aber weiter keine Aufmerksamkeit für ihre Umgebung gezeigt, obgleich unter den Gefangenen mehrere Damen der Vendée sich befanden, die sich teilnehmend um sie scharten. Sie redete fast nichts und fragte nie nach den Umständen von Heinrichs Tode; aber Louise konnte an der grübelnden Versunkenheit ihres Blickes bemerken, daß sie unausgesetzt an ihn dachte. Louise atmete auf, als diese unbeweglichen Augen sich eines Tages langsam mit Tränen füllten, und hätte sich beinahe gefreut, als Bonvouloir zum ersten Male laut und lange schluchzte. Von da ab wurde sie in der Tat etwas zugänglicher. Sie begann, dem kleinen, sehr schwächlichen Geschöpfchen an ihrer Brust Liebe zuzuwenden und lächelte manchmal über seine beginnende Menschlichkeit. Endlich erwiderte sie auch die Teilnahme und Freundlichkeit ihrer Mitgefangenen und richtete ihre Liebe und Dankbarkeit auf Louise, die den eigenen Verlust in selbstlosem Schweigen trug, eine Entrückte, die von der Erde nichts mehr weiß. Dann endlich lauschte sie auch den Berichten derjenigen unter den Gefangenen, die der Katholischen und Königlichen Armee verbunden gewesen waren.

Louise und Bonvouloir hatten viele Wochen in solcher Weltabgeschiedenheit, so verborgen und von solcher Bangnis umgeben gelebt, daß sie von allen neueren Vorgängen des Krieges, der sich jetzt im wesentlichen im Marais, also zu den Füßen Nantes', abspielte, nichts wußten. Nichts auch von dem Elend in der stets bedrohten Feste. Es war Mai, als man sie gefangennahm. Seit jenen Märztagen, in denen sie Guenrouel verlassen hatten, war die Nahrung ihrer hungrigen Seelen nichts anderes gewesen als verschwommene Gerüchte, von denen die glaubhaften von den unglaubhaften kaum zu trennen gewesen waren. Jetzt vernahmen sie von Weltzuständen, wie sie bitterer und unmenschlicher nicht gedacht werden konnten.

Es waren ungefähr achtzig Menschen in dem großen Kellergewölbe, das mit als Gefängnis dienen mußte, weil alle Zellen bereits überfüllt waren. Bei weitem der kleinste Teil der blassen Gestalten, die hier versammelt waren, gehörte den wirklich Aufständischen an; mit diesen pflegte man rasch aufzuräumen. Die meisten waren wohlhabende Bürger von Nantes, die unter der Anklage standen, Lebensmittel dem öffentlichen Austausche entzogen und so die herrschende Teuerung vermehrt zu haben. Die Bevölkerung von Nantes war an jenem, allen Revolutionen eigenen Punkte angelangt, wo nur noch unter Besitzenden und Nichtbesitzenden unterschieden wurde. Der schlichteste Bürger, wenn er einen unbeschädigten Rock anhatte, galt für einen »Aristokraten«, und wer sich satt aß, »saugte am Blute des Volkes«. Es genügte, ein paar Brote oder ein Körbchen mit Eiern im Hause zu haben, um des Wuchers und Hinterhaltens von Lebensmitteln bezichtigt zu werden, und wer einmal in den Augen des Pöbels mit dieser Marke gebrannt war, den konnte kein Gegenbeweis vom Tode erretten. Die Geschworenen urteilten meistens nach dem Schrei der Gasse; sie hätten nicht gewagt, Vernunftgründe geltend zu machen, wo die Wut und der Hunger zu Gericht saßen. Carrier freilich mochte aus anderen Beweggründen handeln. Ihm erwuchs Grausamkeit aus Angst, aus der bleichen Hoffnung feiger Gewaltmenschen, sich durch Schrecken zu behaupten. Die rascheste und nachhaltigste Vernichtung des Feindes galt ihm als sparsamste Schonung der eigenen Partei. Nun hatten sich Typhuserkrankungen in den Gefängnissen gezeigt. Carrier überlegte, daß ein Kampf gegen die Seuche nutzlos sein müsse, solange die Zahl der Verurteilten jede Absperrung unmöglich machte, und er griff zu einem Mittel, dem er den Mantel weiser Vorbeugung umhängen konnte und das ihn zugleich mit der ersehnten Mauer der Furchtbarkeit und Unerbittlichkeit umgeben sollte. Er ließ tatsächlich eine große Zahl von Gefangenen auf alten Galeeren versenken. Die Gefängnisse indes füllten sich wieder mit unheimlicher Schnelligkeit, vom Hasse des Pöbels, vom blöden Aberglauben, von bezahlter Angeberei, von allen niedrigen Leidenschaften emsiglich versorgt. Bonvouloir und Louise sahen in wenigen Wochen eine unglaubliche Reihe Gefangener einziehen und wieder verschwinden, und daß sie selbst verweilen durften, wo alle vorübergingen, verdankten sie nur einer ängstlichen Erwägung des Gefängnisaufsehers, der davor bangte, eine wunderschöne und traurige junge Mutter mit einem neugeborenen Kinde dem Pöbel darzustellen: gefühlsmäßige Parteinahme konnte plötzlich ausbrechen mit gefährlicher Rückwirkung. War man doch in Frankreich! Alle Gefangenen kamen lärmend an, erbost über ungerechte Behandlung, klagend über Verleumdung oder Irrtümer, schmähend auf unfähige Richter, selbstsicher im Gefühle völliger Unschuld. Alle gingen leise, gedrückt, mit der zitternden Frage im Blick: »Wohin führt man uns?« Sie hatten alle in diesem schrecklichen Gefängnisse lernen müssen, daß Unschuld kein Schutz ist.

Bonvouloir wartete stumpf, bis die Reihe an sie und Louise kommen würde. Louise schien den Augenblick herbeizusehnen, wo es geschähe. Manchmal, wenn die Gefangenen den Wärter fragten, wohin sie gebracht werden sollten, antwortete er geheimnisvoll: » Aux îles chavirées – nach den Inseln des Unterganges.« Das Wort hatte eine gespenstische Anziehungskraft für Louise: Inseln, die fern der Welt, am Eingang eines stillen Schattenreiches liegen mußten! Bonvouloir war es einerlei, ob es ins Wasser oder aufs Schafott gehen sollte. Zu ihrem maßlosen Erstaunen wurden sie eines Tages aufgefordert, in einer leeren Einzelzelle den Besuch einer Dame entgegenzunehmen.

Sie standen, hilflos mit ihren gefesselten Füßen, und fragten sich mit einer gewissen Neugier, wer sich da wohl ihrer erinnert haben mochte. Gab es denn in Nantes noch Adlige, die frei herumgingen, die es wagen durften, sich zu ihren gefangenen Standesgenossen zu bekennen? So viele Namen von einst einflußreichen Personen sie im Geiste aber auch aufrufen mochten – auf den richtigen wären sie nie verfallen. Denn die hübsche und wohlgekleidete Bürgerin, die nun über die Schwelle trat und beide in einer einzigen tränenvollen Umarmung fast erdrückte, war niemand anders als die treue Agathe.

Auch sie war als Gefangene nach Nantes gekommen, war eingekerkert und zum Tode verurteilt gewesen. Aber ihre derbe bäurische Wohlgeschaffenheit reizte die Lust eines Volksvertreters, er ließ ihr Freiheit und Leben zusichern, wenn sie sich ihm schenken wolle. Agathe, deren Gewissen in diesem Punkte robust war, besann sich keinen Augenblick, ja zu sagen. Als aber der Volksvertreter nach reichlich genossenem Mahle den Preis schuldig bleiben und Agathe auf eines der Transportschiffe ›nach den Untergangsinseln‹ bringen lassen wollte, gelang es ihr, in günstigem Augenblicke ihre Anklage in den zuschauenden Pöbel zu werfen, so markig, überzeugend und wortstark, daß eine plötzliche Parteinahme für sie sich regte. Einige handfeste Burschen warfen sich auf den Zug der Gefangenen, überwältigten die Soldaten, die sich gern überwältigen ließen, rissen Agathe heraus und stellten sie vor ein Verhör, in dem sie sich glänzend behauptete. Der Volksvertreter wurde nun seinerseits gerichtet, für das Mädchen aber fand sich ein tüchtiger Beschützer in der Gestalt eines älteren Schlossers, der als Patriot und Jakobiner eine ehrenvolle Bedeutung erlangt hatte. Er nahm sie in sein Haus und heiratete sie nach einigen Wochen. Dieser Mann, der Nagelschmied Proust, dessen Namen die Geschichte kennt, war aber nicht nur ein glühender und ehrlicher Republikaner, er war auch ein edler und mutiger Mensch, der offen und mit wunderbarer Ungestraftheit gegen die massenhaften Hinrichtungen auftrat und manchem Unschuldigen das Leben gerettet hatte. Er erlaubte Agathen nicht nur, er ermutigte sie sogar, ihrem Herzen zu folgen und das Los der Gefangenen erleichtern zu helfen, und es bildete sich unter ihrer Führung eine stille Vereinigung republikanisch unanfechtbarer und dabei menschlich denkender Frauen, die dies auf geschickte und wirksame Weise taten. Sie kauften zu diesem Zwecke Flachs auf, brachten ihn samt den nötigen Spinnrädern in die Gefängnisse, und gaben so mancher Verlassenen und Verzweifelten die Möglichkeit, sich einige Groschen zu besserem Unterhalte zu verdienen. Der so von adligen Händen gesponnene Flachs wurde dann freilich von republikanischen Webstühlen weiter verarbeitet und von republikanischen Deputiertenfrauen äußerst billig erworben. Agathens Unternehmen blühte dadurch, denn es entstand eine gewisse Nachfrage nach der preiswerten Ware. Die Damen, die sich mit dieser Art Wohltätigkeit befaßten, hatten Zutritt zu den Gefängnissen, freilich mußten sie jedesmal die Erlaubnis Carriers persönlich einholen. Er ließ sie oft stundenlang warten und behandelte sie äußerst barsch, indem er vorgab, der Flachs vermittle den Typhus. Bei der Geltung, die die Gatten jener Frauen in der Stadtverwaltung hatten, oder bei der Beliebtheit, die sie im Volke genossen, durfte er indes ihr Ansuchen nicht geradezu abschlagen.

Natürlich erfuhr Agathe bald von der Anwesenheit ihrer Freundin Bonvouloir und der Edeldame, deren keineswegs aristokratische Grundsätze sie ja oft genug vernommen hatte. Sie wurde sehr aufgeregt und suchte emsig nach Verbündeten, die ihr die Befreiung der beiden Frauen durchsetzen sollten. Lebhaft und unerschrocken, wie sie war, trat sie in wortreichen Angriffen auf gegen die völlige Unbegründetheit dieser Einkerkerung. Nach ihren Erzählungen war Bonvouloir nur ein Opfer des Rebellenführers Larochejacquelein, der sie in seine Gewalt bekommen hatte, als sie sich auf der Suche nach ihrem Vater in die Gegend von Saumur verirrt hatte. Er hatte sie mitgeschleppt auf all seinen Raubzügen, bis sie, gebrochenen Herzens und Willens, sich denen überlassen hatte, die ihr nach der Zerstörung ihrer Vaterstadt wenigstens Nahrung und Obdach geboten hatten. Wohin hätte sie sich wenden sollen, da sie sich Mutter fühlte und alle, denen sie zugehörte, zerstreut, heimatlos, unauffindbar waren? Agathe hätte keine Französin sein müssen, wenn sie diesen kleinen Roman nicht wunderbar rührend und überzeugend hätte ausspinnen können. Ihre Phantasie und ihr gutes Herz lieferten ihr jeden erdenklichen Beweisgrund, Bonvouloirs republikanische Gesinnung glaubhaft zu machen, und wenn es jetzt schien, als wäre sie auf die Republik schlecht zu sprechen, so war dies nach so ungerechter Behandlung nur zu natürlich! Was nun aber Louisens Schicksal betraf, so hatte die redselige Madame Proust vollends leichtes Spiel. Hier brauchte sie durchaus nichts zu erfinden. Sie brauchte nur zu erzählen, wie das kluge und unglückliche Mädchen immer bemüht gewesen war, ihre Angehörigen zur göttlichen Lehre der allgemeinen Menschenrechte zu bekehren; wie es darum gescholten und verachtet worden war; wie man es dem steifleinenen Holländer zur Ehe versprochen habe, weil man von seinem fanatischen Royalismus einen starken Einfluß auf Louise erwartet habe; wie man die Ärmste um einiger Gespräche mit dem Advokaten Livarot willen verleumdet und beinahe ehrlos gemacht habe – und in dieser Folge ließ es sich dann auch ganz leicht andeuten, daß Louisens Herz, so wie es der Republik gehört, auch eigentlich dem braven Livarot zugewendet gewesen sei, und was man sonst noch wünschen mochte. Daß Agathe all dies erzählte, immer wieder mit neuen schlagenden Einzelheiten erzählte, das können wir ihrer Zofengesprächigkeit wohl glauben: daß sie mit diesen Geschichten aber so ehrlichen Erfolg hatte, lag in der natürlichen Neigung zur Sagenbildung, der jedes Volk unterworfen ist, wenn es sich in erregtem Zustande befindet. Sagen von unerhörter Grausamkeit, Sagen von unerhörtem Edelmute, Sagen von Tapferkeitswundern, Sagen von ruchlosester Verräterei, Sagen von übermenschlichen Weisheitsäußerungen, aber vor allen Dingen Sagen von duldender Frauengröße woben sich wie Fieberträume um die Gehirne, entzündeten oder beseligten wie solche und ließen das Gefühl der Krankheit erst dann zurück, wenn sie wichen. Was ist der Zustand einer in Auflösung begriffenen Gesellschaft anderes als ein schweres Fieber? Nantes hatte entsetzliche Zeiten durchzumachen: die nie ermüdenden Angriffe der Bauern von außen, eine Schreckensherrschaft im Innern, Hungersnot mit all ihren scheußlichen Nebenerscheinungen, Seuchen, Brände, Morde, alles Niedrige und Entsetzliche drückte die Seelen zu Boden. Aufschnellend unter dem Hauche eines begeisterten Gefühles schwangen sie sich mit der Kraft plötzlich freiwerdender Springquellen über Wipfel und Wolken. Die beiden gefangenen Vendéefrauen mit ihrer ergreifenden Geschichte waren mit einem Male das Brot aller Herzen. Ein so lebhaftes Mitgefühl, eine so genaue Überwachung ihres Wohlbefindens umgab sie, daß Carrier nicht gewagt hätte, ihr Todesurteil zu fällen. Als es dann zu guter Letzt noch geschah, daß die häufige Erwähnung des Namens Livarot auf ein Echo stieß: »Livarot? Aber er lebt in Ancenis! Wenn man ihn kommen ließe, welch ein Zeuge für ihre Unschuld!«, da war das Werk der treuen Dienerin gekrönt. Proust selbst mußte nach Ancenis reisen, um Livarot herbeizuschaffen.


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