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Wieder einmal hatte in abendlicher Vereinigung die kindliche Prophetin ausgerufen: »Voll ist das Maß der Verbrechen, zu Ende ist Gottes Geduld mit den Frevlern, der Sieg ist uns nahe!« Da schien es, als ob in der Tat die Erfüllung vor der Türe stehe. Herr von Domaigné hatte den Besuch zweier Männer von der Insel Jersey erhalten, die in Bauernkleidern durch das Land gewandert waren und in hohlen Stöcken verborgen Briefe aus England brachten. Einer dieser Briefe stammte von einem Lord Moira, der andere von einem Emigranten, beide versicherten, daß in England die wärmste Teilnahme rege sei am Werk der Vendée. Lord Moira gab in höflichen Worten das erfreuliche Versprechen, daß England Schiffe und Mannschaften zur Verfügung halten würde, sobald man nur klar sähe über die Ziele der royalistischen Bewegung. Heinrich warf zwar an dieser Stelle die schmollende Bemerkung ein, die Ziele seien doch wahrlich klar genug, den anderen dagegen machte diese sonderbare Klausel kein Kopfzerbrechen. Sie verfaßten augenblicklich eine Antwort, in der die besagten Ziele noch einmal auseinandergesetzt, der Plan auf Granville mitgeteilt und alle Einzelheiten eines Zusammenwirkens auf Tag und Stunde festgelegt wurden. Die Herren aus Jersey versprachen binnen zwei Tagen diese Briefe an Bord eines Englandfahrers zu bringen, der abfahrbereit in Dol oder sonst einer der kleinen Küstenstädte läge. Man gab eine angemessene Zeit zur Bemannung und Flottmachung der versprochenen Hilfsschiffe in Rechnung, und bestimmte demgemäß den 12. November als den Tag, an dem Granville gestürmt, erobert und sein Hafen den englischen Seglern geöffnet sein würde. Eine weiße Fahne vom Turm der Hafenbastion sollte schon von weitem verkündigen, daß alles bereit und in Ordnung sei. Unsagbare Freude herrschte nun in Fougères, mit neuer Kraft und unermüdlicher Sorgfalt wurde alles für die Einnahme der Seestadt vorbereitet, die nötigen Heimlichkeiten beobachtet und die Bauern den strengsten Übungen unterworfen. Das Wetter war, den ersten Novembertagen entsprechend, fürchterlich: Regen mit Schnee vermischt machte die Wege mühsam, viele Leute erkrankten an fiebrigen Erkältungen. Die Lebensmittel, zum Teil für den Marsch gegen Granville gespeichert, wurden teuer und knapp. Aber über alle Verdrießlichkeiten half die Gewißheit hinweg, daß nun endlich die wirksame Zusammenarbeit mit dem königlichen England angebahnt und der entscheidende Schlag vorbereitet sei. Niemand zweifelte am Gelingen.
Um es gleich zu sagen: nie haben die Vendéeführer erfahren, ob wirklich englische Schiffe jemals nach Granville entsendet wurden. Was aber geschah und was den Enttäuschten die Augen öffnete über den Wert der englischen Hilfe, war das Erlebnis, daß die königlich gesinnten Engländer, obgleich sie Jersey und das Meer zwischen der Insel und dem Festlande mit ihren Schiffen vollständig beherrschten, die Transporte der Republik durchließen, die die ganze Besatzung von Nantes, Brest und Cherbourg, um nur die größten zu nennen, auf diesem Wege nach Granville und in die nahegelegenen Küstenfestungen warf. Freilich, diese bittere Erkenntnis wurde nur noch von wenigen der überlebenden Führer der Vendée aufgenommen, denn als sie durchdrang, war von dem mächtigen Bauernheere, das am festgesetzten Tage Granville erreichte, nur noch ein sturmzerwehtes Gewirbel herbstlicher Blätter übrig, die gepeitscht wurden, man weiß nicht wohin, in Wälder und Felder des winterlich gewordenen Landes. Aber noch habe ich anderes zu erzählen, ehe ich zu diesen letzten Schrecknissen gelange.
Es kam ein Breve des Papstes an, das den Bischof von Agra, diesen Stolz des Vendéeheeres, einen Betrüger nannte. Niemals sei er in Indien gewesen, niemals habe er einen Bischofssitz innegehabt, sein Name sei der Kurie unbekannt. Das war ein großes Erschrecken und ein gerechter Zorn, und schnurstracks begaben sich die Herren des Rates in den Palast, den der Rätselhafte bewohnte. Er bekannte ohne Umschweife seine Schuld, die geringer war, als man gefürchtet hatte. Nein, er war kein Spion der Republik! Er war ein armer konstitutioneller Priester, der sich vor den anrückenden Heeren Cathelineaus in einen Keller geflüchtet hatte, weil er die unzarte Behandlung dieser Feinde alles Konstitutionellen fürchtete. Als man ihn da fand, gab er sich, um sein Leben zu retten, für einen Priester der alten Ordnung aus, und als man in ihn drang, seine Gemeinde zu nennen, gab er die entfernteste Stadt des Erdballs an, um Nachforschungen zu verhindern. Es war fast ohne sein Zutun geschehen, daß man ihn zum Bischof befördert hatte: das Gerücht hatte für ihn gewirkt, er hatte bloß nicht widersprochen. Als die Lescures ihn kennenlernten, hätte er schon zu viele Unrichtigkeiten aufklären, zu viele Gönner Lügen strafen müssen, um noch ein Geständnis zu wagen. Aber er hatte die Stellung, die ihm auf so wunderliche Weise zugefallen war, nie mißbraucht. Er hatte ganz und ehrlich zur Vendée gehalten, der er schließlich sein Leben verdankte, und er hatte schlicht und bescheiden, wie ein rechter Hirte des Volkes, gelebt. Das mußten ihm alle bezeugen.
Nun waren also die Führer der Vendée samt und sonders teilhaftig an einer Unwahrheit, die in einem so schicksalsträchtigen Augenblicke nun und nimmer aufgedeckt werden konnte. Zähneknirschend gestanden sich die Edlen diese bittere Wahrheit ein. Heinrich zwar und einige andere traten für ein offenes Bekenntnis ein, aber sie mußten sich der Beweisführung ergeben, daß gerade jetzt das Vertrauen der bretonischen Herren in die Lauterkeit und unantastbar unbescholtene Führung der Vendée nicht erschüttert werden durfte. Man beschloß also, den Bischof Bischof sein zu lassen, seinen Sitz in Agra gelten zu lassen, und den Brief der Papstes als ungeschrieben zu betrachten, solange, bis die Entscheidung auf den Schlachtfeldern gefallen sein würde. Immerhin wollte man den lauen Patron wohl bewachen lassen.
Der am ärgerlichsten von dieser Entdeckung betroffen war, war van Duyren. So war er, der unerbittlichste Gegner der Republik, getraut worden von einem Priester, der den Revolutionseid geschworen hatte! Er war blaß vor Zorn, als er Louisen diese Bescherung vorhielt, und sehr geneigt, an dem Betrüger eine persönliche und nicht eben milde Rache zu nehmen. Louise aber – o Schmach! – lachte ein bißchen über diesen Grimm. Sie wollte die schreckliche Tragweite des Unterschiedes zwischen den zweierlei Priestern nicht erkennen. »Sind wir denn,« so fragte sie hold, »nicht vor dem Altar des Höchsten gestanden, hat nicht ein geweihter Mann unsere Hände zusammengelegt? Denkst du, daß Gott uns für Frevler halten wird, daß er uns weniger als vor Ihm Vermählte betrachten wird, weil dieser Priester ein anderes Staatsbild anerkennt als wir? Was hat das eine mit dem anderen zu tun?« Natürlich brachte eine solche Logik den armen van Duyren erst recht aus dem Häuschen. »Gott?« erwiderte er. »Als ob es auf Gott ankäme! Vor den Menschen will ich ordnungsgemäß getraut sein, und dieser Schurke muß mir Mittel und Wege finden, die Sache ohne Aufsehen in Ordnung zu bringen.« Louise riet: »Schweige doch nur, so ist ja alles in Ordnung!« Aber van Duyren vermochte sich mit dem Gedanken nicht zufriedenzugeben, daß nun Heinrich und Bonvouloir ordnungsgemäß Mann und Weib, er und Louise aber nach den Gesetzen des Obersten Rates nichts weiter als in freier Liebe Verbundene seien. Da Louise ihn so erbittert sah, redete sie ihm zu, sich mit dem falschen Bischof über die Angelegenheit zu beraten.
Der falsche Bischof nahm die Sache nicht schwer. Er war sich bewußt gewesen, daß er mit dieser Vermählung seinen vielen Unredlichkeiten eine neue und folgenschwere hinzufügte, aber wie hätte er sich ihr entziehen sollen? Auch jetzt schien es ihm nicht ratsam, einen Mitwisser mehr zu schaffen, wenn er, wie van Duyren vorschlug, die Trauung durch einen Mönch in aller Stille wiederholen ließ. Die notarielle Seite der Sache lag übrigens fest und wohlverwahrt beim Obersten Rate, kein Makel konnte Louisen treffen, und so schien es wohl am angemessensten, die böse Geschichte ruhen zu lassen, bis der Krieg beendet sein würde. Dann sollte dem Betrüger, sofern er sich nur keinen Verrat an der Vendée zuschulden kommen ließ, eine Rückkehr zur alten Ordnung und ein stilles Amt in irgendeiner kleinen Gemeinde ermöglicht werden. So hatten die Herren des Rates klüglich beschlossen, und somit wäre ja dann auch diese Ehe bestätigt. »Sollten aber,« so fügte der Bischof etwas boshaft hinzu, »sollten aber, was Gott verhüten möge, die Feinde noch einmal die Oberhand gewinnen und die Republik noch nicht überwunden sein, nun, so wäre es ja für Herrn und Frau van Duyren nur von Vorteil, von einem konstitutionellen Priester getraut worden zu sein. Dieser Akt, gegen den Herr van Duyren sich so auflehne, sei gewissermaßen eine Versicherung nach beiden Seiten hin, und die Wege des Weltlaufs in diesem Augenblicke verworren genug, um eine solche Sicherung nicht verwerflich erscheinen zu lassen.« Mit einem sehr nachdenklichen Gesichte verließ van Duyren den weltkundigen Gesalbten. Es war in der Tat im Augenblick kein besserer Rat zu gewinnen.
Da die unter gleichen Umständen vermählte Schwester des Herrn von Bonchamps wenig Aufhebens von der Angelegenheit machte, gab sich van Duyren schließlich zufrieden, wenn er auch seitdem noch strenger beflissen war, sich von Bonvouloir fernzuhalten, gegen die er eine gewisse Eifersucht wegen ihrer rechtmäßiger beglaubigten Frauenwürde nicht ganz unterdrücken konnte. Louise, trotz ihrer guten Vorsätze, vermochte oft ihre Heiterkeit nicht zu verbergen, wenn sie ihn verstimmt sah wegen einer Sache, die ihr unwesentlich erschien bis zur Unwirklichkeit, ihm aber, dem Anbeter der Form, von so schwerer Wichtigkeit wie die Wahl eines Staatsgewandes oder die Anwendung eines Titels. Sie streichelte dann sein Haar und fragte ihn lächelnd, ob der konstitutionelle Segen etwa abschwächend auf seine oder ihre Liebe gewirkt habe, und was er wohl denke, auf welche Seite seiner ewigen Chronik der liebe Gott im Himmel wohl diese konfuse Eheangelegenheit gebucht haben möge? Van Duyren wehrte sich ungeduldig. »Du sprichst immer von Gott, Louise,« antwortete er einmal verdrießlich. »Was hat Gott damit zu tun? Gott ist – Gott ist – nun, Gott ist doch schließlich weiter nichts als das Sittlichkeitsgefühl unseres Standes, das uns leitet und dem wir gehorchen müssen. Oder wenigstens ist das die Vorstellung von Gott, die wir fassen können. Was wirklich da oben hinter den Wolken sitzt, ist mir gleichgültig, weil ich es nicht kenne, nicht einmal ahnen kann. Also höre auf, dich auf jene dunkle Instanz zu berufen!« Louise lächelte nicht mehr, streichelte aber weiter das dichte goldblonde Haar, das sie liebte, und küßte es schließlich mit einer heimlichen Traurigkeit. Ihr war Gott mehr als das Sittlichkeitsgefühl ihres Standes, von dem sie im ganzen nicht viel hielt.
Der Verdruß wurde überboten durch eine unsagbar niedrige Handlung des Prinzen Talmont, der einen Versuch machte, die Sache der Vendée preiszugeben und sich auf die Insel Jersey zu flüchten. Heinrich entdeckte rechtzeitig die schmähliche Fahnenflucht, eilte dem Unredlichen nach und brachte ihn mit Gewalt nach Fougères zurück. Er entschuldigte sich damit, daß er eine hochstehende Dame aus Avranches habe in Sicherheit bringen wollen, aber die Art seiner Vorbereitungen verriet seine wahre Absicht. Nichts drückt so schwer auf das Gemüt als getäuschtes Vertrauen, so wirkten denn auch diese Erlebnisse schädigend auf den Mut unserer Freunde. Frau von Lescure, die wieder genesen war und sich emsig an der Sorge um allerlei Vorbereitungen beteiligte, weinte einen Tag lang, als sie, ein wenig später als die übrigen, Talmonts Schnödigkeit erfuhr. Sein Name hätte Bürgschaft sein sollen für unbedingte Opferfreudigkeit und Hingabe an die Sache des Königs! Louise mußte sehr stark an das Wort vom Sittlichkeitsgefühl des Standes denken, schwieg aber, da sie ihren Gatten nun auf keine Weise mehr betrüben wollte.
Und wie verhielt sich Bonvouloir in diesem Wirbel von Aufregungen? Sie hätte volles Anrecht gehabt auf ein ganz kleines unschuldiges Gefühl befriedigter Rache gegen van Duyren, sie hätte es ihm gönnen dürfen, daß seine Ehe in den Augen eines solchen, wie er selbst einer war, nicht makellos dastand – aber der große Schwung ihres Gefühls senkte sich nicht in solche kleinmenschliche Niederungen. Sie verstand nur, daß Gott noch kurz vor der entscheidenden Schlacht die Spreu vom Weizen gesondert habe, und sie schöpfte neue Gewißheit aus dieser Einsicht. Dieser Prinz Talmont hatte doch manchen mißlungenen Angriff auf seinem weiten Gewissen, und es war gut, daß seine Geltung gesunken war. Der Bischof durfte nicht ohne weiteres verurteilt werden, er hatte vielleicht wirklich einen Irrtum gutmachen wollen, indem er sich zur Wiederherstellung des Königtums bekannte, immerhin war die Warnung nicht zur Unzeit gekommen, da er augenscheinlich ein Schwankender war und gegebenen Falles schaden konnte. Wie immer war Bonvouloir höchst zufrieden mit ihrem Gotte, der alles in bester Weise ordnete und seine Gnade in so unzweideutiger Weise über dem Werk der Adligen leuchten ließ. Und mit einer unglaublichen Kraft der Übertragung vermittelte sie diese ihre schöne Ruhe zuerst ihrem Gatten und durch ihn vielen anderen. Ihre Wärme, ihr Frohsinn, ihre süße Kinderlogik waren unbesiegbar und überzeugend gegen alles bessere Wissen Verständiger – deren es zum Glück nicht viele gab! Aber selbst diese Wenigen ergaben sich der Holdheit und Schlichtheit eines Gottvertrauens, das im Grunde das Lebenselement jedes gesunden Menschen ist, wenn er auch, beschämt von den Geistesblitzen der Aufklärung, es zu leugnen geneigt ist. Wie könnten die Menschen weiter leben in einer Welt voll Elend und Enttäuschung, wenn sie dies törichte Vertrauen in die Zweckmäßigkeit des Geschehens nicht hätten? Wenn sie nicht in den unbedeutendsten Dingen Spuren einer Weisheit zu finden glaubten, die nicht irren kann? Wenn Bonvouloir mit ihren leuchtenden Augen und ihren schöngezeichneten, reizvoll beweglichen Lippen die Geschehnisse des Krieges in ihrer offenbaren Nützlichkeit, ihrer unwiderleglichen Notwendigkeit und gnadenvollen Bestimmtheit aufzählte, dann war es schwer, sich nicht von ihr hinreißen zu lassen. Sie überzeugte von Gottes Güte, wie die schöne Natur überzeugt, wenn sie in sonniger Sommerlichkeit die Gedanken an Stürme und Wintersnot einlullt.