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4.

Wenn sich in unserem Leben eine Reihe von Ereignissen zu scheinbarer Zweckmäßigkeit zusammenschließt, so sind wir leicht geneigt, an ein unmittelbares Wirken göttlicher Absicht zu glauben. So erging es Bonvouloir. Ihre Wanderschaft, die Erscheinung von St. Laurent, die Beachtung, die ihr in La Grange zuteil geworden, der Umstand, daß die Lescures gerade im Hause ihrer Pate Allain hatten wohnen müssen, und mehr als alles das geheimnisvolle, über Liebe weit erhabene Gefühl, das sie zu dem fremden Jüngling hingezogen hatte, und seine endliche Erscheinung als Führer und Retter der geheiligten Sache – all dies fügte sich so köstlich aneinander wie die Farben eines Bildgewebes, die man einzeln einwirkt und erst nach Vollendung des Ganzen in ihren Abtönungen versteht. Von dem Augenblick an, wo Bonvouloir den gebenedeiten Reiter unter der Marienfahne erblickt hatte, konnte sie nichts anderes mehr glauben, als daß die Bauernaufstände wirklich gottgewollt und so vom Segen Seiner väterlichen Hände bestrahlt seien, wie der fromme Cathelineau dies immer verkündet hatte. Heinrich von Larochejacquelein war der Erzengel Michael – dem er in der Tat ein wenig ähnlich sah – der mit dem bösen Feinde kämpfen sollte, und sie selbst –? nun, sie war das heißflammende Schwert in seiner Hand, und ihr gehörten die wirksamen Streiche auf das Haupt des Dämons. Bescheiden war sie nicht, die kleine Bonvouloir, aber auch in diesem ihrem gelinden Größenwahne lag eine so selbstvergessene, blindhingebende Demut, daß Gott selbst im hohen Himmel sie liebevoll betrachtet haben muß – denn Ihm sind Menschen gefällig, die in sich selbst eine große Sendung ehren können. Sie dachte und fühlte nichts mehr als die eine gewaltige Aufgabe ihres Lebens, an der Wiederaufrichtung des Königtums mitzubauen, wie und wo sie Verwendung finden würde. Was sie sich eigentlich unter dem Siege des Königtums vorstellte, hätte sie freilich niemals genau sagen können, denn sie hatte vorher nichts davon bemerkt, daß es irgendwo im fernen Paris einen König gab, und sie merkte jetzt blutwenig davon, daß es diesen König nicht mehr gab. Die Klagen derer, die unter der Veränderung litten, hatte sie wohl vernommen, aber auch die Genugtuung jener, die dabei gewonnen hatten, miterlebt; denn das Volk urteilt in solchen Dingen nach greifbaren Vorteilen. Niemals hätte sie einen Grund dafür angeben können, warum die alten Zustände gottgefälliger gewesen sein sollten als die neuen, die Gründe ausgenommen, die sie gläubig ihren hohen Gönnerinnen nachredete. Nun aber stand sinnfällig, jedem Zweifel unzugänglich, Wesen und Heiligung des ganzen Aufstandes vor ihr: was der Erzengel bekämpfte, konnte nichts anderes sein als der Teufel selbst.

Sie war so aufgewühlt vom Tiefgang dieser Empfindungswellen, daß sie zu Agathens Erstaunen in völliger Stummheit, mit entrücktem Blicke neben ihr herschritt. Von der Lieblichkeit des lenzlichen Landes sah sie nichts. Es war Ende April, das Grün der Buchenhecken, zwischen denen sie wandelten, dunkelte bereits nach, das der mächtigen Eichengruppen, die mitten in den weiten Wiesen standen, löste sich eben zart aus dem rötlichen Knospentriebe; an den Bächen sah man Störche auf und ab gehen, Wildgänse zogen in hoher Luft dahin, der Ginster zeigte goldene Spitzen, und geheimnisvolle Düfte von blühenden Sträuchern zogen mit dem Winde. Für Bonvouloir verloren! Sie hörte auch nicht einmal, was Agathe ihr erzählte, bis wie ein Donnerhall der Name in ihr Ohr fiel, der ihre Seele erfüllte. Nun fuhr sie auf und bat erschrocken um Wiederholung des Gesagten. »Mädchen!« rief Agathe lachend, »ich erzähle dir die ganze Zeit, was Herr von Lescure von dir gesprochen hat, und du schläfst dabei!« – »Was hat er denn gesprochen?« fragte noch ganz benommen Bonvouloir. »Nun,« wiederholte Agathe gutmütig, »ich sagte es doch soeben. Als er vorhin an uns vorüberritt, hörte ich ihn ganz deutlich zu Herrn von Larochejacquelein sprechen: diese kleine Person ist ergeben und brauchbar! Willst du nun noch mehr Fische? Mehr gibt's nicht! Du könntest dir den Magen daran verderben!« Und Agathe schlug der Errötenden mit derber Hand auf die Schulter.

Nein, mehr hätte Bonvouloir in diesem Augenblicke wirklich nicht vertragen können. »Ergeben und brauchbar!« Kein anderes Lob hätte so ganz das wiedergeben können, was sie sein wollte, was zu sein sie sich zutrauen durfte. Hätte sie nur gewußt, was Herr von Larochejacquelein geantwortet hatte!

Nun aber kam das mächtige steinerne Kastell von Clisson in Sicht, Herrn von Lescures prunkhaftes Eigentum, und von der Sekunde an nahm Agathe höchst energisch Besitz von Bonvouloirs Gedanken. Die Verantwortung für Unterbringung und Bewirtung der unvorhergesehenen Gästeschar lag auf der braven Dienerin, und sie begann bereits, vorschauend, der jungen Helferin ihre Arbeit zuzuteilen. »Wo bringen wir sie nur alle unter?« rief sie aufgeregt. »Es wird an Matratzen und Decken fehlen, denn mehr als zwei können wir nicht gut in ein Bett legen. Mache dich auf reichliche Bewegung gefaßt, Bonvouloir! Diese Patriotinnen sind anspruchsvoller als Marquisen, habe ich immer gefunden, und sind sie einmal im Schloß, so werden sie unsere Plätteisen nicht kalt werden lassen.«

Dies nun störte Bonvouloirs Stimmung in keiner Weise. Sie sah auch solche Pflichten, sofern sie unter den Augen der Frau von Lescure zu geschehen hatten, als einen Teil ihrer Sendung an, und stand voll Diensteifer an der Treppe, als die Ochsengespanne mit den übel durchgerüttelten Damen ankamen. Obgleich das Schloß voll von Dienern und Mädchen war, wurde ihre Hilfe doch gebraucht, denn Agathe hatte ganz richtig vorausgesagt: die Bürgerinnen wollten alle zugleich nach Möglichkeit verschönt werden, und der Häubchen, die getollt, der Halstücher, die geplättet werden sollten, war kein Ende. Bonvouloirs geschickte Finger wurden gepriesen, und Frau von Lescure kam selbst und sagte ihr ein gutes Wort. Kaum waren die Damen annähernd zufriedengestellt, so füllte Getrappel von vielen Pferden den Schloßhof; die Herren ritten ein, Lescure, Larochejacquelein, mehrere Unbekannte, und endlich auch Herr van Duyren, lahm vom ersten und nicht gemächlichen Ritte nach langer Krankheit. Dieser begrüßte Bonvouloir um einen Grad vertraulicher als er früher zu tun pflegte und ließ sich herab, von La Grange zu berichten, wo man unterdessen in Bangen des Ausgangs der Unternehmung harren mochte. Ein gutmütiges Spottwort über die grämliche Mißbilligung, die der Feldzug bei Herrn von Texier und bei Louisen ausgelöst hatte, konnte nicht ausbleiben. »Wie sie sich jetzt schämen werden, die Bedenklichen!« schloß Herr van Duyren im Übermute des Gerechtfertigten. Zu seinem und nicht weniger zu Bonvouloirs Erstaunen fiel aber Herr von Lescure hier in sehr ernstem Tone in die frohmütige Rede. »Dein Schwiegervater,« sagte er, »hat nicht so unrecht, und Spott ist ein Vergehen an dem Verantwortungsgefühle eines gewissenhaften Mannes. Von heute ab ist es vorbei mit den Kindereien der Cathelineaus und den Wundern unter heiligen Bäumen! Jetzt wird und muß die Republik ernst machen, und wir werden erleben, was Krieg heißt. Vielleicht werden wir noch wünschen, wir hätten bei Bressuire nicht so leicht gesiegt!« Als Lescure diese Worte sprach, wußte er noch nicht, daß am gleichen Tage in Machecoult der General Beysser vier junge Edelleute und eine Anzahl bei einem Angriffe auf die Stadt gefangener Bauern hatte hinrichten lassen.

Herr van Duyren und die übrigen Führer, die nun in Clisson ihren Sieg zu feiern gesonnen waren, glaubten sich zu schönster Zuversicht berechtigt, einmal durch die erwiesene Schwäche der städtischen Garnisonen, mehr noch durch die Gebundenheit der besten Truppen an allen Grenzen der Republik, und ließen sich durch Lescures Worte in keiner Weise entmutigen. Wein wurde herbeigeschafft, und die Fröhlichkeit stieg. Schon hatte die einschenkende Bonvouloir, sehr ernüchtert, einigen Grund, die Heiligkeit dieser Werkzeuge Gottes in ernstliche Zweifel zu ziehen, da kam einer der Herren auf den übermütigen Gedanken, die Damen von Bressuire an die Tafel zu bitten, die eben von flinken Dienerhänden gedeckt wurde. Anmutige Gesellschaft meinte er, dürfe an solch einem Tage nicht verschmäht werden.

Es war freilich eine Art von Ergötzlichkeit, das gespreizte Wesen der bürgerlichen Frauen zu beobachten, denen die Ehre einer solchen Tischgesellschaft zu Kopfe stieg, ehe sie noch den ersten Tropfen genippt hatten. Sie begannen mit allerlei adligen Bekanntschaften zu prahlen, hatten Oheime, die Bischöfe, und Tanten, die Äbtissinen waren, und verleugneten in abscheulicher Weise ihren republikanischen Katechismus, indem sie alle Augenblicke von den bürgerlichen Bekannten als von »Leuten solcher Art« sprachen, von denen man nicht zuviel erwarten dürfe. Die adligen Herren tauschten böslustige Blicke und trieben ihren Spaß mit der Gesinnungslosigkeit der Damen so weit, daß sie sie zu unverhüllten Schmähungen republikanischer Verordnungen hinrissen, über die Art, wie Bressuire sich hatte nehmen lassen, spotteten sie grausam und – unwidersprochen. Endlich erhob sich Lescure, von Übermut geladen, und begann den Damen die lächerlichen Verleumdungen vorzuhalten, die sie und ihresgleichen über Herrn von Larochejacquelein, diesen Ausbund guter Sitten, ausgestreut hatten. Die Gemaßregelten saßen sehr beschämt da und mußten die Torheit ihrer Leichtgläubigkeit eingestehen, die den wohlgesitteten, jetzt lebhaft errötenden Jüngling, der kaum zwanzig Jahre zählen mochte und der sich auch jetzt der lauten Unmäßigkeit enthielt, zum Bösewicht und Kinderfresser gestempelt hatte. Noch war Lescures Weinlaune nicht befriedigt. Heinrichs Erröten mochte ihn gereizt haben, er begann nun, von einer unerläßlichen Dankespflicht zu reden, die auf den Bürgerinnen der besiegten Stadt laste: denn Heinrich habe bewirkt, daß auch nicht ein Dachziegel in der Stadt beschädigt, keine Blume an irgendeinem Fenster geknickt, kein spielend Kind auf der Straße gestoßen, ja nicht einmal ein Hund getreten worden sei, daß der übliche Akt des Verbrennens der Freiheitsbäume und der Gerichtspapiere in stiller Feierlichkeit vollzogen worden sei, wie es sich für Gottesstreiter gezieme. »Sie können in der Tat, meine Damen,« schloß Herr von Lescure zu Bonvouloirs beispiellosem Entsetzen diese anscheinend sehr vernünftige Rede, »Sie können nicht weniger tun, als Ihren Dank und Ihre Buße gegen den edlen jungen Mann hier, der Ihre Verleumdungen mit Güte gelohnt hat, durch einen innigen und verehrungsvollen Kuß zum Ausdrucke zu bringen, und ich bitte Sie, entziehen Sie sich dieser Pflicht nicht! Steh auf, Heinrich, und nimm den Dank dieser Reumütigen entgegen! Sie werden in Zukunft weniger unvorsichtig über Führer christlicher Armeen reden.«

Der junge Larochejacquelein sah wahrlich nicht aus, als ob er auf diesen verwandtschaftlichen Scherz einzugehen gedenke. Zornig blitzten seine Augen den Ruchlosen an, und gar nicht einladend gingen sie über die Damen hin, die sich ratlos und verlegen erhoben, um Gehorsam zu leisten: denn Lescures Ton war mehr drohend als spaßhaft gewesen. Heinrich, als die erste der Bürgerinnen vor ihm stand, beging die Unvorsichtigkeit, aufzuspringen und gegen die Wand des Saales zurückzuweichen; dies bewirkte, daß sämtliche Damen auf einmal sich auf ihn zu bewegten, und ehe er es sich versah, war er geradezu blockiert. Er mußte nun selber lachen und bot die Wange dar, vor Scham und Ärger so rot wie sein schönes Modetuch, während Lescure und die übrigen ihr Ergötzen an dem Anblick dieser Prozession kaum zu bändigen vermochten. Rot vor Scham und Ärger war auch Bonvouloir, die in einer Ecke stand, die Augen voll Tränen, die Fäuste geballt; sie glaubte wahrzunehmen, daß den Frauen, nachdem der erste Schreck überwunden und ein löblicher Anfang gemacht war, diese holde Buße gar nicht übel gefiel, und sie war gar nicht sicher, ob nicht die eine oder andere in betrügerischer Absicht sich unter die Hintenstehenden mischte, um den frommen Gang noch einmal zu tun. Welch eine Kirchenschändung, welch eine Zote am Abend eines solchen Tages! Welch ein Teufel dieser Herr von Lescure, der seine Freude daran fand, den reinsten und heiligsten Jüngling so zu quälen! Und was für Gänse, diese Weiber, die die lose Absicht der Herren nicht merkten, sich zum Gespött machten und zum Ekel jedem Vernünftigen! Arme Bonvouloir, wo war nun deine gläubige Gehobenheit? Ach, die Hände, die die Marienfahne tragen, sind eben auch nur Menschenhände!

Es muß zur Ehre der übermütigen Herren gesagt werden, daß der Spaß in ein beklommenes und unfrohes Schweigen auslief, weil in allen Beteiligten nunmehr das Bewußtsein einer gewissen Ungehörigkeit erwachte. Wie so oft, fühlten auch hier die grausamen Spötter nachträglich, daß der Scherz nicht so gut war, wie sie gemeint hatten; denn Larochejacquelein hatte sich mit Anstand gefügt, und jetzt stand er und sah mit so hochmütiger Kälte sowohl die Damen als auch die würdelosen Freunde an, daß alle sich ein wenig albern vorkamen. Da trat Frau von Lescure, die den ganzen Vorgang mit leicht gerunzelten Brauen verfolgt hatte und nun feinfühlig eine Verstimmung daraus erwachsen sah, rasch und mit edler Bewegung neben Larochejacquelein hin, hob sich leicht auf die Fußspitzen, berührte seine Wange mit den Lippen und sagte vernehmlich und mit solcher Betonung, daß sie der Aufmerksamkeit aller gewiß sein konnte: »Heinrich! laß dies alles mehr als einen Scherz bedeuten! Nimm, was dir ein Ärgernis scheint, als eine Fügung, an die auch jener lose Mann dort nicht gedacht hat, aber vielleicht ein anderer, dem auch die Torheit oft Werkzeug ist! Du stehst hier als Vertreter unseres Königs, und unser König ist ein Kind, ein armes, krankes, mißhandeltes Kind, das man grausam von Mutterküssen und Muttersorgen getrennt hat. Wir alle, die wir Frauen sind – und viele von uns sind auch Mütter! – haben in dir dies Kind geküßt, für das du heute so schön und glorreich gesiegt hast, und dem du eine Stadt und – ich darf es wohl sagen? – eine ganze Reihe weiblicher Herzen gewonnen hast. Unser König lebe! und sei dieser Sieg nur der erste einer langen Reihe von Siegen seiner Fahne!«

Sie hatte diese Worte mit einer so herzgewinnenden Miene begleitet, hatte die erstaunten Damen dabei so liebevoll bittend angesehen, daß wahrhaftig die meisten von ihnen in das Hoch auf den König einstimmten, um sich freilich hinterher in einer gewissen Bestürzung anzusehen: sie fühlten sich noch einmal, und diesmal in demütigender Weise überrumpelt. Lescure, ernüchtert und zugleich erschüttert, sah seine weise junge Gemahlin mit unendlicher Dankbarkeit an, Heinrich küßte ihr die Hand, und die anderen Herren ließen es an Bewunderung und Beifall nicht fehlen. Bonvouloir hatte Lust, vor der gesegneten Frau niederzuknien. Die Republikanerinnen indessen, die sich hier in einer wahren Patriotenfalle fühlten und nicht sicher waren, ob man sie nicht zu noch weiteren Zugeständnissen bringen würde, ohne daß sie merkten wie ihnen geschah, drängten nun zu eiliger Heimreise, die ihnen denn auch mit allen möglichen Bequemlichkeiten bewerkstelligt wurde.


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