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8.

Drinnen im Saal aber war eines ihrer Worte zurückgeblieben, und die es aufgefangen hatte, war die schüchterne Henriette. »Der König wird nie etwas davon wissen!« Es arbeitete in ihrer Seele, und, ohne ihren Todesrausch auch nur im geringsten zu ernüchtern, gab dies Wort ihr ein Vermächtnis auf, das sie erfüllen zu müssen glaubte. Die immer noch vibrierenden Schauer in Bonvouloirs Brust zeigten ihrem mitleidigen Gemüte eine zweite Aufgabe, die sich unmerklich mit der ersten verband. Eine Möglichkeit stellte sich ihr dar, dem König Botschaft zu schicken von diesem Untergange einer treuen Anhängerschaft; sie ging und holte ihr Tagebuch.

Unterdessen war Julian eingetreten, um zum Aufbruch zu drängen. Die Bauern weigerten sich, länger standzuhalten, viele hatten sich bereits, nach ihrer Gewohnheit, lautlos im Dunkel verloren. Die Nachricht, daß Frau von Texier sich nicht zur Flucht bewegen lassen wolle, ließ ihn nur eine Sekunde lang zurückbeben, denn schon stand Henriette neben ihm, legte die Arme um seinen Hals und sagte sanft: »Wir dürfen zusammen sterben, Julian.« Er sah ihr Gesicht nicht und wußte doch, wie hinreißend verklärt es in diesem Augenblick aussehen mußte. Heftig umarmte er sie, und, ihre Meinung verstehend, antwortete er mit einem Tone von Glück: »Auch dies wird eine Hochzeit sein, Geliebte.«

Aber nun kam Henriette mit ihrem Vorschläge. Es lag ihr doch sehr am Herzen, daß der König wisse, wer ihm Treue bewiesen hatte, und sie wollte schnell und mit wenigen Worten die Namen der hier zum Tode Vereinten aufzählen, ihre Stellung im Kriege der Vendée bezeichnen, ein letztes Hoch auf den König dazufügen und das Buch mit diesem Testamente dann durch Bonvouloir an Herrn von Lescure schicken. Sie brachte diese kindliche Vorstellung mit so rührender Dringlichkeit vor, daß Herr und Frau von Texier nicht das Herz hatten, sie zu ernüchtern. Licht wurde gebracht, und nun setzte sich Henriette, die Schreibgewandte, hin und schrieb, von den übrigen häufig unterbrochen und verbessert, die Worte auf, die Sie, lieber Freund, hier in diesem Buche lesen können. Beachten Sie: die Schreiberin hat respektvoll drei Seiten leer gelassen, damit eine an die höchste Person des Landes gerichtete Mitteilung nicht in entwürdigender Nähe mit ihren eigenen vertraulichen Aufzeichnungen gelesen werde; sie hat auch hinterher wieder drei Blätter durch ein kleines Zeichen als nicht zu beschreibende gekennzeichnet, in diesem unschuldigen Zeremoniell ganz das junge Mädchen der formbedachtesten Zeit. Die Schrift ist sorgfältig, steif, unendlich regelmäßig, eine rechte Klosterschrift – gewiß war Henriette eine aufmerksame und emsige Schülerin. Und so tief sitzt die Erziehung zu vorbildlicher Form, daß auch die Gewißheit eines nahen und vielleicht schrecklichen Todes kein Zittern hervorzubringen vermochte in diesen feinen und sauberen Linien. Liegt in all diesen kleinen Dingen nicht eine selbstverständliche Vornehmheit, die uns heute bewegen muß?«

Camillo Witte, der seit einer Viertelstunde einen solchen Schauer der Erwartung und der Anteilnahme fühlte, daß er wirklich ein wenig erblaßt war, nahm das Buch aus den Händen der Erzählerin entgegen und bemerkte, daß er nicht einmal die Nacherzählung des soeben Gehörten mit so ruhevoll ausgeglichener Schrift würde niederlegen können, wie die kleine Aristokratin ihren Abschied vom Leben niedergelegt hatte. Die Worte, die da standen, lauteten folgendermaßen:

 

»Sire!

Der Unterzeichner dieser Zeilen, Jean-Antoine Armand de Texier, hat von der Generalität der Königlichen und Katholischen Armee den Auftrag erhalten, mit den ihm zur Verfügung stehenden Bauern den Vormarsch des Republikaners Westermann gegen Châtillon aufzuhalten oder wenigstens zu verzögern. Er hat diesen Auftrag bis zum Versagen seiner eigenen Kräfte und der seiner Leute erfüllt und bereitet sich nun vor, durch einen letzten Kampf von seinem das Tal beherrschenden und daher strategisch wohl nutzbaren Hause dem Feinde noch so viel Schaden zuzufügen, als irgend möglich ist. Gewehre, Blei und Pulver sind noch vorhanden. Da er sich aber bewußt ist, daß dieser Kampf nur mit dem Tode sämtlicher Bewohner des Hauses La Grange enden kann und keiner übrigbleiben wird, der eine Kunde davon auf die Nachwelt bringen wird, so liegt es Herrn von Texier und seiner Familie am Herzen, dies Dokument der Treue in die Hände Eurer Majestät gelangen zu lassen. Es möge, wenn einmal die Namen der Befreier Frankreichs aus der Tyrannei des Pöbels der Geschichte überliefert werden, Eurer Majestät nicht unbekannt bleiben, daß auch die Mitglieder der Familie Texier freudig gestorben sind für die Wiederherstellung des Königreiches und der Kirche und mit dem letzten Bekenntnis auf ihren Lippen: Es lebe der König!«

 

Nun folgten sämtliche Unterschriften; außer der des Hausherrn die seiner Gattin Julie-Hortense de Texier, geborene des Homelles, dann das zarte Schnörkelchen Henriettens, zierlich hingemalt, und endlich Pater Julians schwungvolles Priesterhandzeichen. Das Ganze sah so ordentlich aus wie eine Bittschrift oder ein Traudokument und hätte eingerahmt in einer guten Stube prangen können.

»Es ist nicht zu leugnen,« sagte Camillo, indem er das Buch, das er lange betrachtet hatte, zurückgab, »diese Aristokraten sind ganze und selbstbewußte Menschen gewesen. Alle Berichte der Zeit stimmen darin überein. Kann das Festhalten an ererbtem Besitz und an Vorrechten, so wertvoll sie auch gewesen sein mögen, allein eine solche Festigkeit geben? Sicher kann auch ein Republikaner für seine Staatsidee sterben. Aber kann er es mit solcher Anmut und Hoheit? Es ist etwas Großes um die vollkommene Form, und sollte sie selbst hohl oder nur teilweise erfüllt sein. Sie kann nicht nur Wesen ersetzen, sie ist Wesen für sich, und als solches eine Macht. Unsere Zeit hat ihre Form noch nicht gefunden.«

»Sie nähert sich ihr, mein Freund, sie nähert sich ihr!« rief lebhaft die weißhaarige Bonvouloir. »Unsere Form heißt körperliche Unerschütterlichkeit, nicht seelische. Bedenken Sie, daß jene Marquisen, die so rührend zu sterben wußten, nicht imstande waren, ungeführt eine etwas steile Treppe hinunterzugehen, wie ein Bekenntnis aus der Zeit uns berichtet. Lesen Sie Frau von Lescures Schilderung ihrer Reitstunden! Niemand hat in jener Zeit einen Berg von einiger Schroffheit erstiegen, niemand einen Kampf mit den Mächten des Pols oder der Wüste versucht, selbst die Reiterspiele und gymnastischen Übungen der jungen Adligen waren von so zahmer Art, daß kleine Knaben sie heute nicht als erwähnenswert betrachten würden. Jene Zeit war körperlich ungeschickt. Die Form gab ihren Menschen einen zarten Panzer gegen die Todesfurcht, die unseren Menschen aus dem Bewußtsein ihrer körperlichen Überlegenheit heraus überhaupt fehlt. Machen Sie unsere Zeit nicht schlecht, so hoch Sie die alte schätzen mögen: die Form unserer Zeit ist Können

»Sie mögen recht haben,« erwiderte der Jüngling. »Aber verzeihen Sie, der Augenblick ist schlecht gewählt für Betrachtungen. Mein Herz ist ungeduldig und voll Bangigkeit wegen des Schicksals dieser Todgeweihten und der armen Bonvouloir, die nun mit dem bedeutungsvollen Buche in die Nacht hinausgeschickt wird, in ein Leben ohne Heimat. Denn ich nehme an, daß dies geschieht. Welch eine Aufgabe für so ein junges Wesen! Es wird ihr in diesem Augenblicke vielleicht nicht ganz klar gewesen sein, ob nicht der Tod an der Seite ihrer Freunde leichter und wünschenswerter sei, als dies Hinausgestoßenwerden in ein kriegverhetztes Land, und mit solch einem Vermächtnis auf der Seele!«

»So ist es!« erwiderte die Erzählerin mit einem leichten Neigen des Kopfes. Und sie fuhr fort:

Es hat in der Tat einiges Zureden gebraucht, bis Bonvouloir, die während der Beratung der Familie ihre Würde wiedergefunden hatte, sich entschließen konnte, sich retten zu lassen. Sie versicherte immer wieder, sie wolle mit ihren Freunden sterben, könne nicht leben ohne sie, fürchte sich vor dem Tode nicht mehr als irgend jemand sonst und könne Frau von Lescure nicht unter die Augen treten mit einer solchen Botschaft. Erst ein stärker betonter Befehl des Herrn von Texier, hier nicht durch Redensarten wertvolle Zeit zu vergeuden, und ein plötzlich in großer Nähe aufspringender Lärm von nahezu unmenschlichen Lauten gaben ihr den Antrieb, den es brauchte, sie aus dem Hause zu bringen. Sie nahm weinend Abschied, mußte noch von Henriettens weicher Hand vom Türpfosten gelöst werden, an den sie sich klammern wollte, und stolperte endlich mehr als sie ging, in die Nacht mit all ihren unbekannten Schrecknissen hinaus.

Über das Ende der Familie Texier ist kein Bericht erhalten, sicher ist nur, daß die zwei im Schlosse zurückgebliebenen Paare wirklich in dieser Nacht umkamen. Es ist anzunehmen, daß die Männer mit den letzten ihrer Leute einen Ausfall unternommen haben, der von seiten der Republikaner einen Sturm auf das hochgelegene Gebäude hervorrief, von dem sie nicht wissen konnten, wie stark es besetzt sei. Bauern haben nachträglich berichtet, daß die beiden Damen sich beim Laden der Gewehre und beim Aufsammeln niedergefallener Kugeln mutig beteiligt hätten; niemand aber wußte, ob sie im Kampfe gefallen oder ob sie nach Erstürmung des Schlößchens von den unerbittlichen Siegern an die Wand gestellt und so erschossen wurden, wie seit Westermanns Eingreifen alle Gefangenen. Es hat also niemand die letzten Blicke Julians und Henriettens gesehen, die vielleicht in schmerzlicher Trunkenheit aneinander gehangen haben, bis sie erloschen. Auch nach ihren und der Eltern Leichen hat niemand gesucht. La Grange wurde niedergebrannt bis auf die Grundmauern, und die Bauern der Umgebung, die in ihren gleichfalls zerstörten Hütten kein Verweilen fanden, verloren sich in den Wäldern, um nach Tagen bei irgend einem anderen Kampftrupp der Königlichen und Katholischen Armee wieder aufzutauchen.

Bonvouloir traf erst nach zwei Tagen in Châtillon ein, gerade recht, um seine eilige Räumung mitzuerleben. Sie war buchstäblich herumgeirrt, immer zurückgescheucht von den Brandfackeln, die Westermanns Marsch kennzeichneten, oder von Gefechtslärm aus buschigen Hinterhalten. Nun kam sie an, und der Verheerer beinahe wahrnehmbar ihr auf den Fersen. Sie suchte gar nicht erst nach dem Aufenthalte der Frau von Lescure, mischte sich traurig und ratlos unter die Scharen von Frauen und Kindern, die in langem, hungrigen Zuge der Armee folgten, und lebte erst ein wenig auf, als sie erkannte, daß die Richtung des Rückzuges Cholet als nächstes Ziel bezeichnete. Das Tagebuch, Henriettens heiliges Vermächtnis, um dessentwillen sie gerettet worden war, hatte sie in einer Waldhüterhütte, wo sie genächtigt hatte und durch einen Streiftrupp der Blauen zu schreckensvoller Flucht gezwungen worden war, schlechthin vergessen.


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