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2.

Bonvouloir trottete acht Stunden fast ununterbrochen auf schlechten Wegen, schlief dann ein wenig, brach nach Mitternacht wieder auf und erreichte am Morgen ihr Ziel. Man konnte ihr ansehen, daß sie durch Hecken geschlüpft und über Zäune geklettert war, und ihr braunes Gesichtchen war schmal von Hunger und Müdigkeit. Sie wurde natürlich an der Schwelle von Frau Allains Hause durch Nationalgardisten angehalten und untersucht. Da sie sich Bürgerin Perreault nannte, und da der Brief ihres Vaters mit äußerster Klugheit darauf angelegt war, Frau Allains gute Meinung für das Kind zu gewinnen, so ward Bonvouloir ohne große Verzögerung eingelassen. Sie erzählte, der Vater sei lange in geschäftlicher Sache unterwegs, und ließ auch klüglich einige absprechende Worte über ihren Aufenthalt bei den Aristokraten fallen; Frau Allain hörte verwandte Saiten klingen, stimmte ihrerseits in die Verachtung des hochmütigen Adels ein und erzählte alsobald, was für gefährliche Gäste ihre republikanische Zuverlässigkeit zu hüten habe. Es fügte sich wohl für die kleine Agentin, daß Frau von Lescures Mutter, die Marquise von Donnissan, eine anspruchsvolle Dame war, die alle Augenblicke nach irgendeiner Bedienung verlangte. Noch in die erste begrüßende Vorstellung hinein ertönte solch ein fordernder Ruf, und es war nur höflich, daß Bonvouloir sich der Pate zur Hilfe anbot. Nicht das erste, aber wohl das zweite Anerbieten dieser Art ward dankbar angenommen, und ehe zwei Stunden vergingen, war Bonvouloir schon dreimal in den Gemächern der Damen gewesen. Der Brief war viel früher in den Händen der Gefangenen, als Herr von Texier berechnet hatte.

Bonvouloir hatte bei ihrer Ankunft in Bressuire so verkommen und abgerissen ausgesehen, daß ihr die Lüge leicht ward, man habe sie in La Grange zu schwerer Arbeit mißbraucht und dann ungütig entlassen. Sie bekam nun einen kleinen Heiligenschein von ganz anderer Art als der war, den sie in La Grange getragen, und ließ sich diesen in unschuldiger Verruchtheit auch gefallen. Frau Allain verbreitete es rasch in allen Gassen, was für schlimme Erfahrungen ihr Patenkind unter den Aristokraten, den Blutsaugern, gemacht habe, und verschaffte Bonvouloir die mitleidige Teilnahme aller republikanisch Gerechten. Die kleine Teufelin errötete nicht. Nur als Frau Allain es sich nicht versagen konnte, einmal in Frau von Lescures Gegenwart eine hämische Bemerkung gegen die Blutsauger fallen zu lassen, stieg ihr das Blut in hellem Schwalle ins Gesicht, und sie machte, schnell hinter Frau Allain tretend, der erstaunten Edeldame flehende und pathetische Zeichen mit Augen und Armen. Frau von Lescure, die ja soeben den Brief Heinrichs erhalten hatte und die Sendung des jungen Mädchens kannte, lächelte ihr kaum merklich zu, sie habe das Spiel verstanden. Von da ab war Bonvouloir der vornehmen Frau so warm ergeben, wie ihren Freunden in La Grange.

Sehen Sie mich nicht zweifelnd an, mein junger Freund! Zu jener Zeit, als es noch Standesunterschiede gab, besaß die Vornehmheit das glückliche Vorrecht, selbst zu beglücken durch ein gütiges Wort, durch einen freundlichen Blick allein. Schade, daß so wenige sich der ungeheuren Bedeutung dieses Vorrechts bewußt waren! Frau von Lescure war es. Sie verstand es, wie selten eine Frau, Menschen an sich zu fesseln durch den freigebigen Gebrauch jenes natürlichen Reichtums, der stärker wirbt als alles Gold der Welt: durch Huld. Es hat klügere Menschen als Bonvouloir gegeben, die von dieser Frau hingerissen waren bis zur blinden Ergebenheit.

In den zwei oder drei Tagen nach Bonvouloirs Ankunft hatte sie Frau Allains Vertrauen so weit gewonnen, daß sie mit allerhand Aufträgen auf die Straße geschickt wurde, ›um ihre neue Heimat kennen zu lernen‹. Jedesmal wußte sie in unendlich vorsichtiger Weise Frau von Lescure davon in Kenntnis zu setzen und ihre Aufträge zu erbitten. Das erstemal gab die Dame ihr eine höchst gleichgültige Botschaft an den Türhüter irgendeines Hauses in der Stadt – etwa, man möge ihr ein Fußkissen oder sonstiges Gerät schicken, das Frau Allain nicht besaß – und dies Gerät ward auch geschickt und von Frau Allain und den Nationalgardisten fast in seine Atome zerlegt, bis es sich als unverdächtig erwies. Die völlige Harmlosigkeit dieser ersten Mission erleichterte weitere, und Bonvouloir konnte in diesen Tagen zwei oder drei heimliche Botschaften in die Hände solcher Leute befördern, die in Bressuire noch zur Sache des Königs standen, und auch ihre wohlgefaßten mündlichen oder schriftlichen Antworten zurückbringen.

Aber schon machte sich in der kleinen Stadt eine sonderbare Unruhe bemerkbar. An den verfallenen Mauern wurden eilfertige Besserungen vorgenommen, vor den Häusern der Patrizier sah man Wachen stehen, die Nationalgarde marschierte häufig und mit besonders drohendem Rhythmus ihrer dröhnenden Schritte durch alle Gassen, und mit großem Gepolter rasselten vier Kanonen durch die Hauptstraße. Eine längst erwartete Besatzung von vierhundert Marseillern traf plötzlich ein, und wenn diese auch vorläufig nur gekommen schienen, um mit Gesang und wehenden Fahnen buhlende Mädchen zu begleiten, so gaben sie der Stadt doch das Ansehen einer gewissen Kriegsbereitschaft. Die Einwohner standen an allen Türen in Gruppen beisammen und erzählten wilde Gerüchte von einem Vernichtungszuge anrückender Bauern. Furchtsame Leute vergruben ihre Kostbarkeiten, andere redeten von der Notwendigkeit, die Stadt zu verlassen und beklagten es bitter, daß der Stadtkommandant General Quétineau Maßregeln gegen die Flucht der Einwohner getroffen habe. Jedermann schien das Fürchterlichste zu erwarten. Bonvouloir wagte einmal den heiteren Einwand, sie habe in Cholet einen Bauernüberfall erlebt und nichts Schreckliches dabei gefunden, wurde aber mit äußerster Entrüstung zurechtgewiesen: die Bauern nicht für Bestien zu halten, grenzte an Verrat! Der Mann, der die Rebellen gegen Bressuire heranführte, genoß eines besonderen Rufes. Man nannte ihn nur ›das Ungeheuer von St. Aubin‹ und schilderte seine Siegkraft, die von Grauen und Schrecknissen unterstützt war, als übernatürlich. Seine Krieger trügen die Leichen ermordeter Kinder auf ihren Bajonetten, seine Gefangenen pflege er an die Türen brennender Scheunen zu nageln. Außerdem verfüge er über dreizehn Kanonen und mehr als zehntausend Mann, die alle aufs beste bewaffnet seien. Als die nüchterne Bonvouloir die Frage aufwarf, wo denn im ganzen Boccage zehntausend Gewehre und gar das dazugehörige Pulver herkommen sollten, wurde sie auf offenem Markte bespuckt und für eine heimliche Feindin der republikanischen Sache erklärt. Man mag die Grundsätze einer Partei vielleicht ungestraft kritisieren: ihren Aberglauben nicht teilen, ist das unverzeihlichste aller Verbrechen.

Von Herrn von Lescure sah Bonvouloir nicht viel. Er saß meist über einen Schreibtisch gebeugt und schien zu arbeiten, hatte auch kaum einen Blick für das eifrige Mädchen. Er sah nicht heldenmäßig aus in Bonvouloirs Augen: ein hagerer Mann, blaß und dunkel, mit einem feinen, aber nicht eindrucksvollen Gesichte. Er sprach selten, dann aber mit einem Tone spöttischer Überlegenheit, oder, noch schlimmer, des knappen Befehles. Bonvouloir hatte eine leise Angst vor ihm, und nie hätte sie in seiner Gegenwart ein Wort oder eine Anspielung auf das Wunder von St. Laurent wagen können: es hätte ihr die Kehle abgeschnürt. Solche Menschen lieben wir nicht; aber in den Tagen der Unruhe wuchs Herr von Lescure gewaltig in den Augen seiner ganzen Umgebung, und sogar auch in denen Bonvouloirs. Denn er sagte: »Allain, ich will General Quétineau sprechen,« und er sprach ihn wirklich, und mehr noch, er wurde an diesem Tag zweimal von hohen Offizieren der Republik besucht. Frau Allain ging plötzlich auf Zehenspitzen, und wenn sie von Herrn von Lescure sprach, so nannte sie ihn Herr Marquis. Herr Allain wollte wissen, daß das Ungeheuer von St. Aubin ein naher Verwandter des Herrn von Lescure sei, und daß letzterer versprochen habe, sich bei ihm für schonende Behandlung der Stadt zu verwenden; denn die entgeisterte Bürgerschaft schien auch nicht im geringsten an die Möglichkeit eines Sieges über die Rebellen zu denken. Nun, natürlich war auch dies Gerücht eine Torheit, und heute wissen wir, geschichtlich beglaubigt, den Inhalt jener Unterredungen zwischen Lescure und Quétineau. Sie hatten einst unter gleicher Fahne gekämpft, und Lescure hatte Hochachtung gelernt vor dem älteren, tief redlichen und pflichtstrengen Manne: nun nahte Lescure ihm versöhnlichen Sinnes mit Vorschlägen, wie die aufgeregte Bauernschaft durch kleine Zugeständnisse zu beruhigen und eine erträgliche Ordnung herzustellen wäre, ehe der offene Bürgerkrieg ausbräche und Land und Leute verdürbe. General Quétineau aber, der klare Befehle hatte, fand diese Vorschläge mit seinem Patrioteneid nicht vereinbar und erklärte, so schwer er selbst es beklage, er habe mit den Rebellen nicht zu verhandeln, sondern sie auszurotten. Die Kunde eines persönlich Beteiligten fügt noch hinzu, Herr von Lescure habe nach dieser Antwort den General mit bewegter Stimme gefragt, wie denn ein edler und in trefflichen Grundsätzen erzogener Mann sich einer Regierung habe verpflichten mögen, die durch Verleugnung alles Heiligen, durch Mord und unmenschliche Greuel die Macht an sich gerissen habe und weiterhin ausübe. Da habe der General geantwortet, Herr von Lescure sei vielleicht berechtigt, so von der Republik zu sprechen, er aber, Quétineau, könne dennoch nicht leugnen, daß er sie mit voller, heiliger Überzeugung für die einzig menschenwürdige Regierungsform halte. Man dürfe die Republik, wie übrigens auch das Christentum, nicht für die Taten einzelner Gewaltnaturen verantwortlich machen, auf die Idee allein komme es an, und diese sei – in beiden Fällen – unsterblich. Herr von Lescure, den der Vergleich der Jakobinerherrschaft mit dem Christentume ein wenig aus der Fassung gebracht habe, soll dem General hierauf vorgestellt haben, wie gering die Aussicht der mutlosen Stadtbesatzung auf Sieg sei, trotz der vierhundert Marseiller und trotz der notdürftig instand gesetzten Wallbefestigungen: und ob General Quétineau wisse, was im Falle einer Niederlage sein unausbleibliches Schicksal sein werde? »Das Kriegsgericht und die Guillotine,« antwortete der Befehlshaber ernst, »ich weiß es wohl. Der Konvent hat es an deutlichen Lehren in dieser Sache nicht fehlen lassen. Aber ich gebe gerne das Beispiel der Unterwerfung unter eine Staatsform, die ich für segensreich und menschenerhebend halte, und ich verzeihe gern ihren unreifen Vertretern Irrtümer, die ihrer mangelhaften Erziehung zuzuschreiben sind. Da ich Soldat bin, ist mir der Tod für das Vaterland auf irgendeine Weise gewiß – mag es denn auf diese sein! Auch die Guillotine entehrt mich weniger, als ein Disziplinfehler mich entehren würde.«

Herr von Lescure, in tiefer Ergriffenheit, soll nach Aussage jenes Zeugen noch lange mit Engelszungen geredet haben, um den edlen Mann zu bewegen, der Republik zu entsagen und sich in den Dienst der königlichen Sache zu stellen, der er ja mit weit älteren Eiden verbunden sei. Er habe ihn an die Glorie des Königreiches auf allen Schlachtfeldern der Welt gemahnt, habe Erinnerungen aufgerufen an huldvolle Worte, an Dank und Ehren, aus königlichem Munde, aus königlichen Händen empfangen, habe aber nichts damit erreicht, als ein wehmütiges Kopfschütteln. Quétineau hatte keine andere Erwiderung als diese: wer den republikanischen Gedanken einmal erfaßt habe, könne unmöglich wieder davon lassen, was immer auch an persönlichem Ungemach sich für ihn daraus ergeben möge. Es sei mit einem Worte eine Erkenntnis, und eine solche erlebe man, sie sei durch Überredung nicht ungeschehen zu machen.


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