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2.

Ich sagte also, daß der Vater unserer Ahnfrau ein Baumwollweber in Cholet war. Dort hatte ein Herr von Rougé eine Industrie jener leichten, bunten Gewebe ins Leben gerufen, die man in Paris unter dem Namen indischer oder siamesischer Tücher zu kaufen und als vermeintlich weithergebrachte Erzeugnisse braunhäutiger Weberinnen gut zu bezahlen pflegte. Nach Rouges Tod waren, ich weiß nicht wie, vier seiner Webstühle in den Besitz Philip Perreaults gelangt, der damit ein wohlhabender Mann wurde. Dann starb seine tüchtige Frau; die Erziehung seiner schönen haselnußbraunen Tochter schuf ihm das böseste Kopfzerbrechen, denn das Mädchen hatte Feuer und die Zeiten waren locker. Obendrein verdarb die Revolution ihm Wohlstand und Geschäft. Er saß verdrießlich vor seinen leeren Webstühlen und schmähte die neue Zeit, wie man immer geschmäht hat und immer schmähen wird, solange eben Zeiten sich wandeln, solange die Welt nicht versteinert. Dann kam der Zwischenfall von St. Florent.

Ich weiß nicht, wie weit Sie die Geschichte des Aufstandes kennen. Es hatten sich schon da und dort im Lande Banden gebildet, die kein geringeres Ziel verfolgten, als die Absetzung der neuen republikanischen Behörden und die Wiedereinsetzung der alten königstreuen Beamten. Das darf Sie nicht wundern. Jene Landschaft hatte vom alten Regiments nicht viel gespürt, denn sie lag weitab von Paris und außerhalb der Befugnissphäre der Generalpächter, ja, ihr Name verband sich mit dunklen Vorstellungen von Unwegsamkeit und Unwirtlichkeit, zum mindesten doch mit der einer hoffnungslosen Zurückgebliebenheit. Sie hatte nichts von dem Wirtschaftsverfall des übrigen Frankreich miterlebt. Ihre adligen Herren waren brave Landleute von schlichter Behaglichkeit und gute Berater ihrer Bauern, von denen sich nicht wenige zu Eigenbesitz und Wohlstand aufgearbeitet hatten. Herren und Hörige erwehrten sich gemeinsam der Wölfe und Eber, ihre Söhne fingen im gleichen Bache Krebse und behielten das Du der Kinderfreundschaft auf Feldzügen in Ostindien oder Spanien bei; Marquis und Marquise tanzten auf den Hochzeiten ihrer Bauern und hoben deren Kinder aus der Taufe. Die natürlichen Pflichten des zur Arbeit Geborenen wurden selten als Druck empfunden. Das neue Regiment dagegen spürte man gewaltig, denn es regierte mit Eifer und mit Papier. Es gab plötzlich verwirrend viele Vorschriften und Verbote, mit deren Verlesen und Erklären die Pfarrer mehr zu tun hatten als mit dem Predigen: und diese Verbote geschahen im Namen einer Freiheit, von der man nichts spürte, die man nicht begehrt hatte, und die niemandem wohltat. Das ärgerlichste war, daß dies papierene Regiment in der Hand von Leuten lag, die nichts waren und nichts besaßen, und die man erst zu etwas machte, indem man ihnen gehorchte: elende Kanzleischreiber aus verhungerten Großstädten, die gekommen waren, um sich im Namen der Freiheit zu mästen. Der Zorn schwelte lang; er flammte gewaltiger auf, als man den Bauern ihre eingesessenen und landeskundigen Priester nahm und ihnen dafür Seelsorger gab, die ihren Dialekt nicht verstanden; er brach vollends aus wie ein Heidefeuer, an zwanzig Stellen zugleich, als im März 1793 Truppenaushebungen ins Werk gesetzt wurden, und als man vernahm, daß diese Rekruten irgendwo an fernen Grenzen kämpfen sollten – gegen wen? gegen die Freunde des Königs!

König in Frankreich war damals, nach der Auffassung der Bauern nicht weniger als nach der ihrer adligen Gebieter, jenes arme, kranke Kind, das ein roher Schuster in Paris gerade zu Tode quälte. Er hieß Ludwig der Siebzehnte in ihren Herzen, und wenn es zu kämpfen galt, so konnte es nur für ihn sein. Es wurden damals zahlreiche Protokolle verlesen und an den Rathaustüren der Städte angeschlagen, die verkündigten den Leuten, daß das Vaterland, die Nation von äußeren Feinden schwer bedroht sei, und daß die Pflicht geböte, dem zu wehren. Das verstand niemand. Diese Begriffe, die heute dem unwissendsten Bauern zu eigen sind, waren damals in erschreckender Weise neu. Das Vaterland? War es nicht eine Geburt der Revolution wie die Freiheit, ein dunkles Wort, das gehandhabt werden konnte, um die richtigen und natürlichen Dinge umzustürzen? Und die Nation, war sie nicht vollends die Zusammenfassung all der blutigen und schrecklichen Mächte, die nach langen grauenvollen Wirrnissen zum Königsmord getrieben hatten, dem Gipfel der Gottlosigkeit und Verruchtheit? Stellen Sie sich die Ratlosigkeit in den Köpfen jener Einfältigen vor: sie sollten für diejenigen kämpfen, die den König getötet hatten, und sie sollten die Heimat verlassen, die sie brauchte, um ein Vaterland zu verteidigen, von dem niemand wußte, wo es anfing und wo es aufhörte! Nun, die Bauern des Poitou, des Boccage, des Marais wehrten sich gegen derlei ungereimte Zumutungen, und wehrten sich mit Erfolg. Sie fanden sich nicht da ein, wo man Soldaten warb. Wenn sie aber zur Kirche gingen, trugen sie Gewehre und Patronengürtel und hielten sich trotzig in festgeschlossenen Reihen, gegen die niemand vorzugehen wagte. Und eben in St. Florent, da hatte ein republikanischer General den Versuch gemacht, so ein Bauerntrüpplein einzukreisen und zu entwaffnen, hatte dabei den kürzeren gezogen und das Pulverfaß zum Platzen gebracht. Die Bauern eroberten die einzige vorhandene Kanone, richteten sie gegen die Stadt und trieben die Nationalgardisten in die Flucht. Sie besetzten die Stadt für einige Tage, jagten die republikanischen Beamten hinaus, verbrannten alles Papier, das den Stempel der Republik trug, und ließen in der Kirche von einem schnell aufgetriebenen Priester alter Ordnung Messen für den König und seine Mutter lesen. Dann zog der Haufe ab, wuchs im Weiterwandern lawinengleich an, und rückte als ansehnlicher Heerbann vor Cholet, das kaum verteidigt wurde. Auch dort setzten sie mit großer Feierlichkeit das Regiment Gottes und des Königs ein, und zogen alsbald weiter, unbekümmert darum, daß sich die republikanische Ordnung gleich nach ihrem Abzuge wiederherstellte; denn daß man eine eroberte Stadt auch halten muß, davon wußten sie nichts. Es führte jene Banden damals ein Mann namens Cathelineau, von dem erzählt wird, daß er sanft und fromm gewesen sei wie ein Engel. Er war es, der jenen ersten Erhebungen den Charakter von Kreuzzügen verlieh. Er soll selbst nie ein Gewehr abgedrückt haben, begeisterte aber die Massen, indem er, kindlicher Zuversicht voll, mitten im Gefecht niederkniete und betete, worauf der Sieg auch niemals ausblieb. Die Leute folgten ihm, wie man im dunklen Walde einem reinen Glockentone folgt. Er war kaum in Cholet eingezogen, da stand auch Philip Perreault schon vor ihm und ließ sich anwerben, zog die folgenden Jahre mit den Aufständischen umher, schloß sich, nachdem Cathelineau bei seinem weltentrückten Beten schließlich doch von einer Kugel getroffen worden war, den Banden des Herr von Bonchamps an und ist dann wohl irgendwo in einem Gefechte geblieben. Wir werden seiner kaum noch zu erwähnen haben.

Der Sorge um sein Kind Bonvouloir, das damals achtzehn Jahre alt und ein ziemlich selbständiges Persönchen war, hatte der gute Vater Perreault sich auf die einfachste Weise von der Welt entschlagen: er schickte das junge Mädchen kurzweg zu anderen Leuten, innerlich völlig beruhigt darüber, daß ein Anhänger Cathelineaus jedes Recht auf jede Art von Hilfe geltend machen dürfe. Bonvouloirs nächstes Ziel sollte das Schlößchen La Grange sein, das unweit von Châtillon auf einem busch- und blumenreichen Abhange lag und der Familie Texier gehörte. Dort wohnte als Schaffnerin oder Kammerfrau eine Base von Bonvouloirs verstorbener Mutter, und diese ältliche Dienerin stand bei Frau von Texier in so hoher Gunst, daß sie es wohl wagen durfte, den jungen Gast als Helferin bei sich aufzunehmen. Bonvouloir kannte das Schloß und den Weg dorthin. Sie hatte schon einmal in Gesellschaft ihrer Mutter jene Base besuchen dürfen und entsann sich einer Aufnahme voll geräuschvoller Freundlichkeiten in einem großen und heiteren Saale, wo zwei schöne, geputzte Kinder ihr ein widerliches, dickes Getränk anboten, das jene Schokolade nannten, und das den Weg durch Bonvouloirs schlankes Hälschen durchaus nicht finden konnte. Frau von Texier hatte ihr dann ein buntes Schürzchen geschenkt, und ihrer Mutter ein Halstuch aus Mousseline und hatte freundliche Worte von Wiederkommen und längerem Bleiben geredet. Darum machte Bonvouloir sich nunmehr leichten Herzens auf ihre Wanderung. Sie trug ein Bündelchen mit ein paar Kleidungsstücken, hütete es ernsthaft, denn in ihre derbsohligen Sonntagsstiefel, die zutiefst ruhten, hatte Vater Perreault sein ganzes Vermögen gestopft, Papierscheine jeglichen Alters, von denen viele längst außer Kurs waren. Diesen Reichtum sollte Bonvouloir Herrn von Texier übergeben, bei dem Perreault ihn in besserer Hut glaubte, als in einer städtischen Kasse. Und sie sollte ihm dabei sagen, Herr von Texier möge dies Geld ruhig im Dienste des Königs verwenden, der König wurde es Vater Perreault schon wieder erstatten, wenn er einmal wieder zu Recht und Krone gelangt sei. Und daß dies bald geschähe, dafür würde er, Perreault, in Gemeinschaft mit Cathelineau und »den übrigen Heiligen« schon sorgen!

Zum Schlusse war Bonvouloir noch eingeschärft worden, nicht länger auf La Grange zu verweilen, als sie sich gern gesehen fühle; sollte sie bemerken, daß sie lästig werde – und sie sei wahrlich nun alt genug, um hierüber ein Urteil zu haben! – so möge sie still ihre Habe zusammennehmen und weiter wandern nach der großen Stadt Bressuire, »irgendwo weiter südlich«, wo ihre Patin, Frau Allain, wohne; deren Mann sei in der Stadtverwaltung und jedes Kind müsse ihn kennen. Für diesen Fall bekam Bonvouloir einen besonderen Brief mit, der auch etwas Geld enthielt und den sie im Saume ihres großen schwarzen Radmantels einnähte – innerlich sehnlichst verlangend, daß er da bleiben möge bis zum jüngsten Tage. Denn sie hatte auch Frau Allain schon einmal gesehen, und diese breitspurige Dame, die sich »Bürgerin« nennen ließ, und deren drittes Wort »die Nation« war, hatte keine Gnade gefunden vor Bonvouloirs kindlich-kritischen Blicken.


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