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3.

Es folgten nun etwa achtzehn Tage, während welcher die Vendée sich als Herrin des Landes fühlen und gebärden durfte. Von Laval bis Fougères waren alle Städte von ihnen besetzt, in Fougères sammelte sich, wie vordem in Châtillon, der Oberste Rat, es wurde ein Gouverneur des »eroberten Gebietes« eingesetzt, der im Namen Ludwig XVII. regierte, Geld ausgab und nach den vor 1789 geltenden Gesetzen Steuern ausschrieb: was eine Belastung der Armen zugunsten der Adligen bedeutete. Die Armee bereitete sich zum letzten großen Schlage gegen Granville vor, ließ Kirchen und Schlösser ihrer Dächer berauben, um Blei zu gewinnen, legte überall Pulvermühlen an, und brachte alles Erreichbare an Lebensmitteln zusammen, ohne der rasch wachsenden Erbitterung im geringsten Rechnung zu tragen. Niemand vielleicht als Louise empfand den Haß, den diese Gäste, die sich in Eroberer verwandelt hatten, auslösen mußten; niemand verstand wie sie die Unvermeidlichkeit dieses Hasses sowohl wie seiner Ursache, niemand verfolgte mit so wehem Herzen die Entwicklung des Verhängnisses auf beiden Seiten. Jedoch sie sprach nicht mehr darüber. Seit dem Tage von Château-Gontard war sie der Sache ihres Standes in einer neuen Weise verbunden.

Sie war mit Bonvouloir im Gefolge der Frau von Lescure geblieben bis gegen Ernée hin, hatte sich dann aber mit der Freundin zögernd in einem kleinen Landhause unweit der Straße verhalten, um das Herankommen der Helden abzuwarten, um rascher in den Armen der Geliebten zu liegen. Sie waren noch in der jubelnden Feststimmung, die dem Siege gefolgt war, und da sie beide Männer unverwundet und in bester Laune wieder sahen, fühlten sie ihre Köpfe wirbeln vor Glück. Der Abend sank, sie baten um Nachtquartier, und da man sie für zwei Ehepaare hielt, wies man ihnen zwei geräumige Stuben an, die besten vielleicht im ganzen Hause. Jede der Stuben enthielt ein großes Himmelbett, und es wurde kurzweg ausgemacht, daß das eine davon den beiden Männern, das andere Louise und Bonvouloir bestimmt sein sollte. Dann bemühte sich Bonvouloir um die Mahlzeit. Es fand sich wenig Eßbares, aber eine ziemliche Menge guten Weines, mit dem man sich allenfalls über den Hunger wegtäuschen konnte; und die jungen Menschen setzten sich in fröhlicher Stimmung an einen Tisch, auf dem außer Gläsern und Flaschen nur ein hartes Brot und etwas Käse prangte. Unterdessen füllte sich das Haus, füllten sich Ställe und Scheuern mit Wandernden, bis der Besitzer selbst samt seiner Familie sich in einen leeren Speicherraum gedrängt sah, wo sich kaum genügend Schlafplätze herstellen ließen. Dennoch machte er keine Anstalt, die beiden jungen Paare der ihnen einmal zugesprochenen Zimmer zu berauben, wofür van Duyren und Larochejacquelein ihm lebhaften Dank und Anerkennung aussprachen. Sie fühlten sich in der Tat fürstlich behaust, freuten sich der schönen, traulich aussehenden Gemächer und wurden immer vergnügter, indem sie, einer dem anderen, sich Raum und Nutznießung der einzelnen Gegenstände zuschrieben und begrenzten, und so fast wie Kinder eine eingebildete Welt für sich erbauten. Der Wein hatte sie leicht erregt, die Frauen sahen schön aus mit ihren hellen Augen und warmen Wangen, und bald endeten sie damit, sich paarweise hinter Fenstergardinen oder in einer mattbeleuchteten Ecke zu schnäbeln. Louise, die so sehr um ihren Verlobten gebangt hatte, schien ausgelassener als Bonvouloir, küßlustiger als sie, und bat dazwischen mit reizender Büßermiene ihren Kleinmut und ihren Unglauben ab. Van Duyrens Blut begann gefährlich zu kreisen. Bonvouloir und Heinrich bemerkten die steigende Verliebtheit der beiden, und da sie selbst über jedes vernünftige Denken hinaus waren, so verständigten sie sich blinzelnd zu einem Schelmenstreiche. Sie benützten einen Augenblick, wo das andere Paar sich flüsternd unterhielt, um in das zweite Zimmer zu huschen und die Türe hinter sich abzuriegeln. Louise und van Duyren dachten zuerst nichts Arges. Aber als sie sich müde geschwatzt und gekost hatten, und als nun Louise zur Ruhe gehen wollte, pochte sie vergeblich an die Türe der Freundin. Es erfolgte keine Antwort, nur ein leises Kichern drang durch die verschlossene Türe. Van Duyren trommelte Sturm und rief böse Worte. Er hätte die Türe eingeschlagen, wenn nicht plötzlich Louise, sehr ernüchtert, ab er sonderbar verklärt und voll einer ernsten Freude, seine Hand ergriffen und festgehalten hätte. Er sah sie an, sprachlos vor Erstaunen. Ihr Blick wurde immer ernster, immer dringender und bittender, aber auch immer weicher und verschleierter. Van Duyren sah und wußte nichts mehr als diese Augen, die sich an seinem Blicke festzusaugen schienen. Er neigte sich ihnen entgegen, schwindelnd vor Glück, und er fühlte mit unsagbarer Süßigkeit, wie diese Augen langsam versagten und sich schlossen.

Das Rüböllämpchen, das die ganze Nacht unbeachtet auf dem Tische gebrannt hatte, zeigte ihm am Morgen Louisens schlafendes, aber glücklich lächelndes Gesicht. Er sprang auf, riß das Fenster auf, sah den grauen Morgen auf dem herbstlichen Lande liegen, und unten auf der breiten Straße den Zug der Flüchtlinge schon wieder in seiner steten, langsamen Bewegung. Eine leichte Empörung regte sich in ihm, die gespenstische Wegrandhochzeit schien ihm unwürdig seiner schönen und vornehmen Braut, unwürdig seiner selbst, und er bereitete sich aus eine reuevolle Erklärung und Entschuldigung vor. Zu seinem Erstaunen kam er nicht dazu, sie vorzubringen. Louise war die Natürlichkeit selbst und benahm sich beim Erwachen, als ob sie jahrelang seine Frau gewesen wäre. Als nach ein er Stunde Heinrich und Bonvouloir mit sehr verlegener Miene ins Zimmer guckten, wurde sie nicht einmal rot. Nur dann, als sie reisefertig waren und das Haus verlassen wollten, blieb Louise auf der Schwelle des Zimmers stehen und schaute mit einem langen, unsagbar freudigen Blicke noch einmal um sich. Van Duyren nahm gerührt ihre Hand und fragte leise: »Nimmst du Abschied von unserem Brautgemache?« Worauf sie die sonderbare Antwort gab: »Mir ist, ich hätte dieses Zimmer schon einmal im Traume gesehen.«

Es zeugte für van Duyrens streng rechtliche Sinnesart, daß er während des Weiterreitens und schon in der ersten Stunde seiner Geliebten die Bitte vortrug, sich in Ernée mit ihm trauen zu lassen. Er stellte sich eine Hochzeitsfeier mit jedem erforderlichen Prunke vor, der Bischof von Agra sollte den Segen sprechen, Fahnen und Glockengeläute die Stadt beleben – und war etwas enttäuscht, als Louise nur mit dem Ausdrucke förmlicher Höflichkeit und ohne Wärme zustimmte. Er fragte sie, was ihr an dem Plane mißfallen könne, und sie antwortete liebenswürdig: »Aber nichts! Durchaus nichts! Nur – warum diese Eile?« – »Warum?« fragte er betroffen zurück; ihm schien, gerade diese Eile hätte sie ihm als Verdienst anrechnen müssen. Er sah sie von der Seite an, sah einen herben und stolzen Zug um ihren Mund und schwieg. »Vielleicht,« dachte er, »ist es besser zu sehen, wie dieses Ernée uns aufnimmt.« Das Glück der Waffen hatte sich in den letzten Wochen so launenhaft erwiesen, dem glorreichen Siege mochte ein Rückschlag folgen, es lag wohl in Louisens Art, vom kommenden Tage nichts zu erwarten. So gab er sich vorläufig zufrieden.

Heinrich und Bonvouloir hielten sich vorsichtig in einigem Abstand. Sie waren so wenig im Zweifel über den Erfolg ihres grausamen Übermutes, daß sie nicht die leiseste Frage zu tun wagten, keine Anspielung irgendwelcher Art. Als die kurze Mittagsrast sie zusammenführte, vermieden die Männer, einander ins Gesicht zu sehen. Louisens unbefangene Ruhe brach schließlich den Bann. Heinrich, der die überlegene Frau niemals gut leiden mochte, begann sie zu achten, war ihr sogar ein wenig dankbar, weil sie das ruchlose Spiel der Nacht durch Schweigen auszulöschen wußte. Als er mit Bonvouloir allein war, sprach er dies aus. Bonvouloir erwiderte: »So kenne ich sie! Sie hat auch mit keinem Worte je angedeutet, daß ich sie einmal tief gekränkt habe, als ich noch ihre Dienerin war.« Heinrich blieb nachdenklich, errötete dann plötzlich und rief: »Ein verdammter Stolz! Könntest du so sein, Bonvouloir?« Sie sah ihn an, ihre dunklen Augen blitzten: »Nein,« sagte sie unbedenklich. »Ich bin rachsüchtig. Ich kann hassen. – Aber siehst du?« fügte sie mit plötzlicher Eingebung hinzu, »weil sie selbst unverletzlich ist, so begreift sie auch den Krieg nicht. Sie hat kein Gefühl für Ehre.«

Am Nachmittag kam Ernée in Sicht, westliche Hügel warfen blaue Schatten auf das kleine, tiefgebettete Städtchen. Ein Kirchturm ragte auf, seine blanke Spitze empfing noch etwas Licht. Van Duyren schob sein Pferd dicht an das Louisens heran und sagte leise, nach vorne deutend: »Siehst du den Kirchturm, Louise?« Sie verstand ihn, wurde ein wenig rot und antwortete herb: »Du bist mir nichts schuldig. Was geschehen ist, wäre nicht geschehen, wenn ich es nicht gewollt hätte. Es hat mich glücklich gemacht. Laß mir das Bewußtsein des freien Geschenkes! Ich muß dir in anderer Weise so viel versagen, wo mein Wesen nicht mit dem deinen geht, daß du wohl recht hattest, an meiner Liebe zu zweifeln. Nun weißt du, daß ich dein bin.« Er schwieg, überwältigt von einer Gedankenreihe, in die er sich nicht finden konnte. Ungeheuerlich erschien ihm, daß sie lieben konnte bis zu dem Punkte, den sie ihm bewiesen hatte, und doch seinem Lebensziele so fremd sein. Nun fehlte ihm jede Erwiderung.

Als sie Ernée erreichten, trafen sie die anderen Damen schon ordentlich eingewohnt, und auch ihnen wurde angemessene Behausung in Bürgerhäusern zugewiesen. Louise und Bonvouloir begaben sich augenblicklich zu Frau von Lescure. Sie fanden sie gebeugt, der Instand ihres Gatten hatte entsetzliche Formen angenommen. In Ernée fand sich ein Chirurg, der hatte sich um ihn bemüht, ihn bitter gequält, aber nichts weiter tun können, als ein paar Knochensplitter entfernen. Der Schläfenknochen und das Ohr eiterten weiter, dafür gab es keinen Balsam. So war es natürlich, daß van Duyren jeden Gedanken an Hochzeit fallen ließ.

In dem Städtchen zeigte sich unmittelbar nach Einzug der Vendée eine solche Knappheit an Lebensmitteln, daß kaum ein Drittel der Menschen die notdürftigste Sättigung empfingen. Die Offiziere ließen die Häuser durchsuchen, man fand zwar versteckte Vorräte, aber in so geringen Mengen, daß sie für den allgemeinen Mangel nicht ins Gewicht fielen. Gleichwohl wurden schwere Strafen verhängt, worüber nicht nur Louise, sondern auch der bessere Teil der Offiziere ihre Entrüstung aussprachen. Es war nicht mehr gutzumachen, und der dumpfe Haß der Einwohner gegen diese Freiheitsbringer zeigte sich in tausenderlei Form. Der Aufenthalt in Ernée wurde so viel als möglich gekürzt, man brach auf, noch ehe die Meldungen der Vorhut über die Lage in Fougères eingetroffen waren.

An diesem Tage regnete es heftig, die Luft war durchdringend kalt. Der Tragstuhl mit dem fast bewußtlosen Lescure mußte, um vor diesem Regen und dieser Kälte einigermaßen geschützt zu sein, auf einen Planwagen gehoben werden, den Agathe selbst mit großer Vorsicht und Langsamkeit kutschierte. Frau von Lescure, eiskalt bis in die Knochen, ritt neben dem Wagen, der Leinenbaldachin barg ihr das Antlitz des Kranken, dessen mattes Stöhnen gleichwohl zu ihr aufstieg. Sie sprach während des Rittes zu ihm, obgleich er nicht antworten konnte. Alles was ihr erfreulich und von guter Vorbedeutung schien, erzählte sie ihm mit lauter heiterer Stimme und glaubte aus schwachen Schwingungsunterschieden im Klang seiner Seufzer schließen zu dürfen, daß er sie verstehe. Sie waren in einen Trupp von Landleuten geraten, die im Marschieren sangen, um im wiegenden Rhythmus ihre Müdigkeit einzulullen; dabei ließen sie Perle um Perle ihrer Rosenkränze abrollen. Frau von Lescure schilderte dem Verhüllten das ergreifende Bild. »Es ist wie eine Prozession zur Marienfeier, ich wollte, du könntest sie sehen! Sie sehen alle blaß und verhungert aus, aber ihre Mienen sind hell von der Freude des Sieges, und die Frauen wiegen sich ordentlich ein bißchen in den Hüften, als ob sie nicht schon tagelang so gewandert wären. Sie sagen, sie fühlen die Kälte des nassen Erdbodens nicht so heftig an ihren nackten Füßen, wenn sie im Takt gehen. Wie schön ihre Stimmen sind! Es muß dir wohltun, sie zu hören.«

Es kamen Karren vorüber, auf denen Kranke, alte Frauen mit ganz kleinen Kindern im Arm, Krüppel und Schwangere in gedrängten Gruppen saßen. Die rüstigeren Angehörigen der Fahrenden, bewaffnete Männer und hochgeschürzte Frauen, liefen nebenher und legten sich in die Speichen der hohen Räder, wenn der Weg steil wurde. Diesen Gruppen rief die reitende Herrin fröhliche Glückwünsche über das gute Aussehen der Kinder zu, verhieß den Leidenden Ruhe und Erholung in Fougères, wo man besserer Aufnahme gewiß war als in Ernée, und lobte die Hilfreichen um ihrer Kraft und Geduld willen. Eine ganze Schar junger Bauernmädchen in Männertracht ritt auf Ackergäulen daher, sie donnerten im Galopp vorüber, erkannten Frau von Lescure, grüßten sie jubelnd und riefen: »Immer voran, die Mädchen aus Poitou!« – »Ich werde euch eine Fahne stiften!« rief Frau von Lescure hinter ihnen her, und dachte beseligt, daß ihr armer Mann im Wagen vielleicht ein bißchen gelächelt habe beim Klange dieser jugendlichen Fanfare.

Ein Zug Nonnen überholte den langsam fahrenden Wagen. Die schwergekleideten Frauen hasteten mühsam auf der schlammigen Straße vorwärts. Die meisten von ihnen waren des Gehens, mehr noch der Luft und des rauhen Wetters entwöhnt, sie fühlten sich krank, einigen stand das Fieber im brennenden Gesichte. Als sie Frau von Lescure erkannten, drängten sie sich an sie heran und klagten heftig. Frau von Lescure legte den Finger auf den Mund und flüsterte bittend, indem sie auf den Wagen zeigte: »Mein Verwundeter!« Da wurden sie still, kramten fromme Bildchen aus ihren Taschen und empfahlen ihre heilende Wirkung. Sechs ganz junge Nonnen reihten sich zu beiden Seiten des Wagens und stimmten einen schönen, süßen Marienpsalm an, der glockenrein über die windgepeitschten Felder hinwehte. Dann stieg der Weg, das Singen verbot sich, und die Schar der Nonnen verlor sich seitwärts auf einem Richtwege.

In einem Dorfe kurz vor Fougères zeigten sich Spuren eines Gefechtes; die Garnison mochte also nicht ganz kampflos abgezogen sein, immerhin schienen nur wenige Schüsse gewechselt worden zu sein. Fünf bis sechs Tote, grell leuchtend in ihren blauen Uniformen, lagen mitten in der verwüsteten Straße. Der Wagen mußte sie umfahren, kam dabei in eine starke Neigung und drohte umzufallen. Ein Schrei erstickte in Frau von Lescures Kehle, aber schon hatte Agathe den Wagen in sein Gleichgewicht zurückgebracht, freilich nicht ohne einen gewaltigen Ruck, der dem Kranken wilde Schmerzen verursachen mußte. Frau von Lescure sah Funken vor den Augen vor Erbitterung, sie lenkte ihr Pferd so, daß es die Leichen der toten Feinde treten mußte: »Ich wollte, ihr fühltet es!« murmelte sie rasend, die Augen geblendet von Tränen der Wut. Dann beugte sie sich horchend über das Plandach des Wagens, vernahm aber keinen Laut der Klage. »Es ist vorüber, der Weg ist wieder frei!« rief sie tröstend hinein, erhielt jedoch keine Antwort.

Das Reitpferd ging hart auf der ausgefahrenen Straße, die sich nun merklich senkte. Frau von Lescure fühlte Schmerzen in Hüften und Rücken; auch der Wagen stieß ein paarmal, und es erschien der verzweifelten Frau, als ob jeder Stoß, der ihrem Gatten Qual sein mußte, wie ein scharfer Riß an ihrem eigenen Eingeweide zerrte. Plötzlich ward sie sich der Bedeutung dieser Schmerzen bewußt, erschrak tödlich und begann leise zu weinen. Sie ritt langsamer und mit äußerster Vorsicht, denn die Gefahr einer Fehlgeburt hier auf offener Landstraße hauchte sie an wie ein Eiseshauch des Entsetzens. So kam es, daß sie Fougères erst abends mit den letzten Nachzüglern erreichten.

Gleich innerhalb des Stadttores war eine unentwirrbare Stauung von Menschen und Wagen. Da naturgemäß nur etwa ein Viertel des Heerzuges in der Stadt Unterschlupf finden konnte, hatten viele der Eingedrungenen sich wieder rückwärts gewandt, um die nächsten Dörfer zu erreichen, und diese Rückflut hatte einen wahren Hexenknäuel bewirkt, der keine Bewegung mehr zuzulassen schien. Frau von Lescure ritt vor dem Wagen ihres Mannes her, drängte rücksichtslos ihr Pferd zwischen die Köpfe der Fußgänger und schrie in einem fort: »Platz! Platz für Herrn von Lescure!«, ohne daß dies die geringste Wirkung erzielen konnte. Immerhin taten die Leute, die sie erkannten, ihr möglichstes, und so wurde sie zollweise bis zum Ende des kleinen Platzes weitergeschoben. Nun aber, da sie sich umwandte, sah sie mit Schrecken, daß die Menschenflut sich zwischen ihr und dem Wagen geschlossen hatte. Sie wollte ihr Pferd wenden, den Wagen wieder erreichen, aber es war, als ob eine unterirdische Strömung in diesem brausenden Meere erregter Lebewesen arbeite: sie fühlte sich immer mehr abgetrieben, sah die Entfernung zwischen sich und dem Wagen wachsen. Sie begann zu rufen, zu schreien. Der Schmerz in ihrem Leibe setzte mit verdoppelter Heftigkeit ein. Schon glaubte sie vom Pferde sinken zu müssen, als ein bekanntes Gesicht neben ihr auftauchte. Es war ein junger Herr von Jagault, der ohne weiteres ihren Zügel ergriff, sich mit flachen Säbelhieben Bahn schaffte und sie herausführte in eine stillere Straße.

Er brachte sie zunächst nach einem nahen Hause, wo Frau von Donnissan, die mit dem Kinde und den übrigen Damen schnell und leicht gereist war, sie bereits in ziemlicher Angst erwartete. Dann eilte er hinweg, um im Vereine mit anderen sich auf die Suche nach dem Wagen mit dem Verwundeten zu machen, der sich unterdessen in Agathens Hand in gewisser Geborgenheit befunden haben mußte. Frau von Lescure dankte ihm und sank auf ein Ruhebett, rasch von erfahrenen Händen mit jeder erreichbaren Linderung bedient. Die Schmerzen beruhigten sich; wenn die Angst um den Gatten nicht gewesen wäre, hätte sie einschlafen können.

Erst etwa eine Stunde später hörte sie das langsame Anfahren des Wagens, den wohlbekannten Schritt des kleinen Pferdes davor. Sie erhob sich im dunklen Vorgefühl von etwas Ungeheuerlichem, starrte mit brennenden Augen auf die Türe, die sich nun öffnen mußte, um Unaussprechliches offenbar werden zu lassen. Und wirklich traten gleich darauf einige blasse und schweigende Männer ins Zimmer und reihten sich mit gesenkten Köpfen an der Türe auf. »Was gibt es?« wollte Frau von Donnissan fragen, aber schon schnitt ein leiser Aufschrei Frau von Lescures jede Erklärung ab. Nun begriff auch Frau von Donnissan. Die treue Reiterin hatte schon mehrere Stunden lang einen toten Mann so liebevoll behütet.


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