Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

5.

Ich habe bereits gesagt, daß Louise Texier blond und kräftig war, von Normannenart, kalt und von überlegener Denkkraft. Sie war nicht mehr sehr jung: ich schätze, sie muß damals fünf- oder sechsundzwanzig gewesen sein, und ihre seltene Leidenschaftslosigkeit befähigte sie, auch die gewaltigen Ereignisse ihrer Zeit gleichsam von ferne und ohne Beziehung zu ihrem eigenen Schicksal zu betrachten. Nie bestimmte der Wunsch ihre Meinung. Deshalb war sie auch ganz ohne Hoffnung, was die Wiederaufrichtung des Königtums betraf, und sie hielt es für ihre Pflicht, diese Hoffnungslosigkeit überall da entgegenzusetzen, wo ihrer Meinung nach »unbesonnene Schwärmereien« wirksam wurden. Deshalb unterstützte sie gern und geschickt ihren Vater in der Bekämpfung der Bauernaufstände. Aber sie ging weiter als er. Wünschte er nur, Übereilungen vorzubeugen, so hielt das erstaunliche Mädchen eine Auflehnung gegen die neue Regierung überhaupt für verwerflich, indem sie vorgab, der alte Zustand könne sich unter keinen Umständen wieder herstellen lassen, und sie wisse nicht einmal, ob sie dies wünschen solle; denn die neuen Ideen enthielten unleugbar Gutes, und man möge sich nur einmal erinnern, wieviel davon man selbst gedacht und herbeigewünscht habe, als die Sache noch als schöner Zukunftstraum in der Luft hing. Dies letztere war nun freilich nicht zu leugnen. Mit der Gründung der jungen amerikanischen Republik war ein neuer Gedanke in die Welt gekommen, den gerade der französische Adel mit dem ganzen Reichtum seiner hochkultivierten Vorstellungskraft zu schmücken liebte. Das alte Rom mußte Namen und Vorbild für eine künftige ideale Welt leihen, Rousseau wurde das Buch der gebildeten Frau, und ganz verwegene Geister wie Louise Texier schämten sich nicht, gelegentlich einen Blick in das » Alphabète du Sansculotte« oder in die » Etrennes du Peuple« zu werfen. Nun freilich, nachdem man erlebt hatte, wie große Gedanken aussehen, wenn sie in die Hände der Kleinen geraten, wollte niemand mehr etwas von jenen »politischen Schwärmereien« wissen, man griff furchtsam auf die alten Lehren zurück und verschrie als Ketzertum, was man als Offenbarung begrüßt hatte. Nur Louise stand zu der neuen Lehre mit der schlichten Begründung, daß das Neue immer das Sieghafte sein müsse, sonst wäre es gar nicht erst geboren worden. »Eine abgeschossene Kugel kehrt nicht in das Rohr zurück,« pflegte sie zu sagen, »ein Halm nicht in den Erdboden, dem er entsproßt ist. Was erzeugt ist, muß wachsen. Es fragt sich nicht, was uns nützt oder angenehm ist, es fragt sich, was naturgemäß ist. Und der Gedanke, daß jeder Mensch das gleiche Recht auf Wohlergehen hat, scheint mir höchst naturgemäß, ja, auch angenehm und beglückend, sobald einmal der Weg gefunden wäre, ihn zu verwirklichen. Warum wollen wir der Republik nicht Zeit lassen, diesen Weg zu suchen, da wir ihn doch bisher, wie ersichtlich, nicht gefunden haben?«

Ein andermal sprach Louise: »Es ist nicht ungeschehen zu machen, das Volk hat erkannt, daß es zahlreicher und stärker ist als wir. Wo ist das Naturgesetz, das den Zahlreichen und Starken geböte, sich den Wenigen und Schwachen unterzuordnen? Noch haben wir die Überlegenheit des Geistes, es ist unser einziges und letztes Machtmittel. Laßt uns bedacht sein, uns dieses zu erhalten, und versuchen wir, uns in allen anderen Punkten mit den neuen Herren zu vertragen.«

Es versteht sich von selbst, daß Louise in ihrem Kreise den Spitznamen die Jakobinerin trug, den sie mit einer gewissen befriedigten Heiterkeit führte, und den sie selbst nicht selten auf sich anwandte. In Wirklichkeit war sie viel mehr als eine Jakobinerin: sie war ein tief rechtlicher Mensch, auf dessen Gemüt die Ungerechtigkeit irdischer Schicksale lastete, und der inbrünstig nach Wegen des Ausgleichs und der Gerechtigkeit suchte. Vielen ist dies Gefühl angeboren, bei anderen wird es durch die Lehren der Republik geweckt, in beiden Fällen ist es, nachdem es sich selbst einmal erkannt hat, nicht mehr zu unterdrücken. Es schwingt und lebt in jedem Worte, in jedem Tun eines solchen Menschen, und seine Kraft wirkt erschütternd, wenn sie auch nicht überzeugend wirkt. Darum wurde Louise von ihren Angehörigen weniger verlacht, als in erbitterter und spitzfindiger Weise widerlegt, trotzdem aber immer wieder angehört. Besonders Herr von Texier folgte oft nachdenklichen Blickes ihren begeisterten Erklärungen, wenn er freilich auch niemals eine Zustimmung von sich gab.

Dies merkwürdige Mädchen war seit kurzem Braut. Herr van Duyren, trotz seiner holländischen Abstammung ein Offizier von guten Erwartungen, war mit knapper Not der Schlächterei in Paris entgangen und hatte, wie viele seinesgleichen, Zuflucht im waldreichen Gelände des »Boccage« und bei den königstreu gesinnten Geschlechtern jenes ländlichen Adels gesucht. Er war zu den Texiers gekommen, weil er irgendwelche Familienbeziehungen zu ihnen hatte. Dort hatte er sich bald in die schöne Louise verliebt und nach längerem Werben auch ihr Herz, das sich nicht schnell gab, gewonnen, wohl hauptsächlich durch seine gesunde, junge Männlichkeit. Nun aber hatte das praktische Fräulein ihm die Aufgabe gestellt, als einfacher Landwirt unter der Leitung ihres erfahrenen Vaters eine Führerschaft in ihrem Sinne anzutreten, indem er nämlich seine Bauern erzöge und ihnen die Geheimnisse einer ersprießlichen Behandlung von Feld, Wald und Wasser beibrächte. Bei diesem Bestreben dachte sie ihn sowohl durch die Arbeit ihrer tapferen und geschickten Hände zu unterstützen, als auch durch neue und segenbringende Gedanken, die ihr regsamer Geist unaufhörlich gebar. Sie suchte ihm vorzustellen, daß nichts eine Herrschaft der alten Stände sicherer begründen könne, als ein vernünftiges Verwalten und Vermehren der natürlichen Güter, bei denen es auch dem letzten Feldhüter Wohlergehen müsse; die Erde sei ja so reich, und es läge nur daran, sie liebevoll zu betreuen, um Genügen für unendlich viele zu schaffen. Sie hätte ihr Glück darin gefunden, auf La Grange einen kleinen Musterstaat republikanischer Ordnung einzuführen, zu dem übrigens alle Vorbedingungen gegeben waren, denn Herr von Texier hatte seine Bauern in einem vertraulichen Verhältnis der Mitarbeiterschaft erhalten und war eifrig für ihr Wohlergehen besorgt gewesen. Aber Herr van Duyren war ein Mann der alten Schule, war Hofmann und vor allen Dingen leidenschaftlicher Soldat. Er hatte es beinahe als Schmach empfunden, daß eine Reihe von glücklichen Zufällen ihn dem Gemetzel in den Tuilerien sowohl als auch den Hinrichtungen in der Abtei entzogen hatte, wo er zwar eingekerkert gewesen, aber – vielleicht auf seinen bürgerlichen Namen hin – als »unschuldig« entlassen worden war. Nun empfand er diese Schonung als Verrat an seinem König, und bemühte sich, dies ungewollte Vergehen wieder gutzumachen, indem er wie ein Wüterich gegen alles eiferte, was mit der Republik zusammenhing. Einen Mann, der ihn mit »Bürger« van Duyren angeredet hatte, hatte er mit der Waffe bedroht, und einen Stadtbeamten, der ihm ganz unschuldig die Führung der Nationalgarde in Châtillon anbot, hätte er beinahe gewürgt; zum Glück ward dies durch Herrn von Texier verhindert, der den Aufgebrachten belehren konnte, daß in dem Anerbieten kein Hohn lag, daß vielmehr gern und häufig die Gemeinden den bequemen Brauch übten, die Bildung und Schulung ihrer Nationalgarden militärisch erfahrenen Mitgliedern der alten Geschlechter zu übertragen. Noch war man nicht fanatisch im Boccage. Natürlich hatte sich Herr van Duyren zu einer solchen »Schmach« – Louise nannte es kluge Verträglichkeit – nicht hergeben wollen, dafür hatte er zu Herrn von Texiers stillem Ärger seine Hand schon in mehreren Bauernaufständen gehabt und fühlte sich berufen, diesen höchst ziellosen und wirkungslosen Unternehmungen ein militärisches Ansehen zu geben. Er saß um die Zeit, wo Bonvouloir ihn kennen lernte, nur deshalb so friedlich in La Grange, weil ein Schenkelschuß aus den Reihen eben jener Nationalgarde, die er hätte befehligen sollen, ihn am Reiten verhinderte. Nun führte er, meist an ein Ruhebett gefesselt, seinen Krieg in Worten und gegen seine Braut weiter, die es ergötzlich fand, ihn mit seiner adligen Beschränktheit zu necken, ihm aber auch ab und zu eine wärmere Mahnung zuteil werden zu lassen, von der sie endliche Wirkung erhoffte. Sie konnte es nicht schweigend hinnehmen, daß van Duyren eben jene Bauern, mit denen er seine Ideale verteidigen wollte, nie anders bezeichnete als schlechthin »das Dreckpack«, und daß er fand, sie müßten sich geehrt fühlen, unter seiner Fahne zu kämpfen. Alles durfte von ihnen verlangt werden, ohne ein sonderliches Gefühl der Verpflichtung, und wenn man ihnen ein Lob und ein paar Fäßchen Apfelwein spendete, so hatte man überreich bezahlt für tapfer eingesetztes Leben. Louise war hier wesentlich anderer Meinung. Es war ein- oder zweimal geschehen, daß Bäuerinnen, deren Erhalter in irgendeinem Scharmützel geblieben waren, sich unter Tränen über die Mühsal ihres Daseins beklagt hatten, da nun die Fron ihnen allein oder ihren noch kaum erwachsenen Kindern oblag. Van Duyren fand, die Leute sollten sich glücklich schätzen, daß ihnen im Boccage nicht, wie dies im östlichen Frankreich geschehen würde, die »tote Hand« die letzte Hinterlassenschaft des Verstorbenen abnahm, und daß man sie ruhig in ihren Hütten ließ und mit ihrer verringerten Leistungsfähigkeit Geduld hatte. Diese »Kerle« hätten ja keineswegs im Interesse der Adligen gekämpft, sondern umgekehrt seien die Adligen den Bauern zu Hilfe gekommen, denen das Regiment der Patrioten verhaßt sei, und es seien also auf alle Fälle die Adligen die zumeist Geschädigten. Aber Louise war nicht zu betrügen. »Mache mich nicht glauben,« rief sie aus, »daß die Bauern mit den Aufständen begonnen hätten ohne jene stille Einwirkung unserer Priester, die ihnen bessere Zeiten von der Wiederherstellung der alten Dinge verheißen, ja, die ihr Gewissen selbst mit Pflichten gegen Gott und den König belasten, die jene gehorsamen und ergebenen Wesen in rührender Treue abtragen! Aber wie dem auch sei, auf alle Fälle sind es Mitkämpfer und sollten dir Brüder sein! Und haben sie nicht Herzen wie wir? Lieben sie nicht Frau und Kind, und wird es ihnen leicht zu sterben, wenn sie wissen, daß jene dann den Härten des Lebens bloßgestellt bleiben? Wir sollten mehr für die Witwen tun!« Van Duyren war für seine Zeit kein roher Mensch, aber eine solche Zumutung von seiten seiner Braut machte ihn ärgerlich, oder er lachte darüber. »Ich bitte dich, was noch?« rief er dann aus. »Die Leute sind dazu da, daß sie sterben, wenn eine große Sache es verlangt, und übrigens sind ihrer immer noch mehr als genug auf der Welt.«

Bonvouloir, die häufig stille Zuhörerin solcher Gespräche war, stand, was uns heute sonderbar erscheinen würde, mit ihrem Herzen ganz auf Herrn van Duyrens Seite. Natürlich waren die kleinen Leute da, um von den großen Herren so verwendet zu werden, wie diese es für gut hielten, dafür waren jene klug und gebildet, und dafür wurden sie von den Herren Seelsorgern auch immer genau über das unterrichtet, was der liebe Gott wünschte. So war es je und je in der Welt gewesen, und das wäre eine schöne Geschichte, wenn auf einmal die Bauern anfangen wollten, an ihre eigene Haut zu denken! Bonvouloir konnte ihrer Anschauung keine Worte leihen, aber ihre Augen spendeten Beifall, wenn Herr van Duyren redete, und mehr noch, wenn Frau von Texier in milderer und überlegterer Form die gleiche Ansicht vertrat. Dann leuchteten sie so, daß Herr van Duyren dessen einmal gewahr wurde und lachend ausrief: »Hier, Louise, sieh dir deine kleine Landstreicherin an! Ich wette, Die begreift, daß es nichts Schöneres für solch Gewürm gibt, als für Gott und den König zu sterben!« worauf Bonvouloir, flammend rot vor Glück, begeistert erwiderte: »Nein, nichts Schöneres auf der Welt! Wozu wären wir sonst da?«


 << zurück weiter >>