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6.

Bei so viel und oft tiefbegründetem Widerspruche hätte Louisens Kampfgeist doch vielleicht endlich erschlaffen müssen, wenn er nicht an verborgener Quelle häufig hätte Stärkung und neues Leben schöpfen dürfen. Diese Grotte der Verjüngung war das schlichte Haus eines kleinen Advokaten in Châtillon, dessen Gattin, Tochter eines reichen Müllers, im gleichen Kloster wie Louise Unterricht und Firmung empfangen hatte. Sie hatte sich in schwärmerischer Bewunderung an das schöne und kluge Aristokratenkind herangedrängt, und Louise hatte ihr gutmütig so viel Beachtung geschenkt, als das artige, fröhliche und nicht unbegabte Mädchen verdiente. Später hatte Louise sie mit gelegentlichen Besuchen beglückt, wenn sie nach Châtillon fuhr oder ritt, um ihre Stickgarne und Zeichenstifte zu erneuern. Als die kleine Müllerstochter Madame Livarot geworden war, ergab es sich einmal, daß Herr von Texier seiner Tochter einen Brief mitgab, vor dessen Beantwortung er gern den Rat eines Rechtskundigen eingeholt hätte, und so lernte Louise den Mann kennen, der seine Dienste gern und gewissenhaft zur Verfügung hielt, so oft der Vornehme ihn brauchte. Es war ein schmächtiger, kränklich aussehender Mann, nicht ganz so groß wie Louise selbst, und durch seine gebückte Haltung noch mehr gezwungen, von unten her in ihre strahlenden und herrischen Augen zu blicken. Er war wortkarg, aber wenn er sprach, so überraschte die wohlgeformte Klarheit seiner Sätze, die von einem Aufleuchten des sonst unbedeutenden Gesichtes begleitet war, das ihre Überzeugungskraft noch erhöhte. Louise erkannte bald eine überlegene Klugheit, und unversehens fing sie an, als die wirren Jahre 1789 und 1790 kamen, seine Ansicht über die erschreckenden Dinge zu hören, die die Welt in Aufruhr versetzten. Sie erfuhr erstaunt, daß diese Ansicht in allen Dingen von der ihrer Angehörigen abwich, daß sie aber in Einklang stand mit manchem der gefährlich schönen Bücher, an denen so mancher Gebildete sich zu berauschen liebte, und sie fing an, dieser Ansicht Bedeutung zuzulegen. Sie dachte nach und ward mehr und mehr gefangen von Gedanken voll unendlicher Einfachheit und Größe, die sie früher auch in jenen vielbewunderten Büchern nicht gefunden. Livarot bewies ihr in kurzen erregten Gesprächen, daß die Gedanken der Republik die reinste und vollkommenste Erfüllung des Christentumes seien, und daß das einzige Wort: »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst!« genügen würde, um alle Standesunterschiede aufzuheben, wenn es recht verstanden würde. War nun Louisens Gemüt von Natur schon zu scharfwägender Gerechtigkeit geneigt, so entflammte dieser Hinweis es schnell zu einem solchen Brande überschwenglicher Menschenliebe, daß es nunmehr die größte Anstrengung kostete, das himmlische Feuer so weit einzudämmen, als der einfachste Erhaltungstrieb forderte. Sie fand in gegebener Zeit ihr Gleichgewicht wieder, aber sie blieb mit ihrem ganzen Herzen der neuen Lehre verfallen, und ihre Besuche in Châtillon, die nicht häufig sein konnten, weil auch so kleine Reisen damals nicht ohne Not unternommen wurden, erschienen ihr wie Wallfahrten zu einem Tempel reiner Göttlichkeit.

Die Zeit sorgte indes dafür, daß Louisens schöner Glaube die schwersten Anfechtungen erlitt: die Wirklichkeit stand in allzu grellem Widerspruch zu den Lehren der Menschheitsbeglückung durch Gleichheit und Brüderlichkeit, und wenn es auch scheinen mochte, daß dieser Widerspruch allein dem Eigensinn und Eigennutz der einst herrschenden Stände zur Last gelegt werden müsse, so war Louise doch zu klug, um nicht zu erkennen, was für furchtbare Mächte auf der anderen Seite am Werke waren, um ein hohes und göttliches Ziel zu verdunkeln. Mehr als einmal stand sie ratlos und mit Tränen in den Augen vor Livarot, und es tröstete sie wenig, daß sie ihn ebenso empört, ebenso verzweifelt fand, wie sie selbst es war: aber sie fühlte, daß es ihm mit der Liebe zu Wahrheit und Gerechtigkeit so ernst war wie ihr, und sie sah in ihm einen Weggenossen auf der dornenvollen Bahn der Erkenntnis. Mehr sah sie nicht in ihm. Der unschöne, ganz plebejisch aussehende Mann konnte keine andere Bedeutung für sie gewinnen.

Madame Livarot war hochbeglückt über die verlängerten Besuche der adligen Dame. »Ich habe dich immer bewundert,« sagte sie einmal zu ihrem Manne. »Seit Fräulein Texier so eingehend mit dir spricht, bewundere ich dich noch mehr. Denn es ist offensichtlich, daß sie dein Urteil höher wertet als das ihrer Standesgenossen.« Livarot erwiderte lächelnd: »Ich bin nicht eitel genug, um das zu glauben. Fräulein Texier ist einfach ein denkendes Mädchen, das eine wichtige Sache gern von allen Seiten betrachtet. Es mag ihr wertvoll sein, auch einmal die Stimme der feindlichen Partei zu hören und davon zu lernen. Sie tut nur, was jeder tun müßte. Auch ich lerne von ihr, denn sie weiß den Standpunkt ihrer Kaste sehr gut zu vertreten.« Und langsam, in Gedanken versinkend, fügte er hinzu: »Ich verstehe vollkommen den Widerstand dieses Standes gegen die Revolution. Denn was sie zu geben haben, ist eine festgefügte Form, gewachsen in Jahrhunderten und so dem Körper ihrer Zeit angepaßt, daß für alles Menschliche darin Raum ist; jede. Schwäche, jede Unzulänglichkeit ist glatt eingeordnet, ohne das Gefüge im geringsten zu sprengen. Wir aber, die Republik, was haben wir zu bieten? Eine ungeborene Form, frühreif in die Welt gesprungen, und der man nicht ansieht, ob nicht ein Ungeheuer sich daraus entwickelt. Wie ein Kleid, auf Zuwachs geschnitten, schlottert sie um die magere Moral der Menschlichkeit, die erst langsam, langsam hineinwachsen muß. Alles was wir zu unseren Gunsten sagen können, ist, daß ein zu weites Kleid gesünder ist als ein zu enges, und daß Glieder, die in der alten Form verkümmern mußten, sich in der neuen kräftig entwickeln werden.« Frau Livarot verstand kein Wort von dieser Rede, aber sie fühlte sich gehoben durch die Tatsache, daß ihr Gatte mit ihr ebenso tiefsinnig sprach wie mit Fräulein von Texier.

Als die Nachricht von der Hinrichtung des Königs ins Boccage drang, stand Louise bleich und verweint vor Livarot. Sie forderte eine Rechtfertigung dieser Tat, die eine Schändung des großen Gedankens war, unverzeihlich in ihrer Nutzlosigkeit und nur geeignet, Gegner aufzurufen. Livarot war selbst aufs äußerste bekümmert, denn Gewalt in jeder Form schien ihm verwerflich und entfernt von der Weisheit, die allein das Glück eines Staates begründen sollte. Aber er fand ein Trostwort. »Bedenken Sie, Fräulein Louise,« sagte er traurig, »daß, wo eine Fessel gelöst wird, immer die Brutalsten und Grausamsten es sein werden, die zuerst ins Freie schlüpfen und die Türe zuhalten für die Bedächtigeren, die sie nun ihrer Tyrannei unterwerfen zu können glauben. Denn es kann mit der Freiheit nicht zugleich das Verständnis für ihren Gebrauch gegeben werden, das sich erst in langsamer Schule erwirbt. Aber soll uns dies abhalten, überhaupt nach Freiheit zu streben? Sollen wir ewig Sklaven erziehen, bloß weil unter den ersten Freigelassenen ein paar Bestien sich befinden? Urteilen Sie selbst, Fräulein Texier!«

Louise erwiderte: »Mir ist unverständlich, was Sie unter Sklaverei verstehen. Es mag auch unter den Adligen böse Herzen gegeben haben, aber im allgemeinen waren wir wohlmeinende Väter unserer Bauern, die nicht fähig sind, für sich selbst zu sorgen. Die Freiheit wird diese kindlichen Seelen kaum glücklicher machen, denn mit der Freiheit kommt Sorge, kommt Verantwortung.«

»Ganz richtig, Fräulein Texier,« erwiderte Livarot ernst. »Glücklich ist ohne Zweifel das Kind. Aber die Natur hat Wachstum in uns gelegt und erlaubt nicht, daß wir Kinder bleiben. Der Drang nach Freiheit ist das Gefühl unseres inneren Wachstums. Wir können ihm nicht entgegenwirken.« Darauf wußte Louise keine Erwiderung.


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