Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Wenn all dies für die warmherzige Bonvouloir Erlebnis war, so waren natürlich die Tage vollsten Erlebens diejenigen, die Larochejacquelein in La Grange verbrachte. Von Châtillon aus war das Schlößchen bequemer zu erreichen als sein eigener, jenseits St. Aubin gelegener Stammsitz, und für die Bedürfnisse seines Leibes und seiner Kleidung sorgten die Texierschen Damen besser und weniger mürrisch als die paar alten Leute, die seine geflüchteten Eltern in der Durbelière zurückgelassen hatten. Außerdem drückte ihn die Einsamkeit des weiträumigen Kastells, während das warme Leben in La Grange ihn anzog; er gehörte zu denen, die leere Häuser mit den Gespenstern ihrer Enttäuschungen und ihrer Sorgen bevölkern.
Sein Kommen brachte nicht den Wirbelwind der Begeisterung mit sich, sondern mancherlei Bedenken und Erwägungen. Viel zu jung, war er wegen des reinen Zaubers, der von ihm ausging, zum Führer in großen Unternehmungen gewählt worden, und die Verantwortung lastete auf seinen schmalen Schultern. Er war zäh und unerschütterlich, wenn er vor der Ausführung des einmal Gewollten stand; er nahm jede Arbeit auf sich, von der oft mühevollen und gefährlichen Suche nach Pulver- oder wenigstens Salpetervorräten an bis zu der Ausarbeitung von kleinen Karten für seine Unterführer. Aber das Zagen um das Gelingen, die Erwägung tausend unberechenbarer Möglichkeiten, die entmutigende Einsicht in die Kraftvergeudung, die ein Bandenkrieg bedeutete, und die Schwierigkeiten, die ein Drillen der Bauern kosten würde, trug er allein und schweigend für sich. Er wollte auch nichts von Wundern hören und ward unfreundlich, wenn Julian sie um sich streute wie eine wilde Saat. Trotzdem wirkte sein Kommen erfreulich, weil aus seinen knappen Reden die Gewißheit nüchterner, emsiger Tätigkeit erstand.
Bonvouloir wartete, wie eine arme Seele auf die Erlösung wartet, auf einen neuen Auftrag, war mit Blut und Leben bereit, sich in die gefährlichsten Unternehmungen zu stürzen, wenn sie nur der Sache und ihrem Heiligen hätte dienen dürfen. Es geschah aber nichts dergleichen, und sie kam sich um ihren eigentlichsten Lebenszweck betrogen vor. Sie mußte es sich genug sein lassen, Heinrichs Wäsche und Kleider von Kriegsspuren zu säubern, wusch oft mit Herzklopfen Blut aus, von dem sie nicht wußte, ob es das seine sei, und flickte Kugellöcher im weiten Mantel, die ihr den Atem stillstehen ließen, wenn sie sie erblickte. Sie mußte mit großer Geduld an sich halten und manches stille Gebet an die heilige Jungfrau schicken, um den Trost in ihrem Innern festzuhalten: einmal wird er dich wieder brauchen!
Bei Heinrichs zweitem oder drittem Besuche spürte sie indes, daß lange und ganz unmißverständliche Blicke aus seinen Augen ihr folgten. Es war unmöglich, die Schönheit der jungen Person zu übersehen, und Heinrich, der Edelmann, betrachtete und schätzte diese Schönheit wie einer, der Früchte seines Gartens auf ihre Reife schätzt. Er hatte nicht den geringsten Zweifel, daß diese überaus köstliche und würzige Frucht ihm zufallen mußte, und, da kein anderer Käufer gegenwärtig zu sein schien, auch kein Bedenken. Er sah es einer gewissen reizvollen Sprödigkeit in Bonvouloirs Bewegungen und Mienen an, daß sie seine Blicke fühlte, wenn sie sich auch hütete, sie zu erwidern. Ihr Kommen und Gehen schien ihm unendlich schlau berechnet, die ziervolle Sorgfalt ihrer Kleidung und ihrer schönen, glatten, braunen Haare durchaus nicht absichtslos zu sein. Kurz, er freute sich und glaubte den Tag bestimmen zu können, an welchem er zu ihr sagen würde: »Bonvouloir, komm heute nacht in mein Zimmer!«
Er hatte vergessen, daß Fräulein Louisens Augen so allgegenwärtig waren wie die des lieben Gottes. Fräulein Louise bemerkte Heinrichs Blicke und Bonvouloirs Geziertheiten, sie machte sich keine falschen Vorspiegelungen über die Bedeutung von beiden, und sie war hell wach, um das, was sie eine rechte Herrenwillkür und ein Vergehen an der Gesittung eines jungen Mädchens nannte, zu hintertreiben. Sie verstand es, Bonvouloir in solcher Weise und so nahe ihrer wachsamen Beobachtung zu beschäftigen, daß Heinrichs Angelegenheit schlechthin nicht vom Flecke kam. Sie schickte das Mädchen tagelang über Land, ließ sie nachts in ihrem eigenen Zimmer schlafen, das sie sorgfältig abschloß, und gab sich nicht einmal Mühe, Bonvouloir über die Gründe dieser Maßnahmen zu belügen. Es war ihr gerade recht, wenn Bonvouloir merkte, daß sie behütet war. Die Zeiten, wo ein Edelmann sich anmaßen durfte, jedes hübsche Mädchen als sein Eigentum zu betrachten, mußten nun einmal ein Ende haben. Bonvouloir hatte in Louisens Augen dasselbe Recht auf Achtung wie ein adliges Fräulein.
Ach! Leider war Bonvouloir ihrer Gebieterin nicht im geringsten dankbar für diese hohe Auffassung! Heinrichs Blicke hatten ihr den Himmel erschlossen, ihr ganzes Wesen war Brand und Hingabe, und sie glaubte den Tag nicht erwarten zu können, wo sie ihm dies würde beweisen können auf die einzige Weise, wie ein Weib eben die Fülle seiner Empfindung beweisen kann. Sie war völlig ohne Stolz diesem Manne gegenüber, den sein Rang und ihr Gefühl in gleicher Weise als »den Herrn« bezeichneten, und der Gedanke an ein Verweigern lag ihr so fern wie der an irgendeinen Ungehorsam anderer Art. Die Klausur, die Louise so geschickt über sie verhängte, machte sie unglücklich, nicht weniger um Heinrichs als um ihrer selbst willen: er würde glauben, sie wolle sich nicht finden lassen, und oh! wie würde sie es ertragen, wenn er ihr nun zürnte? Sie betrachtete es als eine Pflicht, der Gefangenschaft zu entgehen um seinetwillen, und sie fing an, mit den kühnsten Listen die wohlgemeinte Wachsamkeit ihrer Beschützerin zu umgehen.
Aber Louise war nicht zu betrügen. Sie war erstaunt und entrüstet zugleich, als sie des Mädchens gewagte Spiele durchschaute, und sie begriff nun, daß sie deutlich werden mußte. »Schämst du dich nicht?« fragte sie unverblümt, »merkst du nicht, was Herr von Larochejacquelein mit dir vorhat? Willst du seinen Herrengelüsten zur Beute werden, dich verderben lassen, und dann, nach kurzen Tagen, verachtet und verschmäht sein und nicht einmal einen freundlichen Blick mehr von ihm empfangen? Denn so machen es die Herren, und so verdienen es die Mädchen, die töricht genug sind, sich ihnen hinzugeben.«
»Ach, Fräulein Louise,« erwiderte Bonvouloir treuherzig, »Herr von Larochejacquelein würde mich sicher nicht so schnell vergessen, wenn er mich einmal lieb hätte. Aber er wird sehr böse auf mich sein, wenn ich mich ihm entziehe. Es ist doch meine Pflicht, einem so hohen Herrn zu gehorchen.«
»Bonvouloir,« redete Louise in eindringlichstem Ton weiter. »Deine Pflicht ist, einmal einen braven Mann deines Standes zu heiraten, Kinder zu haben und sie zur Tugend und Redlichkeit zu erziehen. Wie kannst du dies, ohne vor der ganzen Welt zu erröten, wenn du selber deine Tugend dahingegeben hast? Und betrügst du nicht jetzt schon deinen zukünftigen Mann, dem du doch keine andere Mitgift bringen kannst als deinen unberührten Leib und dein reines Herz?«
»Ach, Fräulein Louise,« rief Bonvouloir beinahe ängstlich, »denken Sie ja nicht, daß ich nicht weiß, was Tugend ist! Das haben wir im Kloster ganz richtig gelernt. Aber wenn Herr von Larochejacquelein etwas befiehlt, dann darf ich doch nicht an mich denken! Er ist doch ein Herr, und ich bin nur ein armes Mädchen, und was liegt denn daran, was später aus mir wird? Es geht uns doch allen schließlich so, aber man ist doch glücklich, wenn ein so Hoher und Gebietender einen einmal geliebt hat.«
»Bonvouloir!« rief Louise, von dieser Lebensweisheit beinahe entgeistert. »Sage mir eines: Bist du noch Jungfrau?«
»Aber gewiß,« antwortete Bonvouloir ein wenig gekränkt. »Mein Vater würde mich totgeschlagen haben, wenn ich mich mit den Nationalgardisten oder dem übrigen Gesindel eingelassen hätte, das immer um mich herumstrich. Aber Herr von Larochejacquelein! Das ist doch ganz etwas anderes! Ein solcher Herr! Ich bin gewiß, da würde mein Vater nichts eingewendet haben.«
In heller Verzweiflung ergriff nun Louise das letzte und stärkste Argument, das ihr noch zu Gebote stand: sie erinnerte Bonvouloir an die Erscheinung der heiligen Jungfrau und an das Gefühl der Berufung, das ihr daraus erwachsen war. »Glaubst du,« fragte sie mit starker Betonung, »die heilige Jungfrau würde ihre Sache in die Hände einer Dirne legen? Wenn du jetzt zu Herrn von Larochejacquelein gehst, dann hast du jedes Recht verspielt, für den König zu kämpfen. Wer weiß, zu wie großen Dingen du noch aufbewahrt bist, wer weiß, was alles noch von dir abhängt, und du willst hingehen, das Zeichen von oben, das dir geworden ist, vergessen, und wie das erste beste gewöhnliche Mädchen Liebschaften betreiben und dich von hohen Herren bezahlen lassen? Nun glaube ich bald kein Wort mehr von deiner Baumgeschichte.«
Der Glaube, daß die Erfüllung großer Dinge nur in unbestreitbar jungfräulichen Händen ruhen könne, ist so alt wie die Welt und verbreitet von einem ihrer Horizonte zum anderen. Deshalb war Louisens Beweisführung stark in Bonvouloirs Seele, und sie ergab sich dem Gebot der Zucht, aber mit so schwerem, so gebrochenem Herzen, daß sie tagelang wie eine Kranke anzusehen war. Herr von Larochejacquelein zeigte ihr nun wirklich ein sehr ungnädiges Gesicht, und als er nach Châtillon zurückkehrte, glaubte Bonvouloir, das Ende aller Dinge sei für sie gekommen. Sie weinte die Nächte durch, von Sehnsucht geschüttelt, hoffnungslos, verzweifelt. Die gütige Henriette sah es mit Erschrecken, rief Bonvouloir in ihr Zimmer und fragte sie liebevoll, was ihr fehle. Bonvouloir begann sofort wieder zu schluchzen.
»Oh, Fräulein Henriette!« jammerte sie, »ich darf es Ihnen nicht sagen, aber glauben Sie mir, es geht mir genau wie Ihnen! Man kann nicht zusammenkommen, man kann es nicht! Der liebe Gott hätte das Leben nicht so umständlich einrichten sollen!«
Zu van Duyren kam Louise, glühend von der Aufregung des Erlebten, das tief in ihre Menschlichkeit eingriff. »Habe ich nun recht,« rief sie leidenschaftlich, »wenn ich sage, wir sollen die Gewissen erziehen und das Volk an seine Menschenwürde erinnern?« Und sie erzählte die Unterredung mit Bonvouloir und des Mädchens überraschende Auffassung. »Diese gottverfluchte Abhängigkeit von der Meinung des ›hohen Herrn‹! Und Bonvouloir ist nicht die einzige, die so denkt! Es schwant mir, daß wir in ganz Frankreich nicht zwanzig Mädchen ihres Standes finden würden, die die Zumutungen eines Larochejacquelein nicht als eine auserlesene Ehre empfinden würden. Freiheit! Freiheit des Gewissens, auch von den Fesseln des gesellschaftlichen Aberglaubens! Wie fürchterlich ist der Gedanke, daß diese Tausende auch Gut und Böse nicht anders zu unterscheiden wissen als nach dem Gefallen derer, die ihnen gebieten!«
Herr van Duyren aber antwortete behaglich: »Diese Bonvouloir ist viel klüger und viel bescheidener, als ich ihr zugetraut hätte. Sie kennt ihre Stellung, sie weiß, wo sie hingehört. Das wäre mir eine feine Einrichtung, wenn wir bei dieser Art Leuten auch noch auf ihre Auffassung von Recht und Unrecht bedacht sein müßten! Übrigens ist es schade! Heinrich ist ein Mann, dem es auf einen kleinen Beutel voll Dukaten nicht ankommt. Sie hätte sich eine schöne Mitgift verdienen können.«