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Camillo Witte richtete sich in seinem Stuhle auf, um anzudeuten, daß er eine Unterbrechung wünsche, und die greise Bonvouloir, die seine Bewegung verstand und richtig deutete, schwieg gefällig eine beträchtliche Weile. Schließlich sagte sie: »Alles dieses würde Sie weniger ergreifen, wenn Sie nicht wüßten, daß es mich nahe betrifft. Die Beziehungen sind enger, die Vorstellung ist lebhafter, wenn wir die Leute kennen, die solche Erlebnisse wirklich erfahren oder in gerader Überlieferung ererbt haben, denn sonst müßte jede halbwegs gut geschriebene Geschichte Frankreichs das gleiche Gefühl bei Ihnen wecken. Aber beruhigen Sie sich! Sie sehen, ich sitze hier, Blut von Bonvouloirs Blute, Sie werden also die kleine Vendéerin noch auf manchem abenteuerlichen Wege begleiten müssen. Es freut mich, daß Sie ihr solche augenscheinliche Teilnahme schenken.«
»Nicht ihr allein,« entgegnete der junge Mann ernst. »Fühlen Sie nicht die nahen Beziehungen, in denen diese wunderbare Bauernerhebung zu gewissen Vorgängen und Gedanken der neuesten Zeit steht? Bald denkt man an Rußland, bald an die tapferen Kroaten, bald an unser eigenes eben einer Revolution entstiegenes Land. Ein ewiges Gesetz scheint zu wollen, daß jeder neue Staatsgedanke, jeder politische Fortschritt der Menschheit so blutig geboren werde, wie der einzelne Mensch, und so kläglich bei seinen ersten Schritten strauchle wie er. Deshalb verfolge ich atemlos nicht sowohl Bonvouloirs persönliches Erleben, sondern die Entwicklung einer Erhebung, die den reinsten, idealsten Typus einer solchen darstellt, den die Geschichte je gekannt hat. Denn die Führer sowohl wie die Bauern sind von starken und reinen Empfindungen getragen, opferwillig bis zur Selbstvernichtung, und wo sie ihre Fahne beflecken mußten, ist es sicher mehr Verhängnis als Schuld gewesen. Ich kenne den Ausgang und äußeren Verlauf des Krieges; mit seinen einzelnen Zuständen und Wandlungen befaßt sich der Geschichtschreiber nicht. Ich empfange von Ihnen Anregungen zu einer psychologischeren Betrachtung solcher Vorgänge, und wenn ich erregt zu horchen scheine, so horche ich ebenso auf das, was sich in mir bildet und ausspricht, wie auf Ihre Erzählung. Möchte diese Eröffnung Sie nicht beirren! Wenn Sie mir weiter wie bisher die Geschichte Ihrer Ahne erzählen, wird mir nebenher das Gefühl eines Volkes, das an seinen Überlieferungen hängt, verständlich.«
»Sie haben recht, wenn Sie sagen, daß dieser Aufstand das vollkommenste Abbild eines solchen überhaupt ist,« antwortete die alte Dame. »Denn er ist tatsächlich aus dem Volke zuerst hervorgegangen, obgleich er von den Edlen geplant war. Und das Volk hat ihn durchgehalten, als die Edlen die Waffen streckten. Auch daß seine Greuel Verhängnis waren und nicht Ausfluß einer grausamen Sinnesart, wird sich im ganzen bestätigen lassen. Und dennoch! was ich Ihnen weiter zu erzählen habe, wird Sie nicht in der Ansicht bestärken, daß auch in einem solchen Falle Volkswille Gotteswille sei! Schreckensvoller Zwang der Natur vielleicht, die verschwenderisch niedertritt, was sich ihrer Entwicklung in den Weg stellt, Ausfluß und Wesen einer höheren Vernunft jedoch nur soweit, als diese höhere Vernunft Kampf und Leben als gleichbedeutend eingesetzt hat. Jedoch – wir wollen nicht Betrachtungen anstellen, die immer ins Leere laufen müssen, da wir das Ziel der Dinge doch nun einmal nicht kennen.«
Und sie erzählte weiter.
Wäre Bonvouloirs Gewissen nicht durch den Verlust des Buches so schwer gepeinigt gewesen, nimmer hätte sie den stürmischen Heimatdrang ihres Herzens dem Schneckenschritte dieser Troßwanderung anzupassen vermocht. Sie wußte doch, daß Frau von Lescure mit den Herren des Obersten Rates an der Spitze dieser Armee reiten mußte, an deren Schwanz sie nun hing, und sie hätte sie eingeholt, sich an den Bügel ihres Pferdes gehängt und wäre mit ihr in Cholet eingezogen, hätte nicht eine kalte Angst vor dem ersten Wiedersehen mit der Edeldame sie zurückgehalten. Nicht daß sie ernstlich daran gedacht hätte, ihr Vergehen zu verheimlichen: dazu lastete es zu schwer auf ihr! Aber hinausschieben, den günstigen Augenblick abwarten, das gebot ihr die etwas hinterhältische Klugheit ihres Standes, und deshalb wandelte sie geduldig zwischen beladenen Frauen, hochbepackten Karren, Kindern und Vieh. Da eine Nachhut, wie man wußte, die Verfolgung abzuhalten bestimmt war, lagerte man oft und ausgiebig, tränkte die Ochsen, molk die Kühe, labte sich an Mitgebrachtem, oder unterwegs Erstandenem, denn noch waren die Gefilde, durch die man zog, unverheert und die Bewohner voll gebefrohen Mitleids.
Dies langsame Fortschreiten erwies sich aber als fruchtbar für Bonvouloir, indem es ihr Gelegenheit gab, Nachrichten aufzunehmen, die im verschwiegenen Kreise der hohen Offiziere sicher nicht so ausführlich besprochen worden wären. Zuerst tröstete sie die Bemerkung, daß die Vorgänge von La Grange schon in gewissen Umrissen bekannt waren und emsig besprochen wurden: so kam also wenigstens sie nicht als Bringerin einer Trauerbotschaft zu Frau von Lescure. Aber in hohem Maße mußte es sie erschrecken und beunruhigen, daß sich unter den Bauern viele befanden, die mit Herrn von Lescure gegen Nantes gezogen waren, und die keineswegs aussahen, als ob sie von Siegen trunken wären. Sie erfuhr auch bald, daß der Angriff vollständig gescheitert sei, trotzdem er mit großer strategischer Sicherheit von sieben Seiten zugleich geleitet und bis an die Mauern der eigentlichen Zitadelle vorgetragen worden sei. Die Ursache ward unter Tränen angegeben: Cathelineau, der in die Vorstadt eingedrungen und bereits, des Sieges gewiß, zum Dankgebet vor einer Mariensäule niedergekniet war, Cathelineau war durch einen Schuß aus einem Fenster getötet worden! Keine Macht der Erde hätte in diesem Augenblicke die Bauern zum Weiterkämpfen vermocht. Sie kümmerten sich nur noch um ihren toten Abgott, dessen Leiche sie unter Gesängen in sein Dorf brachten, und ließen ihre Führer mit den Leuten des Marais, die natürlich die aufgegebenen Positionen nicht wiedereinnehmen konnten, allein an der Arbeit. Ein eiliger Rückzug ward nötig. Und Lescure, der mit siegesfrohen Scharen nach Châtillon zurückzukehren, der im gleichen Rausch sicheren Gelingens Westermann zu stellen und zu vernichten gehofft hatte, war nun mit wenigen, entmutigten, von abergläubischen Vorstellungen entmannten Leuten heimgekehrt, um die Räumung der preisgegebenen Stadt zu decken.
Unsagbar erschütternd wirkte auf Bonvouloir die Gedrücktheit dieses Volkes, das zum ersten Male – nicht einen Mißerfolg erlebte, denn ein solcher war bisher mit einer Art fatalistischer Ergebung hingenommen worden – sondern in seinem Glauben an die Gunst und Mitwirkung von oben wankend geworden war. Cathelineaus Tod war ein Schlag aus Gottes eigener Hand, und die Gemüter der Erschrockenen suchten nach der Ursache eines so vernichtenden Zornes. Dazu kam das Schrecknis der Brände an allen Horizonten, die zerstörten Dörfer, die verwüsteten Felder. Woher noch Mut und Zuversicht schöpfen bei solchen Zeichen der Ungnade? Die Geistlichen, von denen eine nicht geringe Zahl dem Zuge beigesellt war, hatten viel zu tun, um mit den üblichen Hinweisen auf Prüfung und spätere Vergeltung die Herzen vor wirklicher Verzweiflung zu bewahren. Und doch war dieser Rückzug auf Cholet, der mit allem Sack und Pack nur etwas über zwei Tage dauerte, nur ein kaum erwähnenswertes Vorspiel, ein einziger leiser Akkord auf der großen Harfe des Schicksals, das seinen pathetischen Gesang nur eben begonnen hatte.
Es wurden auch Verwundete mitgeführt bei diesem Rückzuge, und Bonvouloir erfuhr, daß unter ihnen Herr van Duyren, von Louise begleitet, sich befinden mußte. Er hatte bei einem Gefechte mit einer Westermannschen Vorhut – vielleicht derselben, die La Grange zerstört hatte! – einen Schuß in den Oberarm erhalten, gleich darauf einen zweiten in die Schulter, der ihn ohnmächtig machte, und fuhr nun, da er keinen Zügel halten konnte, im Ochsenkarren dahin, auf Louise gestützt und trotzdem noch beträchtlich gepeinigt von der rüttelnden Bewegung des Gefährtes. Als Bonvouloir dies vernahm, kämpfte sie nur einen kurzen Kampf mit ihrer Scheu vor dem beschämenden Geständnisse ihrer Fahrlässigkeit; die Anhänglichkeit, der Dienstwille siegten, und sie verlangsamte ihren Schritt, bis der Krankenwagen sie eingeholt hatte.
Louise äußerte lebhafte Freude, die gleichwohl von Tränen durchschauert war, bei dem Anblick des vertrauten Mädchens. Sie wußte natürlich, daß ihre Eltern, daß die zarte Schwester weggerafft waren von dieser unfaßbar plötzlich einbrechenden Welle des Entsetzens, aber sie wollte doch von Bonvouloir noch alles hören, was diese in ihrer letzten, kaum noch klaren Besinnung festzuhalten vermocht hatte. Da vernahm sie denn auch von dem Tagebuch, von der rührenden Botschaft an den König, von Bonvouloirs Auftrag und Verlust, den diese nun mit versagender Stimme eingestand, und beklagte mit einem Kummer, der Bonvouloirs Herz zerriß, daß sie durch ein Mißgeschick der letzten Erinnerung an die Ihren beraubt bleiben sollte. Indes erhob sie kein Wort des Vorwurfs. Bonvouloir hatte das Buch in einem Augenblick der Angst, im einzigen Gedanken an die eigene Rettung vergessen – und wie weit war ihre, Louisens, Flucht aus La Grange von der Besinnungslosigkeit entfernt gewesen, die der Todesfurcht entspringt? Das Billigkeitsgefühl, das der stärkste Zug ihres Wesens war, ließ ihr das arme Mädchen verständlich, ja, verwandt erscheinen durch diese Schwäche, die sie ihr, der stets Unentwegten, nicht zugetraut hatte. Sie reichte Bonvouloir die Hand zum Kusse und sagte freundlich: »Es wird sich wiederfinden, das Buch! Sobald wir nach Châtillon zurückkönnen, wollen wir deinem Wege nachspüren. Wer sollte wohl unterdessen die halbverfallene Hütte im Walde aufsuchen?«
Als Bonvouloir mit beinahe den letzten in Cholet einzog, war die ganze kleine Stadt bereits von dem Gedränge der Flüchtlinge erfüllt. Es erwies sich, daß kaum genug Platz für die Offiziere, den Obersten Rat, die Damen und die Verwundeten aufgetrieben werden konnte, zu denen freilich auch ein Stab von Beamten des »wiederhergestellten Königtums«, ein »königlicher Gerichtshof« und die kleine Druckerei gerechnet werden mußte, welch letztere eben beschäftigt war, gerade in den Nebenräumen des Hauses Perreault ihre Druckpressen aufzubauen. Das Wohngemach von Bonvouloirs Eltern hatte sich in einen Ausschank von Apfelwein verwandelt, war von wegemüden und durstigen Kriegern erfüllt, und im bescheidenen Gärtchen hatte man Zelt an Zelt gereiht. Bonvouloir, erbittert und enttäuscht, überlegte, ob sie mit Louise in das vornehme Haus einziehen sollte, das den Lescures zur Unterkunft angeboten war, oder ob sie mit den Bauern das offene Lager vor den Toren der Stadt teilen wollte. Und siegreich blieb die Vorstellung des dunkelblauen Junihimmels über den Lagerfeuern, um die das Raunen der Kriegsmärchen, der aus dem Herzen des Volkes wild und berauschend erwachsenden Legenden spann. Drinnen im vornehmen Kreise schwieg man, wenn Bonvouloir ins Zimmer trat, während zufällig von Plänen oder Taten des Aufstandes die Rede war; draußen unter den Bauern liebte man den begeisterten Hörer, schätzte man den Mehrer und Weiterverbreiter der tausend Geschichten, die die dauerhafteste Ernte solch ungewöhnlicher Zeiten sind und immer sein werden.
Und wieviel von solchen unmittelbar entspringenden Heldengedichten bekam Bonvouloir zu hören in den drei oder vier Nächten dieses Aufenthaltes in Cholet! Welche Wunder hatten die Bauernheere begleitet, was für Taten waren verrichtet worden, als man die Stadt umzingelte, die stärkstbefestigte, die niebesiegte! und wie nahe, wie sicher schien der Sieg! Dann wurde mit dunklen Worten Cathelineaus Tod erörtert: irgend jemand mußte schwer gesündigt haben, sonst hätte das nicht geschehen können, noch dazu mitten im Gebet! Und jenes sehr natürliche menschliche Gefühl, das immer eine Schuld sucht, weil es ein Unglück nicht verstehen kann, fand auch alsbald, was es brauchte: Herr von Charette, die Bauern des Marais, unfromm, fremd in ihrem Wesen, rauh wie die Bewohner stürmischer Küsten zu sein pflegen, die waren es, die dem Heiligen das Spiel verdorben hatten. Gleich waren auch die Beispiele zur Hand, die ihre Schuld bekräftigen sollten: hatten sie nicht Säcke mitgeschleppt, in denen sie die Schätze der reichen Seefahrerstadt, die Dukaten der »Zimtkönige«, die Goldbarren der »Seidenhosen« mit nach Hause bringen wollten? Die Bauern des Boccage fühlten sich in ihren Gewissen nicht sonderlich beschwert, wenn sie bei dieser Geschichte an eigene gelegentliche Beute dachten: hatten sie doch nie vorsätzlich geplündert, sondern nur das genommen, was ihnen sozusagen auf den Weg geworfen wurde. Auch daß sie selbst ihre Führer im Stich gelassen hatten, als sie sich zum Leichenzuge für Cathelineau reihten, fiel nicht sonderlich ins Gewicht: man konnte doch die Leiche des Heiligen nicht den verhaßten Patrioten preisgeben – und warum waren die Leute des Marais denn nicht eiliger zur Hand gewesen? Und Herr von Charette selbst? War er ein Mann, wie Gott ihn wollte, um Seine Sache zu führen? Man wußte, er lebte in wilder Ehe mit einer Tochter seines Jagdgehilfen. Das war mehr Grund als es gebraucht hätte, um die vollkommenste Unternehmung zum Scheitern zu bringen.
Bonvouloir nahm all dies Geschwätz mit der unschuldigen Gier unerfahrener Menschen auf und lieferte es fein säuberlich im Hause der Lescure ab, wo sie, von Louise gerufen, täglich ihre Aufwartung machte. Sie war sehr enttäuscht, auf allerhand Widerspruch zu stoßen, mehr noch von seiten der Damen als der Herren. Frau von Lescure schalt sie, daß sie offenbare Gehässigkeiten aufnehme und weitertrage, denn die Leute des Marais hätten ihr Bestes getan und verdienten keinen Undank. Fräulein Louise, deren Gerechtigkeitsgefühl schwer verletzt war, brach in Worte von weit tieferer Bitterkeit aus: »Immer müssen,« so rief sie, »immer müssen es die ›anderen‹ sein, von denen uns Übles kommt, nie erwägen wir eigene Schuld oder Torheit! Wie Kinder, die sich auch nicht zur Ungeschicklichkeit, eine Tasse zerbrochen zu haben, bekennen wollen, so stehen erwachsene und doch nicht ganz unzurechnungsfähige Menschen auf und wälzen dem Bruder auf, was ihnen an Verantwortung zukäme, und waschen sich rein mit einem feigen ›Das war ich nicht!‹ Wie ich diese Gesinnung hasse! Der andere! Der andere hat den Streit angefangen, der andere hat den Krieg gewollt, der andere hat die Schlacht verloren, der andere hat die Greuel verübt, der andere hat gelogen, der andere ist das Ungeheuer, von dem die Erde befreit werden muß. Wir aber, wir sind rein, wir sind tapfer, wir sind zuverlässig, wir sind alles! Wie soll jemals Friede und Ruhe in dieser Welt herrschen bei solcher hündischen Selbstverherrlichung? Und warum bringt niemand diese Trompeter der Eigensucht zum Schweigen?«
»Nun, nun,« lächelte Herr van Duyren zu diesem Ausbruche von Louisens eigenstem Wesen, »du würdest wahrhaftig den Krieg aus der Welt schaffen, wenn du die Leute so bilden könntest wie du möchtest! Der liebe Gott hat es besser verstanden. Überzeugung – ob recht oder falsch! – aber feste Überzeugung von sich selbst und den eigenen Rechten, das ist es, was den Mann macht. Überzeugung vor allem vom Rechte der Sache, der er sich gewidmet hat! Zweifel an sich selbst? Kritik? das ist Schwäche, Versagen, Untergang. Gottlob, daß die Leute die Ursache dieses Mißerfolges nicht bei sich selbst, nicht bei den eigenen Führern suchen!«
Louise, die von den Ereignissen auf La Grange zu sehr erschüttert war, um ihrer eigenen Beweisführung unbedingt zu vertrauen, schwieg. Aber Bonvouloir, die nachgerade Louisens Gedankengänge kannte, ergänzte mit heimlicher Bosheit in ihrem Sinne: wenn wir wieder siegreich sind, mögen sie immerhin die Ursachen des Erfolges bei sich selbst, bei den eigenen Führern suchen! Sie hat nicht ganz so unrecht, Fräulein Sansculotte! Aber Herr van Duyren hat ebenso recht.
Bonvouloir gab sich beträchtliche Mühe, von den Bauern, die mit vor Nantes gewesen waren, etwas über ihren Vater zu erfahren. Sie wußte oder glaubte ihn in Cathelineaus Gefolgschaft. Sie erhielt die widersprechendsten Berichte, mußte ihn bald für gefallen halten, bald wieder für gerettet und an andere Führer verpflichtet, bis sie kummervoll das Fragen aufgab und sich an andere, sicherere Quellen zu halten beschloß. Leise, ganz leise ließ sie ab und zu eine andere Frage in ihre vielgestaltige Wißbegier eingleiten: wo mochte Herr von Larochejacquelein sein, was tat er, war er siegreich oder geschlagen? Sie erfuhr nur, daß er immer noch in Saumur sei. Und dann, ganz unversehens, ward sie in ergreifender Weise an ihn erinnert.
Sie hatte natürlich ihre alten Bekannten, Freunde und Gewerbegenossen ihres Vaters in Cholet aufgesucht, immer hoffend, daß sie von ihnen Kundschaft über den Fernen erhalten möchte. Es stand schlecht um die Baumwollweberei in dem Städtchen, nur wenige Stühle arbeiteten noch, denn in kriegszerrissenen Zeiten fragte niemand nach den schönen indischen Tüchern. Aber ein neuer Erwerb schien den Leuten aus der Anfertigung roter Halstücher zu erwachsen, die seit einigen Tagen von den Bauern lebhaft begehrt und, wie Bonvouloir mit klopfendem Herzen bemerkt hatte, fast durchweg getragen wurden. Das Gewebe war leicht und glänzend und täuschte, wenigstens solange es neu war, Seide vor. Sonderbar berührt fragte Bonvouloir nach der Bedeutung dieser neuen Mode und wurde vor einen Anschlag an der Rathaustüre geführt, den sie freilich selbst nur unvollkommen entziffern konnte; aber sie ließ ihn sich geduldig vorlesen. Der Anschlag war ein Erlaß der republikanischen Regierung, der einen beträchtlichen Preis auf die Gefangennahme oder Tötung des Herrn von Larochejacquelein setzte, seine Gestalt und Ausrüstung ausführlich beschrieb, und besonders auf das rote Halstuch als untrügliches Erkennungszeichen hinwies. Nun wollte die ganze Armee rote Halstücher tragen. Der alte Freund, der diesen Erlaß vorgelesen hatte, blickte erstaunt auf, als er seine junge Zuhörerin mit einem unaufhaltsam ausbrechenden Schluchzen davonlaufen sah.