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Als Livarot Louisens Namen vernahm und das Verhängnis, das sie bedrohte, gab er Zeichen tiefster Erschütterung. »Diese Frau!« rief er, »diese göttliche Frau! Eine der Wenigen, denen der ganze Gehalt des republikanischen Gedankens, seine über Jahrhunderte hinaus erlösende Kraft und Schönheit völlig offenbar geworden ist! Die sollte einem Carrier zum Opfer fallen?« Er war auch alsbald bereit, mit Proust nach Nantes zurückzukehren und mit den kräftigsten Beweisen für Louisens Zugehörigkeit zur Idee der Revolution einzutreten. Er hatte in seiner nie eingestandenen, aber unversieglichen Liebe zu der schönen Aristokratin ein paar Briefe von ihr zurückbehalten, darunter einen, worin sie ihm für die Zusendung des » Alphabet du Sansculotte« in jugendlicher Wärme dankte. Sie hatte geschrieben: »Dies ist eine reine und wahre Lehre, die jeden Denkenden beglücken muß. Wie können wir Gott schöner denken, als indem wir ihm gleiche Liebe für alle Menschen zuschreiben? Ist nicht Gerechtigkeit das höchste Lob? Blinde Gewalt einerseits, zitternde Unwissenheit andererseits haben die Unterschiede der Stände geschaffen; welch eine Aufgabe für unsere Zeit, dies Mißverstehen Gottes wieder gut zu machen! Gewiß, auch die Natur wollte Unterschiede, indem sie Starke und Schwache, Fähige und Unfähige schuf; und da sie sie schuf, erlaubte sie ihnen, sich zu betätigen nach ihrem Können. Aber ist der Mensch nur eine Schöpfung der Natur? Ist er nicht auch ein Kind Gottes, und gebietet Gott uns nicht, das, was die Natur böse schuf, gut zu machen durch die heiligste und reinste Kraft, die er uns verlieh: durch die Liebe? – Ich gestehe es, ich zittere vor Rührung, wenn ich die Grundsätze dieses Buches erfasse. Wie schön ist es, wie unsagbar schön, in jedem Menschen, aber auch in jedem, den Bruder zu sehen! Endlich wird die Lehre Christi auf Erden Wahrheit werden!«
Unter anderen Umständen hätte Livarot sich vielleicht eher vierteilen lassen, als daß er sich nur von einer einzigen Zeile von Louisens Hand getrennt hätte. Nun aber eilte er mit der raschesten Gelegenheit nach Nantes, legte den Brief in die Hände des Revolutionstribunals und erlangte augenblickliche Befreiung der Gefangenen. Der Brief schmeichelte in hohem Maße den Gefühlen der Männer, die die Süßigkeit der Bruderliebe in so anschaulicher Weise betätigten, wie die versenkten Schiffe es bewiesen. Er drang aber auch unverzüglich ins Volk und erhöhte die Glorie, die sich bereits um das blonde Haupt der gefangenen Edeldame spann, um ein beträchtliches. Ach, für diese armen, in Haß, Furcht und Niedrigkeit erstarrten Herzen wieder ein warmer Strahl menschlicher Hingerissenheit von einem fremden, großen, unsagbar ernsten Schicksal! Wieder der Rausch beseligenden Mitleids! Man glaubt es nicht, in was für Ekstasen ein Gemüt aufblühen kann, das jahrelang zum Haß gezwungen war. Vor der Gefängnistüre bildeten sich Aufläufe, weinende Frauen riefen Louisens Namen, Lebensmittel – damals wirklich unschätzbar! –, Kleidungsstücke und Geld wurden im Übermaße in Agathens Haus abgegeben, und als die Stunde der Befreiung kam, ward sie beinahe zum Volksfeste! Die beiden Frauen, schwankend, ungläubig und erschrocken vor einem Schicksalswechsel, den sie nicht fassen konnten, standen blind von ungewohnter Helle auf der Gefängnisschwelle und starrten die Menge an, die sie umdrängte. Es bedurfte einiger Zeit, ehe sie begriffen, daß die Bewegung, die sie umbrauste, nicht Feindschaft war. Die behutsame Hilfe der ihnen Zunächststehenden, die Zurufe der Ferneren, die Grüße hellgekleideter Kinder, die ihnen Blumensträußchen darboten, drangen nur langsam in ihr verwirrtes Bewußtsein. Endlich erblickten sie Livarot, der ihnen schüchtern entgegenkam. Da errieten sie, daß sie gerechtfertigt waren, und während Bonvouloir mit einer impulsiven Bewegung der Dankbarkeit ihm ihr Kind hinstreckte, wandte Louise mit einem plötzlichen Ausdrucke schamvollen Verstehens ihr Gesicht von ihm ab.
Natürlich ließ Madame Proust es sich nicht nehmen, die beiden Geretteten in ihrem Hause zu beherbergen, obgleich eine ganze Reihe anderer Frauen ihr diese Ehre gern streitig gemacht hätte. Sie wußte warum. Sie betrog sich nicht über die wahre Gesinnung dieser beiden Heldenfrauen, sie wußte, daß die gutmütige Lüge, durch die ihre Rettung gelungen war, nicht lange standhalten konnte, und sie mußte streng darauf bedacht sein, Gespräche zu vermeiden, in denen wenigstens Bonvouloir nicht fünf Minuten lang ihren Haß gegen die Mörder ihres Gatten in Fesseln gelegt haben würde. Louisens außerordentliche Schwäche bot einen guten Vorwand für völlige Abschließung. Agathe räumte ihren Gästen eine sonnige Mansarde ein, hielt jeden Besuch fern und beriet ernsthaft mit ihrem Gatten, wie man die Damen unauffällig aus der Stadt bringen könne, ehe sie sich verrieten. »Sie sind beinahe verwirrt,« erklärte sie vorbeugend, wenn sie von ihnen sprechen mußte. »Man hat sie im Gefängnis so übel behandelt, daß sie gegen uns verbittert sind und tausend Vorwürfe gegen uns zu erheben haben. Diese Bestien von Soldaten wissen nie, wie weit sie gehen dürfen!« Diese Vorsicht wäre nicht vonnöten gewesen, denn weder Louise noch Bonvouloir zeigten die geringste Lust, irgendwelche Besuche zu empfangen. Nur, nachdem einige Tage vergangen waren, während welcher ein trauriges Schweigen von den geretteten Frauen kaum gebrochen worden war, verlangte Louise eines Morgens mit strenger Miene nach dem Advokaten Livarot.
Als Livarot bei ihr eintrat, lag sie angekleidet, durch viele Kissen gestützt, auf einem schmalen Bette, das Agathe quer vor das einzige Fenster geschoben hatte, und blickte mit träumerischer Wehmut über die Wipfel einiger Gartenbäume hinweg und über die Stadtmauer hinaus auf das weite Gelände, das die Loire, hier breit und mehrarmig, durch floß: eine blasse Landschaft aus gelblichen, zartgrünen und hellblauen Streifen, unendlich licht, duftübersponnen und aufgelöst. Louise dachte gerade, daß es nicht so schlimm sein müsse, auf diesem sonnenbestrahlten Gewässer dem Tode entgegenzutreiben, als Livarots leiser Schritt sie aufschreckte. Livarot, der sein Herz mit beiden Händen festhalten mußte, wagte kein Wort der Begrüßung, neigte nur den Kopf und sah Louise erwartungsvoll an; sie, ebenso schweigend, betrachtete ihn streng, als müsse sie sich erst auf die Form der Anrede besinnen. Ihre Augen waren hart. Die verfallenen Linien des schmalen Gesichtes wirkten erschütternd. Die trockenen, vom Fieber zerrissenen Lippen schienen sich nie mehr öffnen zu sollen. Livarot konnte nicht verhindern, daß ihm die Augen übergingen, während er diesen Schatten einstiger Schönheit betrachten mußte.
Louise sah es, sie erriet den Grund. Etwas wie Leben kam in ihre Augen, ganz leise verzog sich der Mund. Sie winkte mit der Hand, daß er sich nähere, da verlor er den Halt, stürzte vor dem Bette auf die Knie und küßte inbrünstig die weiße Decke, durch die schmal und scharf die Form des Fußes sich zeichnete. Louise schüttelte den Kopf, eine Handbewegung befahl ihm, sich zu fassen, er setzte sich auf einen Stuhl in geringer Entfernung. Nun fragte sie mit ihrer matten und leicht heiseren Stimme: »Durch was für Lügen haben Sie mich frei bekommen, Livarot?«
Er antwortete unerschrocken: »Ich will Sie nicht täuschen! Ich habe einen alten Brief von Ihnen vorgelesen. Hier ist er. Sehen Sie selbst, wie Sie einstmals gedacht haben!« Er reichte ihr das Blatt, das er sich mit einiger Mühe wieder verschafft hatte.
Louise las es und errötete langsam, dann sagte sie ohne ein Lächeln: »Ja, das war ich, und es ist noch nicht einmal lange her seitdem. Sie haben schwer an mir gesündigt, Livarot. Sie haben in meine Jugend Gold aus fernen Bergen getragen, Sie haben mir Blumen zu Füßen geschüttet, die nicht auf dieser Erde gewachsen waren. Es ist alles Schaumgold gewesen, es ist alles zerronnen, und nichts ist geblieben als die ewige Frage, auf die es keine Antwort gibt. Es ist gut, daß ich sterbe. Wenigstens wird die Frage nun verstummen.« Livarot flüsterte: »Welche Frage? Haben Sie denn redlich geforscht, Frau van Duyren? Man darf nicht so leichthin das Fragen aufgeben, bloß aus Müdigkeit!« Louise antwortete nicht. Sie legte die Hände zusammen und schaute traurig vor sich hin.
Livarot stand nahe bei ihr und sah unter der leichten Jacke die verfallene Gestalt, sah die dünngewordenen Arme sich zu den blassen, blaugeäderten Händen niedersenken. »Wird es Sie ermüden, wenn ich zu Ihnen spreche?« fragte er zaghaft.
»Ermüden? Was sollte Ermüdung mir jetzt noch schaden, da ich doch bald werde unendlich lange schlafen können? Vielleicht ist es gut, Sie noch einmal zu hören, jetzt, wo ich die Wirklichkeit besser kenne. Aber setzen Sie sich! Ich möchte Auge in Auge mit Ihnen sprechen können!«
Livarot gehorchte, er saß nun dicht neben dem Bette, seine Hand in geringer Entfernung von der ihren. Da fühlte er, wie ihn die Nähe des geliebten Körpers ergriff. In seinen Händen brannte Zärtlichkeit, er hätte diesen armen Leib gern gestreichelt, hätte gern in sanften Worten und Bewegungen Betörung ausgeströmt, die noch einmal den Glauben an das Leben geweckt hätten. Aber die Stunde war schwer von einer großen Forderung, er durfte hier nicht der Mensch sein, der liebt und beschwichtigt, nur der Priester, der Trost und Zehrung für den dunkelsten aller Wege bereitet. Er raffte sich zusammen, sah sie ernst, ja, fast ein bißchen strenge an und fragte: »Verlangen Sie Rechenschaft von mir, daß Sie vom Leben mehr erwartet haben, als es geben kann?«
»Ich habe nichts erwartet, als was Sie mir versprochen hatten,« erwiderte Louise. »Sie und Ihre Bücher! Sie haben gesegnete Arbeit, Wohlstand, Kenntnisse und heiteren Lebensgenuß für alle versprochen. Sie versprechen es noch! Sie haben den Mut, nach allem, was dies arme Volk erlebt hat, noch Manifeste zu erlassen, die es versprechen! ›Wir wollen die Moral an die Stelle des Egoismus setzen, die Ehre in Ehrlichkeit wandeln, Grundsätze statt Gebräuche heiligen, statt des Unglücks wollen wir das Laster, verachten –‹ Sie sehen, ich habe nichts vergessen! Sehen Sie um sich, was von alledem wahr geworden ist!«
»Louise! Wenn ich jetzt antwortete, daß zum großen Teil Ihr Stand es war, der uns an der Erfüllung dieser Versprechen hinderte –? Aber nein! Das wäre eine unvollkommene Antwort, die Sie mir leicht widerlegen könnten, wenn Sie mir bewiesen, wie hier in Nantes Bürger gegen Bürger kämpft; wie Carrier im Auftrage des Pöbels Schlächter und Bäcker hinrichtet. – Ich könnte Ihnen auch antworten: Geben Sie uns hundert Jahre Zeit! Ein Menschheitsfrühling ist angebrochen, die Wasser der inneren Kräfte haben das dünne Eis der Zivilisation geborsten, alles tobt, wirbelt, reißt zu Tal, wühlt auf – lassen Sie die Zeit der ruhigen Säemannsarbeit kommen, und Sie werden sehen, daß vieles von dem, was wie Zerstörung aussah, Befruchtung war. Aber das wäre eine Antwort, für die der Beweis zu sehr in der Zukunft liegt. Lassen Sie mich Ihnen also schlechthin sagen, auch ich war oft entmutigt, auch ich habe schwer gegrübelt über diese über alle Enttäuschungen furchtbare Enttäuschung, aber mein Hoffen ist zäher als das Ihre. Ich glaube noch, weil ich nicht anders kann als glauben.«
Louise sah ihm einen Augenblick in die Augen, seufzte und wendete sich ab. »Sie sind nicht besser als die Priester, die Sie so hart verurteilen, Livarot,« sagte sie kummervoll. »Sie befehlen mir zu glauben. Es ist alles so einfach, wenn man glauben kann. Mir aber hat kein Glaube standgehalten, seit ich die Henkernatur derer erkannt habe, die mit dem Munde die Lehren der Brüderlichkeit bekennen. Man mag uns Aristokraten mancherlei vorzuwerfen gehabt haben: niemals haben wir auch nur annähernd eine Tyrannis ausgeübt wie diese Propheten der Freiheit. Geben Sie mir wenigstens einen Milderungsgrund für diese Scheußlichkeiten an, nur eine entfernte Andeutung, sie anzusehen und nicht dabei an der Weltordnung zu verzweifeln!«
»Ich könnte sagen: die katholische Kirche hat sich mit härteren Mitteln durchgesetzt! Aber wir wollten ja einen Schritt weiter sein als diese mittelalterliche Macht! – Vielleicht liegt der Irrtum darin, daß wir glauben, Gewalt und Grausamkeit wären entbehrliche Dinge in der Welt, während sie doch nur die schmutzigen, aber bitter nötigen Erdgräber sind, die das Fundament des neuen Hauses legen.«
»Den Sinn sehe ich nicht!«
»Es sind immer Gewalt und Grausamkeit gewesen, die den Wohlstand und die großen Friedensreiche auf Erden geschaffen haben, in denen dann der Fromme, der geistig Strebende, der Menschenfreund sich behaglich entfalten konnten. Ein Cäsar mußte das Reich gründen, ehe ein Augustus seine Bürger zur Kultur erziehen konnte. Und wie kein Thron ohne Blut gemauert ist, so muß wohl, einem höheren Gebot zufolge, auch die Republik auf solch schreckliches Fundament bauen. Aber nun kommt das Wesentliche, die Umkehr, der Sieg der Göttlichkeit, den wir der Republik verdanken. Sie ist es, die zuerst das Wort ausgab, daß jeder Mensch ein Eroberer, ein Starker sein dürfe, daß er Eigentum und Macht erwerben dürfe, soviel er seiner Natur nach kann; kluge Erwägung muß dann aus diesem Können das Dürfen ableiten, schafft also das Gesetz, das einzig und einheitlich für alle ist, weil es dem Gefühl der Gegenseitigkeit entspringt. Indem die Republik so den Lebenskampf, den bisher einige Berechtigte gegen eine widerstandslose Masse geführt haben, in aller Hände legt, regelt und mildert sie ihn zugleich, ja, sie adelt ihn, indem sie ihn verlockend und schön macht. Denn Lebenskampf ist herrlich, wenn er von allen mit gleichen Rechten geführt wird! Indem die Republik jedem gestattet, seine eigenen, ihm angeborenen Waffen zu gebrauchen bis an die Grenze des Gesetzes, gestaltet sie diesen Kampf vielfältig, trägt ihn in Gebiete neuen Könnens, treibt sie die Kräfte, die rings von gleichwertigen Kräften eingedämmt sind, notgedrungen zur Höhe, Nicht mehr wird ein gewaltiger, altverwurzelter Baum die kleinen Pflanzen im Umkreis ersticken, sondern tausend Bäume werden fröhlich schießen, und das Gesetz, auf Erfahrung gegründet, wird ihren Raum vorzeichnen. Folgen Sie mir noch, liebe Freundin?«
»Ich folge wohl,« erwiderte Louise leise. »Aber sagen Sie mir, wo ist das Gesetz, das einen Carrier beschränkt? Mir scheint, er breitet sich aus, nicht wie ein ehrwürdiger Baum, sondern wie eine scheußliche Giftpflanze, in deren Umkreis das Leben erstickt.«
Livarot entgegnete: »Wenn Könige taten, wenn die Kirche tat, was dieser Carrier tut, so duldete das Volk schweigend und entsetzt. Denken Sie an die Feuer der Inquisition! Die Republik, indem sie das Urteil frei machte, gab dem Einzelnen Wehrberechtigung und Wehrfähigkeit, und Carrier wird bald fühlen, daß sein Gesetz nicht das des Volkes ist. Die Zahl derer, die ihn bekämpfen werden, die ihn stürzen werden, wächst mit jedem Tage. Warum es nicht längst geschah? Liebe Louise, noch sind nicht alle, die sich zur Republik bekennen, wirkliche Republikaner. Republikaner sein heißt furchtlos sein Der Macht gegenüber, und bedenken Sie, daß fünftausend Jahre lang die Menschheit nichts anderes gelernt hat, als die Macht fürchten. Rücken, die fünftausend Jahre lang gebeugt waren, richten sich nicht gerade auf ein Gebot. Viele Geschlechter werden im Sonnenschein der Gleichberechtigung wandeln müssen, ehe das Geschlecht kommt, das die schnöde Erbschaft der Furcht nicht mehr in sich trägt. Aber kommen wird es, dies Geschlecht. Denn der Mensch wird verstehen lernen, daß nicht nur die Macht Furcht erzeugt hat, sondern in viel tieferem Sinne noch die Furcht Macht gebiert: und da er die Macht von je und je gehaßt hat, wird er die Furcht ablegen, die sie immer neu gebiert. Solche Einsicht muß erlebt und erkämpft werden, und es wird noch mancher Carrier das grausame Lehramt üben müssen, bis die Menschheit Mut gelernt hat. – Aber nun genug, mehr als genug, Teure! Ich sehe Ihre Augen flackern, Ihre Wangen haben eine Röte bekommen, die mich anklagt. Verzeihen Sie mir, daß ich mich hinreißen ließ, so viel zu sprechen! Leben Sie wohl für heute!« Er erhob sich, blieb aber noch zögernd vor dem Bette stehen, um ein Wort zu erhaschen, das ihn zum Wiederkommen auffordern sollte.
Louise sah ihn nicht an. Ihr Atem ging angestrengt und in großer Erregung. Ein sehr weher Ausdruck ihres Mundes deutete an, daß sie aus Livarots Worten noch keinen Trost geschöpft hatte. Ihre Stirne immerhin hatte sich leise gekräuselt wie in schwerem Denken. Livarot dachte: ›Sie hat folgen können und müht sich, zu verstehen!‹ Er wartete noch ein Weilchen, schließlich entfernte er sich trauervoll. Da brach alte Güte noch einmal durch Louisens Trauer, sie folgte ihm mit den Augen, lächelte ein wenig und sagte leise: »Wenn Sie Frau Prousts Erlaubnis gewinnen können, Livarot, so kommen Sie wieder!«