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Zweiter Teil

1.

Bis hierhin hatte die adlige Erzählerin fast in einem Atem und in immer steigendem Tempo gesprochen, so daß sie schließlich leise keuchte und in sichtlicher Ermattung den letzten Ton abriß. Camillo Wittes Ohr war in gleich reger Anteilnahme der raschen Erzählung gefolgt, wie sein Auge der Gefühlsspiegelung in dem durchsichtigen alten Gesichte, das schöner ward, je mehr es sich in innerer Ermüdung straffte. Es brauchte, wenn man die lebendige Mimik dieser Züge verfolgte, nicht besonderen Scharfsinns, um auch das Spiel der Phantasie dahinter zu belauschen, und Camillo konnte fast mit Sicherheit im gleitenden Strome dieser Epopöe die dunkleren und blauschattigen Tiefen einer wühlenden Vorstellungskraft von dem glätteren Geriesel der seichteren Wirklichkeit unterscheiden. Er versuchte aber keineswegs, diese seine Beobachtung zum besten zu geben, weil er fühlte, daß auch das Erfundene sich aus den glitzernden Mosaiksteinchen unbewußt aufgenommener Erinnerungsbilder, seien sie nun auf Gehörtes, Gelesenes oder mühsam Ergrübeltes zurückzuführen, zusammensetzte. Niemand dichtet Unerlebtes, und es muß nur der Begriff des Erlebens nicht in seinem rohesten Sinne gefaßt werden, um dies zu verstehen. Eine Gegenwart, nicht unähnlich den Zeiten, in denen jene erste Bonvouloir lebte, ließ Lichter aufsprühen, da wo das Gewässer des Vergangenen zu dunkel schien. Camillo Witte vermied also jeden Einwand und jede Betrachtung über das Gehörte, vielmehr erhob er sich nun eilig, um eine Erfrischung zu besorgen, kam bald mit einem Diener zurück, der Früchte und Getränke herbeitrug, und hatte schnell einige Pfirsiche mit Wein und Zucker angefeuchtet, die er der alten Dame darbot. Dann bat er sie, die Augen ein wenig zu schließen, was sie lächelnd befolgte, und begab sich selbst ins Nebenzimmer, indem er die Türe leicht angelehnt ließ. Dort setzte er sich an den Flügel und spielte leise eine Reihe alter Gavotten, Passacaglien und Menuette, die er durch ein zartes Rankenwerk von Läufen verband. Dann ließ er eindringlich und rasch schwellend die Töne der Marseillaise im Baß aufklingen, und als diese sich endlich zu einem festgefügten Chore von bezwingender Gewalt geschlossen hatten, ließ er sie volltönig und siegreich zu Ende rauschen. Dann erhob er sich, um an seinen alten Platz am Rauchtisch zurückzukehren. Die Freundin empfing ihn mit einer leise drohenden Fingerbewegung. »Ihre Erzählung ist kürzer und nicht minder erschöpfend als meine,« sagte sie heiter. »Wollten Sie mir andeuten, daß ich mein Gefühl fester fassen soll?« Sie ließ sich aber leicht überzeugen, daß ihm kein Wort ihrer Erzählung entbehrlich erschienen war, und fuhr in behaglicher Breite fort, wie sie begonnen hatte.

Es war ein kluger und kühner Griff der Republik, gerade jenen Lescure zu verhaften, der sich von allen Adligen des Boccage bisher am wenigsten bloßgestellt hatte: sie bewies dadurch, daß sie von den heimlichen, mit äußerster Vorsicht betriebenen Unterhandlungen mit England und Österreich wußte, und daß sie diese ernster nahm, als die wundersüchtigen Kreuzzüge der Bauern. Diese unerwartete Kriegserklärung besagte deutlich, daß die Republik es sich leisten konnte, die Cathelineaus, Bonchamps und Stofflets als fromme Schwärmer zu verlachen: in Lescure, dessen Bauern tatsächlich nie einen Aufstand unternommen hatten, traf sie den feinsten Nerv der königlichen Sache. Denn er, obgleich erst sechsundzwanzig Jahre alt, besaß eine Vergangenheit von solchem kriegerischen Ruhme und von solcher Weisheit und Voraussicht in strategischen Dingen, daß keiner wie er befähigt war, ein Unternehmen auf sichere Füße zu stellen. Unausgesprochen hatte auch der ganze Adel des Poitou in ihm seinen Führer gesehen, und so lange er still blieb, blieb auch die Beteiligung aller Vernünftigen auf Zuwarten und heimliche Verständigung beschränkt. Herr von Texier, und nicht minder die kluge Louise, begriffen augenblicklich, was diese scheinbar ungerechtfertigte Verhaftung bedeuten sollte, nämlich: den Entschluß der Republik, den Aufstand des Poitou endlich ernst zu nehmen, und daß ein Zurück von diesem Augenblicke an keiner der beiden Parteien mehr möglich sei. Sie versuchten auch augenblicklich, den nunmehr wieder sich sammelnden Bauern die Gefährlichkeit ihrer Lage klar zu machen; ebenso allerdings Herrn van Duyren, der immer noch glaubte, Wille und Bestimmung des Anfangs läge in seinen Händen. Aber schon hatte die Menge, aus ihrer Erstarrung erwachend, die Herausforderung angenommen, und ein Wutgebrüll, das buchstäblich Felsen und Eichen zu erschüttern schien, gipfelte in dem begeisterten Ausrufe: »Befreit ihn! Befreit ihn!« Von Châtillon war nicht mehr die Rede; von allen Seiten gellte der Ruf: »Nach Bressuire!«; denn diese Stadt, die den Gefangenen barg, war plötzlich Feindin und Verräterin in den Augen der Kampflustigen geworden. Sie hatten ihr Ziel, sie hatten ihr scheinbares Recht zu jeder Wildheit, und selbst Julian und van Duyren sahen nun ein, daß ihre Aufgabe nicht im Entflammen, sondern im Mäßigen liegen würde. Beide arbeiteten mit erhobenen Armen und dem heftigsten Gebärdenspiel so lange, bis sie eine erträgliche Stille bewirkt hatten, und benutzten diese, um die Bauern zu Ruhe und Heimkehr zu mahnen und zugleich einige Angesehenere zu einer dringend nötigen Beratung einzuladen. Die ganze Versammlung verlief sich endlich mit der Verheißung eines nahen Angriffs auf Bressuire, und mit dem Befehle, daß jeder selbst seine heimliche Ausrüstung zu betreiben und des Zeichens der Sturmglocke zum Aufbruch gewärtig sein solle. Van Duyren und Julian gaben sich in Begleitung jener älteren erwählten Bauern hinweg. Bonvouloir indes fuhr mit den Damen nach La Grange zurück.

Die träge Bewegung des Ochsengespannes war dem erregten Gemüte Bonvouloirs bald unerträglich, und sie bat, zu Fuß voraneilen zu dürfen, indem sie irgendeine Arbeit zum Vorwand nahm. Als sie den Hof des Schlößchens betrat, sah sie einen Mann, der ein gesatteltes und sehr abgehetztes Reitpferd darin umherführte. Ihr Herz wallte mächtig auf, ihre Knie zitterten: sie sah einen schmalen blauen Waffenrock, eine wehende rote Halsbinde – und dann das schöne junge Gesicht mit dem blonden Engländerscheitel. Und diesmal barg es sich nicht, dies einzige Gesicht! Mit einigen hastigen Fragen, die Bonvouloir ebenso hastig beantwortete, trat der Fremde auf sie zu. Bonvouloir begriff: er, der unbekannt bleiben wollte, war der Bringer des verhängnisvollen Briefes gewesen, der die Gefangennahme der Familie Lescure ankündigte. Und schon flogen ihr die Worte von den Lippen, die in der letzten Viertelstunde in allen Herzen gehämmert hatten: »Wir werden alle – alle gehen, um Herrn von Lescure zu befreien!«

Der überschlanke Fremde sah ein wenig erstaunt auf das entflammte Zöfchen herunter, dann schien ihm eine Erinnerung zu kommen und er lachte: »Du auch?« Bonvouloir machte ein gekränktes Gesicht. Ihre Erwählung, die Erscheinung der heiligen Jungfrau fiel ihr plötzlich ein diesem hochmütigen Edelmanne gegenüber, und ihr Gedanke formte, was ihre Lippen nicht zu formen wagten: wer weiß, ob ich nicht ebenso zu nützen vermag wie du! Sie gab indes keine vernehmbare Antwort, stand nur in dumpfer Verlegenheit da und sah ihm nach, wie er sich mit seinem Pferde entfernte. Dann kam ihr in den Sinn, daß kein Knecht auf dem Hofe sei. Sie rannte hin, nahm dem Unbekannten die Zügel aus der Hand und fuhr fort, das triefende Pferd auf und ab zu führen, während er ins Haus ging, ohne ihr auch nur einen Blick zu gönnen.

Bald darauf langten die Schloßbewohner an, und ein Stallbursche nahm sich des Pferdes an. Bonvouloir kroch in ihr Stübchen, brütete vor sich hin und war voll von einem wühlenden Glücksgefühl, das sie schwindlig machte wie ein Trunk sehr süßen Apfelmostes. Wenn wir lieben, beseligt uns nichts mehr als ein Dienst, den wir dem Geliebten leisten können: es ist wie eine Vorahnung unserer Berufung, seiner Wonne, seines Behagens in jeder Weise beflissen zu sein. Auch schon die kleine Gefälligkeit, die das warme Mädchen ihrem Angebeteten hatte erweisen dürfen, gab sie ihm zu eigen. Sie war dunkel eifersüchtig auf den Stallknecht, auf das Pferd selbst; niemand, niemand sollte ihm Liebes erweisen können als sie allein!

In solchen Gedanken, in solcher Getragenheit entschwanden Bonvouloir die Stunden. Sie erwachte spät aus ihrer Versunkenheit, begann sich zu wundern, daß das Haus so seltsam still war und daß man sogar die Mahlzeit vergessen zu haben schien, und raffte sich auf, um erschrocken verträumter Pflichten zu gedenken. Da trat Fräulein Henriette bei ihr ein, fieberrot, mit feuchten, schimmernden Augen. »Bonvouloir,« sagte sie erregt, indem sie ihr den Arm um die Schulter legte, »komm schnell zum Vater! Kann sein, wir brauchen dich zu großen Dingen.«

In Herrn von Texiers Arbeitszimmer saß die ganze Familie versammelt und der schöne Unbekannte mitten darunter. Bonvouloir blieb erwartungsvoll stehen, sie fühlte, daß große und wichtige Erwägungen vorhergegangen sein mußten; alle sahen ermattet oder erhitzt aus, und Fräulein Louise trug wieder jenen Ausdruck von Geschlagenheit, den Bonvouloir bereits an ihr kannte und verstand. Sie, natürlich, war wieder anderer Meinung gewesen als alle übrigen! Nun winkte Herr von Texier das junge Mädchen heran und fragte, ob es wahr sei, daß sie eine Pate oder sonst Verwandte in Bressuire habe. Bonvouloir bejahte und nannte unverzüglich auch Frau Allains Namen. Die Wirkung dieses Wortes war so erstaunlich, daß Bonvouloir beinahe ängstlich wurde: die ganze Gesellschaft schnellte auf, schlug die Hände zusammen und tat, als ob ein Wunder sich begeben hätte, er aber – ja, er! – richtete einen so leuchtenden und warmen Blick auf die Erschrockene, wie sie noch keinen in ihrem Leben empfangen zu haben meinte. Herr von Texier, sichtlich nicht weniger betroffen als die übrigen, wandte sich mit einem seltsam ernsten Lächeln ihr zu. »Wahrhaftig, Bonvouloir,« sagte er, »ich fange an, an deine Erwählung zu glauben!« Henriette, die noch neben Bonvouloir stand, zog sie an sich und küßte sie. Und dann endlich fand Frau von Texier Worte der Erklärung: Eben im Hause jenes Stadtverordneten Allain befand sich die Familie Lescure in Haft! Die Regierung habe doch nicht gewagt, vollkommen schuldlose und hochangesehene Leute schlechthin ins Gefängnis zu werfen, habe ihnen ein immerhin behagliches und ihren Gewohnheiten angemessenes Quartier zugewiesen, in welchem sie jedoch in doppelter Weise, sowohl von militärischen Posten als auch von der sehr eifrigen und gesinnungsfesten Bürgerin Allain bewacht würden. Dies alles habe »Herr Heinrich« ermittelt, eine Verständigung mit Lescure aber vorläufig nicht herstellen können. Und schon hatte Bonvouloir ihre Aufgabe verstanden: Ich soll ihm eine Botschaft bringen! Und ihre braunen Augen flammten im begeisterten Gefühle, einer großen Aufgabe gewachsen zu sein. Der Unbekannte nahm einen Brief, der auf dem Tische lag, reichte ihn Bonvouloir und sagte streng: »Morgen abend muß er in Frau von Lescures Händen sein!« Bei den letzten Worten riß Bonvouloir schon die Schuhe von den Füßen und schürzte den Rock. Ihr Eifer wurde aber noch gebändigt, sie mußte eine rasche Mahlzeit mit der Familie teilen und wurde ehrenvoll mit Rede und Rat bedacht. Freilich konnte sie fast nichts essen, denn das Bild ihrer Träume, von dem sie nun wenigstens den Vornamen kannte, richtete manchmal einen Blick und einmal sogar ein Wort an sie. Aus den Gesprächen bei Tisch, die ein verebbender Nachhall der vorhergegangenen Auseinandersetzungen sein mochten, konnte Bonvouloir ihre eigenen Schlüsse ziehen. Herr von Texier und Louise schienen wenig begeistert von dem Plane einer gewaltsamen Befreiung der Gefangenen; sie betonten wiederholt, Lescure habe sich nichts zuschulden kommen lassen, und seine Verhaftung könne nur als Warnung für unvorsichtige Betörer der Bauernschaft gemeint sein; verhielte man sich ruhig, so würde gewiß die Entlassung binnen kurzem und in allen Ehren erfolgen. Aber mit höchster Leidenschaft stritten die übrigen Familienglieder gegen diese Überlegung, und der geheimnisvolle Herr Heinrich stritt am heftigsten: jetzt gälte kein Zaudern mehr, ein Freund sei in Gefahr, edle Frauen in unwürdiger Lage. Wenn man so viel sich ungestraft bieten ließe, so würde der feige Pöbel, der sich Nation nenne, bald Größeres wagen. Daß gerade Herr von Lescure verhaftet sei, dessen Stellung und Ansehen im Lande mehr gelte als die irgendeines anderen Adligen, sei eine Herausforderung von so frechem Hohne, daß nur eine einzige Antwort darauf möglich sei. Da die starken Schlagworte wie Standesehre und Königstreue auf seiten Heinrichs waren, so behielt seine Partei in diesem häuslichen Kriege den Sieg, und Bonvouloir wurde nach gründlicher Unterweisung mit ihrem Briefe abgeschickt. Er ward im Sonntagsmieder vernäht, damit suchende Hände ihn nicht zu finden vermöchten. Derjenige aber, den Vater Perreault seinerzeit an Frau Allain geschrieben und von dem Bonvouloir nie so beseligenden Gebrauch erwartet hätte, lag oberflächlich versteckt im winzigen Bündelchen, damit er gefunden werde.


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