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Da die Erzählerin wieder eine Pause machte, so ergriff Camillo Witte, der schon lange mit den Augen mitgesprochen hatte, froh der Gelegenheit zu reden, nun seinerseits das Wort. »Ich kann,« so sagte er, »ich kann mich in die Seelenkämpfe der armen Louise weit besser hineinversetzen als Sie denken mögen, liebe Freundin. Habe doch auch ich, Sohn eines bewußt monarchisch gerichteten Hauses, mit solchen Zwiespältigkeiten zu ringen gehabt. Sie wissen, wie hoch ich von edelgezüchteten Menschen und dem Bewußtsein ihrer Ritterschaft, wie hoch ich von guter Form und Ordnung denke. Meine Natur empört sich gegen Menschen, denen die Pietät vor dem Gewesenen fehlt, die nur nach Nutzen und Zweckmäßigkeit richten, und denen der Glaube an Gottgewolltes lächerlich erscheint. Ich habe ihn sehr stark, diesen Glauben. Und dennoch! Wenn ich bedenke, welche Linien in der Geschichte der Völker die maßgebenden sind, so erkenne ich immer mehr, wie sehr alles, was Weltenmacht und Größe heißt, eine untilgbare Schuld ist an dem Leben und dem Wohlergehen von Tausenden, die den Preis dafür bezahlt haben, ohne von seinen Früchten auch nur zu kosten. Und dann kann es geschehen, daß ich fordern – ja! fordern möchte, sie sollten nicht mehr arbeiten müssen, damit wir kultiviert sein können, nicht mehr kämpfen, damit wir mächtig seien, nicht mehr die Straßen bauen, auf denen wir zur Größe schreiten. Es empört mich, mein Behagen jenen schwieligen Fäusten zu verdanken, mein Wissen der Unwissenheit der vielen, meine Sicherheit ihrem Blute; und ich quäle mich, eine Weltordnung zu erdenken, wo jeder erntet, was er säet, und wo keiner eine Schuld gegen den anderen hätte. Sie lächeln, Bonvouloir? Leugnen Sie nicht, daß auch Sie mit einem Teile ihres Herzens auf Louisens Seite stehen, Sie könnten sie sonst nicht schildern, wie Sie es tun.«
»Weit entfernt zu leugnen,« erwiderte die alte Dame, »will ich Ihnen gern zugeben, daß auch in Louisen ein Teil meines Selbst verkörpert ist. Man mag seinem Wunsche und seinen Zielen nach Monarchist sein, kann man sich deshalb der Einsicht verschließen, daß Revolutionen nie ohne Grund, nie ohne Recht und nie ohne Erfolg gewesen sind? Das einfache mechanische Anwachsen der Massen muß schließlich zu einem Übergewicht auf ihrer Seite führen, und haben sie dies einmal erkannt, wer kann ihnen das Recht streitig machen, es geltend zu machen? Und sagen Sie selbst: haben die Menschen von heute nicht mehr, weit mehr an Freiheiten und Vorrechten errungen, als jene Männer von 1789 träumten oder – wenn es Royalisten waren – fürchteten? Und sind die Reiche kleiner, ist die Zahl der Wohllebenden und Kultivierten geringer, ist irgend etwas in der Welt schlechter geworden, seit mehr Menschen an dem Genusse ihrer Güter beteiligt sind? Ist es ein Nachteil, daß der kleine Bürger von heute behaglicher und gesunder lebt, als der Graf jener Tage? Ist der Reichtum geringer geworden, seit mehr Menschen teil an ihm haben, ist das Wissen zurückgegangen, seit es allen zugänglich geworden ist? Nein, man müßte blind oder verworfen sein, wollte man das Gute verkennen, das durch die Opferung sehr geringer Vorrechte erkauft worden ist. Und trotz alledem ist Bonvouloir die Heldin meines Herzens und meiner Geschichte, und nicht Louise. Und ich hoffe, es wird Ihnen aus dem weiteren Verlauf meiner Erzählung auch klar werden, warum.«
Sie nahm nach diesen Worten den Faden wieder auf, wo sie ihn fallen gelassen hatte.
Als Bonvouloir Châtillon verließ, war sie, wohl von dem Wunsche getrieben, ihren Vater endlich wiederzufinden, gegen Norden zu gewandert. Dorthin führten auch die Wege, die Westermann noch nicht gezeichnet hatte, und sie fand Herberge bei Landleuten, die noch Dach und Feld besaßen. Sie suchte die Armee des Herrn von Bonchamps zu gewinnen, denn dahin hatte die karge und unsichere Kunde über den Verbleib ihres Vaters gewiesen. Welcher Stern sonst noch, leise verschleiert, aber mächtig ziehend, vor ihr herging, weiß ich nicht. Jedenfalls geriet sie zu weit gegen Osten hin und sah am dritten oder vierten Morgen ihrer Wanderung, als sie eine leichte Erhebung des Bodens überschritten hatte, die gelbverbrannte Loireebene vor sich gebreitet mit dem rötlich schimmernden, kühn gezeichneten Bilde einer Festung an ihrem Rande. Ein Bauer, dem sie begegnete, sagte ihr, daß das Saumur sei, und von diesem Augenblicke an dachte Bonvouloir nicht mehr an ihren Vater.
Sie war sehr müde gewesen, die kleine Flüchtige, aber über diese Ebene, so dornig und scharf das versengte Gras, so bucklig der sonnengehärtete Lehmboden auch sein mochte, über diese Ebene huschte sie mit den Füßen einer Maus, flog sie mit dem Herzen eines Schmetterlings. Saumur! Sie hatte diesen Namen in sehnsuchtsvollen Träumen vor sich hingesprochen, wie ein Pilger den Namen Jerusalem spricht, und nun war es ihr nah, eine purpurne Vision am blassen Sommerhimmel, und nun gab es keine Stadt und kein Gefild mehr außer diesem. Erst als Bonvouloir ganz nahe herangekommen war und die mächtige Schräge der Wälle wie die Flanken eines Berges vor sich aufsteigen sah, fiel ihr ein, daß sie ja in dieser großen, gelobten Stadt auch nicht eine Sterbensseele kenne. Sie verlangsamte ihren Schritt und begann zu überlegen, wie sie es anfangen solle, um nur den Einlaß am schwerbewachten Tore zu gewinnen. Nach Herrn von Larochejacquelein fragen? Sie wurde heiß und kalt in der gleichen Sekunde bei diesem Gedanken. Er würde denken, sie sei ihm nachgelaufen! Sie blieb stehen, legte die Hand aufs pochende Herz, biß die Zähne zusammen und dachte trotzig: Und wenn er es denkt, so werde ich nicht nein sagen! Das Gefühl, zu höheren Dingen berufen zu sein, war ihr in den letzten Tagen voll Reue und Demütigung abhanden gekommen, und keine Louise war da, sie daran zu erinnern. Aber sie war Weib genug, sich mit einem unwillkürlichen Aufblitzen ihrer Augen gleich darauf zu verbessern: »Es wäre immerhin richtiger, wenn er mir nachliefe.« Sie schlenderte nun ganz gemächlich weiter, auf das Tor zu, und hoffte auf eine Eingebung, wie sie den Einlaß erlisten könne.
Nun, sie hatte Glück – oder war es wirklich, daß die Heilige im blauen Mantel ein besonderes Lächeln hat für liebende Mädchen? Wie sie sich dem Tore näherte, hörte sie sich angerufen mit ihrem vollen Namen, und ein paar rasche Fragen: »Wo, um Gottes willen, kommst du her?« und »Wie siehst du aus?« überfielen sie von hinten. Sie wandte sich und erkannte in dem Rufer einen Mann aus Cholet, einen alten Bekannten ihrer Familie und ihr soweit vertraut, daß sie sich nicht zu besinnen brauchte, mit einem kleinen Aufschrei der Freude in seine geöffneten Arme zu laufen. Er küßte sie erst sehr väterlich auf die Stirn, dann etwas weniger väterlich auf den frischen Mund, und hatte mit dieser Geste einen Schutzwall um sie gezogen, der wie Dornröschens Dornenwall jeden anderen Kußlustigen in sicherer Ferne hielt; denn er war ein Korporal, und ihm ins Gehege zu kommen, hätte sich nur ein Offizier erlauben dürfen. So viel hatten die Bauernjungen, die mit ihm Wache standen, von militärischer Ordnung unterdessen gelernt.
Bonvouloir setzte sich auf das steinerne Geländer der kleinen Brücke hinter dem ersten Tore und erzählte ihrem neuen Beschützer aufrichtig, daß sie Schutz und Stellung im Hause Lescure durch ihr ungezogenes Mundwerk verscherzt habe und nun keine andere Hilfe auf Erden mehr wisse, als um jeden Preis ihren Vater aufzufinden und bei ihm zu bleiben; denn daß Frau Allain ihr kein Erbarmen mehr zeigen würde, das wußte sie ohne besondere Erfahrung. Der Korporal sah sie traurig an. Er hatte Philip Perreault fallen sehen, und er mußte nun, als ersten Gruß, seinem jungen Schützling die Hoffnung nehmen, ihn auf dieser Erde wiederzusehen. Bonvouloir weinte die kindlichen Tränen, die eine solche Nachricht lösen mußte, und fragte dann verzagt und hoffnungsvoll zugleich: »Was soll nun aus mir werden?« Natürlich antwortete der Korporal: »Vorläufig stehst du unter meinem Schutze!« und damit hatte Bonvouloir nicht nur den Eintritt, sondern auch Obdach und Fürsorge in Saumur gefunden.
Nicht wie Chatillon oder Cholet bot Saumur das Bild eines Kriegslagers dar, sondern es waren die Soldaten fein säuberlich in der Zitadelle, in Wachttürmen rings um die Stadt, in einigen hallenartigen Räumen öffentlicher Gebäude einquartiert, und obendrein hatten sie strengen Dienst und gar keine Gelegenheit herumzulungern. Man hatte große Salpetervorräte in der Stadt gefunden, Herr von Larochejacquelein hatte Pulvermühlen anlegen lassen, und die Befestigungen wurden nach allen Seiten hin erneut und gebessert. So hatte er der Langeweile, dem Mißmut, dem Heimweh zu begegnen gehofft, ohne es freilich bannen zu können. Was an Frauen und Mädchen mit der Armee gezogen war, hatte er scharf ins Verhör genommen und dann verfügt, daß ordentliche Wohnungen und Arbeit für diese ihm lästigen und doch nicht abzuweisenden Bestandteile eines Besatzungsheeres gefunden würden, und er strafte unbarmherzig, wenn er vernahm, daß Offiziere sich mit den Troßweibern zu vergnügen suchten. Denn er war noch jung, sehr jung, und glaubte noch, daß nur unbefleckten Fahnen der Sieg gewiß sei. Es herrschte deshalb in Saumur eine Stimmung wie in einer Klosterschule, wo viel gelernt und viel gepredigt wird, aber bei Lernen und Predigt der Blick doch unermüdlich und listig nach den verbotenen Äpfeln im Klostergarten schweift. Der Korporal, der jungen Bonvouloir Schönheit und lebhafte Augen betrachtend, überlegte, daß sein Ansehen allein vielleicht nicht genug Schutz für ein so auserlesen köstliches Äpfelchen sein möchte, und verfiel auf den Gedanken, das schmächtige Wesen in Knabenkleider zu stecken. Ganz gesichert glaubte er sie erst, als er sie in einer Art Küche, die einige Offiziere sich hatten einrichten lassen, um den Klagen unwilliger Quartiergeber zu entgehen, als Küchenjunge angestellt sah.
Wirklich war Bonvouloir in dem lichtarmen Raume recht gut verborgen. Das saalartige Gemach, einst vielleicht ein festliches Gelaß, jetzt offenbar ein leergewordener Lagerraum für Kaufmannsgüter, war so geteilt, daß die hellere, der Straße zugewandte Seite mit einer dürftigen Wohnlichkeit, Eßtischen und ein paar Lampen, ausgestattet war; der dunkle Hintergrund, durch eine Gardine aus Sackleinwand noch mehr verdunkelt, war zur Küche gewandelt worden und erhielt sein Licht durch eine Öllampe, die fast den ganzen Tag über dem Herde brannte. Ein alter Stelzfuß stellte so Koch als Kellner vor, im übrigen brachten die Offiziere ihre eigenen Diener mit, die bei den Mahlzeiten aufwarten mußten und bei den abendlichen Kartenspielen den Wein oder Most kredenzen. Der Stelzfuß ließ sich die junge Hilfe, die seine Mühsal bedeutend verringerte, gern gefallen; und Bonvouloir, die sich wohl fühlte, wo sie wirksam sein konnte, nahm sich mit Eifer der etwas verkommenen Wirtschaft an und hörte in ihrem Winkelchen manch erstauntes Lob der Offiziere über die ungewohnte Sauberkeit und Appetitlichkeit des Gebotenen. Der Stelzfuß steckte schmunzelnd das Lob ein; und da er fürchtete, die wertvolle kleine Helferin könne ihm genommen werden, ließ er sie, solange ein Offizier anwesend war, nicht hinter dem Kessel hervorkommen. Diese harmlose Tyrannei paßte Bonvouloir nicht übel; wurde sie auch nicht gesehen, so sah sie doch, und da sie das einzige Gesicht, nach dem ihr Herz schrie, noch nicht gesehen hatte, so lag ihr auch nicht daran, die Aufmerksamkeit der anderen auf sich zu ziehen. Sie hatte sich sagen lassen, daß Herr von Larochejacquelein sehr strenge war mit Weibern, die ihre Zugehörigkeit zu einem Soldaten nicht klar beweisen konnten, und es war dabei sogar von einer bereits mehrfach angewandten Prügelstrafe die Rede gewesen. Sie blieb also gern in der Sicherheit ihres Beobachterstandes hinter dem Kessel.
Der Korporal hatte ein Stübchen für sie ausfindig gemacht, das sie mit einer alten, fanatisch königlich gesinnten Näherin teilte. Diese schloß die junge Fremde, die den Helden Lescure, den Heiligen Cathelineau und den Baum von Saint Laurent gesehen hatte, zärtlich in ihr andachtsvolles Herz und barg sie mit solcher Eifersucht, daß Bonvouloir in einem Kloster nicht besser hätte gehütet sein können. Gern hätte sie das Mädchen ganz für sich behalten, aber, Nähen war Bonvouloirs Sache nicht, und außerdem fehlte in dem Dachstübchen der alten Person der Ausblick auf eine Türe, durch die möglicherweise mit anderen Offizieren einmal ein gewisser blauer Waffenrock eintreten konnte. Das rote Halstuch machte, sei hierbei erwähnt, Bonvouloir kein Herzklopfen mehr: es war kaum ein Soldat in der Armee, der es nicht getragen hätte.
Es war kein leichtes Leben, was Bonvouloir in Saumur auf sich genommen hatte. Die Sommerglut in der Stadt war, da Berge und Wälder fern lagen, fast noch mörderischer, als sie in Châtillon gewesen war, und Bonvouloirs Tagewerk in dem luftlosen Raume, in der Nähe eines gut unterhaltenen Kochfeuers begann mit Sonnenaufgang und endete in später Nachtstunde. Was der Stelzfuß nicht von ihr verlangte, das forderte ihr eigenes, stark ausgeprägtes Ordnungsbedürfnis, sie leistete mehr als nötig war, und magerte in wenigen Tagen ersichtlich ab, so daß der ungeschlachte Zwilchanzug, den Vater Bastian für sie besorgt hatte, sie in lächerlicher Weise umschlotterte. Die alte Näherin, die aus einer fernen, durch anmutige Erinnerungen golden herleuchtenden Jugend den zärtlichen Namen »Fleurette« herübergerettet hatte, war verdrießlich über die Entstellung eines so vollkommenen Menschenbildes und nähte heimlich ein zierliches Kleidchen für den lieben Gast: das Röckchen aus taubenblauem »Siamois« – freilich hatte der billige Baumwollstoff Siam nie gesehen, sondern war einfach levantinischer Herkunft – und das Pierrotjäckchen mit den weiten Schößen aus rosenrotem Linon, mit blauen Rändern eingefaßt. Bonvouloir hielt den Anproben stand mit Füßen, die vor Müdigkeit schwankten. Aber der bescheidene Putz, den sie in heimlichen Träumen mit dem blauen Waffenrocke in Verbindung brachte, half ihr, Geduld fassen und an den Tag glauben, wo sie erfahren würde, warum ihre himmlische Patronin sie gerade nach Saumur geführt hatte.
Manchmal, wenn sie in dunkler Nacht ihrem Obdach zueilte, hörte sie den Widerhall marschierender Kolonnen in den Gassen, hörte Kommandorufe, Werda an den Toren, Trommelwirbel und das langgezogene Tuten der Kuhhörner. Es war, als ob die ganze Stadt aus dem Schlafe geweckt werden müsse, und klirrende Fensterscheiben, Fragen und Klagen von Söller zu Söller bewiesen auch, daß dies Ziel so ziemlich erreicht ward. Bonvouloir fragte ihren Korporal, was der nächtliche Lärm bedeute. Vater Bastian lächelte schlau. »Es sind neue Truppen, mein Töchterchen,« antwortete er pfiffig, »die wir nachts in die Stadt lassen, damit die verfluchten Patrioten nicht sehen, wie viele es sind.« Bonvouloir war erfreut über den augenscheinlichen Zuwachs an Streitkräften: hörte sie doch in der Kantine die Offiziere nur zu häufig klagen über die Abnahme der Begeisterung unter den Bauern, über eine förmliche Fahnenflucht, der auch durch Strafen nicht beizukommen war. Viele Tage später gestand ihr dann der alte Freund mit Seufzen, daß jene erfreulichen nächtlichen Ankömmlinge immer das gleiche treue Regiment alter Söldner waren, das Herr von Larochejacquelein in wiederholten Auszügen den Augen – oder in diesem Fall den Ohren – der Stadtbürger vorführte, nicht damit sie das Anwachsen, sondern vielmehr damit sie die beständige Abnahme der Besatzung nicht wahrnehmen möchten.
Es stand also gar nicht gut um diese stolze Eroberung der Loirefestung, und wenn General Canclaux, der in Angers saß und des rechten Augenblicks für einen Überfall gewärtig war, gewußt hätte, wieviel Mannschaft Herr von Larochejacquelein in Wahrheit noch befehligte, er hätte Saumur in zwei Stunden wieder haben können. Aber zum Glück für Heinrich hatte die Republik ihre Generale zur Vorsicht erzogen, indem sie Mißerfolge mit der Guillotine belohnte, und Canclaux wollte nicht angreifen, ehe er nicht der Mitwirkung starker Kräfte von allen Seiten her sicher war. So blieb Saumur unbehelligt, wenn man kleine Scharmützel an den Landstraßen und an den Stromübergängen abrechnet, bei denen es sich um die Wegnahme von Lebensmittel- oder Munitionstransporten handelte. Trotzdem war Heinrichs Lage gefährlich und schwerer Verantwortung voll, und die Gespräche, die Bonvouloir hinter ihrem Kessel erlauschen konnte, füllten ihr Herz mit Bangen und Mitleid. Sie ahnte, wie Heinrichs Jugend versagen mußte unter einer Last, die einen älteren und erfahreneren Mann gedrückt hätte.
Vater Bastian berichtete ihr eines Tages von einer Begebenheit, die ihn erschüttert hatte: Heinrich hatte mit Tränen in den Augen einer Gruppe von Leuten Vorhaltungen gemacht über den Leichtsinn, mit dem sie die Arbeit der Führer zunichte machten, über die bittere Notwendigkeit, nun einmal eine Eroberung zu behaupten, über Saumurs Bedeutung im Kriegsplan der Vendée, und hatte augenscheinlich gehofft, dadurch die Verständigeren unter den Bauern festzuhalten und durch ihr Beispiel die Fahnenflucht der anderen zu bannen. Aber mitten in seine strategische Vorlesung hinein war plötzlich eine Stimme erklungen, die trocken sagte: »Wir können hier bis zum Jüngsten Tag warten, wenn wir warten wollen, bis Nantes fällt,« und als Herr von Larochejacquelein sich zornig nach dem Sprecher umgewandt habe, habe dieser mit gleicher Ruhe hinzugefügt, Nantes sei, so lange es stehe, noch nie eingenommen worden, und nur ein völlig Unkundiger könne einen so nutzlosen Versuch wagen. Es war ein Bauer aus der Gegend von Angers, der so sprach. Heute würde ein solcher Zwischenrufer hart gestraft werden, damals, in der Zeit der »Tyrannei«, hätte kein Führer wagen dürfen, einen freiwilligen Kämpfer um eines solchen Bruches der Heeresordnung willen unschädlich zu machen. Heinrich mußte sich also begnügen, dem Manne zu erwidern, es müsse jedes Ding einmal zum ersten Male geschehen, und er habe nie gehört, daß Nantes einen Pakt mit dem Teufel geschlossen habe; das brachte die Zuhörer, die schon von dem Gifthauche des Aberglaubens gestreift waren, wieder auf seine Seite. Jedoch – das einmal Ausgesprochene wirkte nach, auch in den Gemütern der Nüchternen und Einsichtigen. Nantes war wirklich noch nie einer Belagerung erlegen, sogar Heinrich IV., der Glückskönig, hatte vor dieser Feste die Waffen senken müssen. Das hatte gerade noch gefehlt, um den armen Jungen, der ein General sein mußte um des Zaubers seiner Augen willen, recht in Verzweiflung und Wut zu bringen.
In dieser Stimmung des Haders gegen Gott und die Welt erreichte den jungen Führer die Nachricht von der Erkrankung Lescures, die gleichbedeutend war mit einer Aufgabe des Unternehmens gegen Nantes; erreichte ihn die Nachricht von der Hinrichtung Sapinauds, die Nachricht von der Verwundung d'Elbées und – die Nachricht, daß sein alter Unteroffizier Bastian, auf dessen Gesittung und gutes Beispiel er stets so viel gehalten hatte, eine wunderschöne Geliebte bei sich habe, die er verkleidet in der und der Kantine als Küchenjunge versorgt habe. Die ganze Wucht langaufgespeicherten Verdrusses, die ganze Reizbarkeit, die unübersehbare Sorgen erzeugt hatten, wälzte sich naturgemäß auf diesen letzten Gegenstand, der wenigstens erreichbar und verantwortungsfähig war, und sofort begab sich Herr von Larochejacquelein, anzusehen wie Simson, als er auf den Löwen losging, in die bezeichnete Kantine, um vor aller Augen zu richten. Bonvouloir saß ahnungslos hinter dem Kessel und tat, was eine schöne und jugendliche Romanheldin nun und nimmer tun dürfte, was sich aber leider nicht verschweigen läßt: sie rauchte eine Pfeife. Die Bauernfrauen hatten es sie gelehrt, und sie hatte gefunden, daß es eine gute Sache sei, wenn einem die Augen zufallen und man nicht schlafen darf, oder wenn einem vor Hunger der Magen weh tut und man doch nicht essen kann vor Mattigkeit und Hitze. Nun stürmte also ein Wettergott mit Donner und Blitz über sie her, riß ihr zunächst die Pfeife aus dem Munde und schleuderte sie in die Ecke; dann ergriff er den Jungen in den schlottrigen Kleidern beim Arm und riß ihn mit einem Schwunge nach vorne in den helleren Teil des Hauses – und dann standen beide da, versteinert vor Überraschung, und starrten einander an.
Bonvouloir, beschämt bis beinahe zur Erstickung, barg ihr Gesicht hinter ihrem weiten, schmutzigen Ärmel, senkte den Kopf, beugte den Körper und sank so tiefer und tiefer in sich zusammen, bis sie als ein Häuflein vor dem furchtbaren Richter am Boden kniete und nichts Wesentliches mehr von ihr sichtbar war als das zarte bräunliche Hälschen unter der Soldatenmütze. Heinrich, hilflos vor Verlegenheit, suchte nach Worten; er hatte ein Hagelwetter von Flüchen auf den Lippen gehabt, aber er fühlte wohl, daß es nicht angebracht sein würde, sie über das zerschmetterte kleine Geschöpf auszugießen, besonders da er selbst in dem einzigen kurzen Blicke Bonvouloirs jämmerliches Aussehen erfaßt hatte. Was er sagte, klang zwar heiser vor Aufregung, aber verhältnismäßig milde: »Gehe augenblicklich, Bonvouloir, und sorge für eine würdige Kleidung! Dann begib dich in das Haus der Frau von Grammont und warte, bis ich dich rufen lasse!« Und nach diesem knappen Befehle ging er an Bonvouloir vorüber, ohne ihr einen weiteren Blick zu schenken, was er aber nicht aus Zorn, sondern aus Angst vor dem tat, was dieser Blick vielleicht offenbart hätte.
Nun war also für Bonvouloir der Augenblick gekommen, das freundliche Geschenk Fräulein Fleurettes zu verwerten, wenn sie sich diesen Augenblick auch wesentlich anders gedacht hatte. Sie saß also am nächsten Morgen, grau vor Angst, aber zierlich und reinlich im neuen Putze, in der Gesindestube der Frau von Grammont und weigerte sich, den Napf Suppe anzunehmen, den man ihr anbot. Nach einer Weile wurde sie in ein hohes und prunkhaftes Gemach geführt und dort allein gelassen, und einige Minuten später fühlte sie, mehr als sie sah, den Eintritt ihres Richters. Wieder ging er an ihr vorbei, ohne sie anzusehen, setzte sich in einen Lehnstuhl am Fenster und heftete den Blick unverwandt auf einen Kirschbaum vor diesem Fenster, als ob er noch eine verspätete Frucht daran erspähen wolle. Nach einer kleinen Weile sagte er streng und kurz: »Erzähle der Reihe nach, wie du in diese lächerliche Verkleidung gekommen bist, und lüge mir nichts vor! Bei der ersten Unwahrheit, die ich entdecke, lasse ich dich unbarmherzig prügeln.«
Bonvouloir mußte nun die ganze lange, jammervolle Geschichte ihrer Erlebnisse erzählen, und es versteht sich, daß sie dies nicht ohne starke Bewegung konnte. Oftmals versagte ihr die Stimme und sie mußte sich ein bißchen ausweinen, ehe sie wieder Worte fand, besonders als sie von den schrecklichen Vorgängen in La Grange berichtete, die Herr von Larochejacquelein nur durch lückenhafte Berichte kannte. Er drängte sie nicht, sah immerfort aus dem Fenster und sagte nur ab und zu leise gegen den Kirschbaum hin: »Weiter!« Nur als Bonvouloir von ihrem unerhörten Benehmen gegen Fräulein Louise sprach, wandte er sich schnell ein bißchen um, und Bonvouloir glaubte ein verdächtig fröhliches Aufblitzen seiner Augen bemerkt zu haben. Als sie geendet hatte, schwieg er lange. Dann stand er auf, nahm ein kleines Kruzifix von der Wand, hielt es Bonvouloir hin und fragte fürchterlich ernst: »Bonvouloir, kannst du mir schwören, daß du wirklich nur hinter der Armee hergelaufen bist, um deinen Vater zu suchen? Bist du nicht etwa einem Mannsbilde nach- und zugerannt?« – »Herr General,« rief Bonvouloir, erschrocken und sehr gekränkt, »fragen Sie den alten Bastian, wie ich mich gehalten habe, seit ich in Saumur bin!« – »Gut,« sagte darauf Herr von Larochejacquelein, »dann komm her und schwöre!«
Bonvouloir trat mutig ein paar Schritte vor und hob schon die Hand, um sie aufs Kruzifix zu legen. Dabei mußte ihr Blick dem des Jünglings begegnen, ein Schauer durchrieselte sie, sie fühlte ihre Knie weich werden, ihr Herz bersten, die Welt rings um sie her sich drehen. Mit einem leisen Seufzer ließ sie die Hand wieder sinken. »Verzeihen Sie mir, Herr General,« hauchte sie mit versagender Stimme, »aber ich kann doch nicht schwören!«
Larochejacquelein machte eine zornige Bewegung. Er hatte die Blutwelle in das Gesicht des Mädchens steigen, hatte das Bekenntnis der Schuld in ihren Augen brennen sehen, und sein erstes Aufwallen war das einer maßlosen Eifersucht. Schon zitterte ihm ein Schmähwort auf den Lippen. Aber plötzlich sah er in Bonvouloirs Gesichtchen ein sekundenlanges Lächeln aufblühen, ein Lächeln voll träumerischen Glücks, das freilich erloschen war, noch ehe er es recht gefaßt hatte. Es hatte immerhin genügt, um ihn aus der Fassung zu bringen.
Er stand einige Sekunden lang in verwirrtem Nachdenken. Dann sagte er, noch immer mit äußerster Strenge, aber mit einer sonderbaren Unsicherheit in der Stimme: »Also du gibst zu, daß du hinter einem Mannsbild herrennst! Und dazu sind dir unsere heiligen Zwecke gerade gut genug, und diese Armee ist dir nichts weiter als eine Kirmes, wo du deine verfluchten Augen tanzen lassen kannst! Aber jetzt will ich wissen, wer der Kerl ist, der sich seine Dirne im Troß nachlaufen läßt! Er soll mich kennenlernen!«
Da lächelte Bonvouloir wirklich, diesmal ganz deutlich und unendlich süß.