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Trémentines liegt nicht an der geraden Straße nach Beaupréau; Feldwege, schwer befahrbar, führten leicht östlich in größerem Bogen der Stadt zu, die den fliehenden Damen als nächstes Ziel bezeichnet war. Da die meisten von ihnen beritten waren, so war es kluge Berechnung, diesen Umweg zu wählen, der voraussichtlich von den flüchtenden Soldaten und Bauernfamilien weniger überlaufen sein würde, als die fahrbare Straße, und was Verzögerung schien, konnte Zeitgewinn werden. Frau von Lescure ritt aufrecht und mutig voran, ihr Töchterchen vor sich im Sattel; sie schien gewiß, daß auch dieser Rückzug wieder mit einem Umschwung zum Guten enden, daß die Bauern sich sammeln und Châtillon wiedergewinnen würden. Und sie gab ihre Zuversicht ihren Fluchtgenossinnen weiter.
Ein junger Offizier, der die Begleitmannschaft der Damen anführte, sah ab und zu scheu in das ruhige Gericht der Edelfrau. Er wußte von Lescures Verwundung, für die es keine Heilung gab, er sah die Ahnungslosigkeit der Frau, und es schnürte ihm die Kehle, zu denken, daß sie es bald und vielleicht durch ihn selbst erfahren mußte. Noch aber hätte er nicht vermocht, davon zu sprechen. Er hielt sich abseits wie übrigens auch Louise, die der Herrschaft über ihre Nerven nicht sicher war. Die Mannschaft, vielleicht von gleichem Mitleid bewegt, schwieg auch, und so blieb der kurze Ritt noch unbedrückt von den Sorgen des Kommenden.
Bonvouloir ritt nicht mit nach Trémentines. Sie hatte erwogen, daß der Bauernwagen mit dem Verwundeten notgedrungen die bessere Straße wählen mußte, und sie beschloß ihm nachzueilen, wohl wissend, daß weibliche Hilfe bei der Pflege eines Schwerkranken willkommen sein würde. Louise hatte diesem Vorschläge dankbar zugestimmt. Sie wäre gern mit Bonvouloir gegangen, mußte aber einsehen, daß sie damit Verdacht erwecken und Beunruhigung schaffen würde, die vielleicht die Dienste, die sie leisten konnte, nicht aufwogen.
Bonvouloir löste sich also bald nach Cholet von den reitenden Damen, indem sie darauf bestand, ihren Gatten aufzusuchen, von dem man wußte, wo er kämpfte, und von dem versichert worden war, daß er standhielte. Dies konnte ihr kaum verwehrt werden. Sie wandte sich also und arbeitete sich durch einen Strom von aufgeregten und ängstlich umherirrenden Menschen bis nach Cholet hinein, wo sie Herren des Oberbefehls und Auskunft über Herrn von Lescure zu finden hoffte. Schrecklich sah die Stadt aus, die bereits unter dem Kanonenfeuer der Blauen lag, und in deren Gassen, die gedrängt voll Menschen waren, sich alle jene Szenen abspielten, die Todesangst, Haß, letzte Raffgier, Widerstand gegen jedes besonnene Zureden in solchem Falle aufzuführen pflegen. Bonvouloir, die in den wohlbekannten Straßen ein Gefühl der Sicherheit zu finden gerechnet hatte, drückte sich erschrocken an die Mauern, fühlte sich beinahe selbst von der allgemeinen Verwirrung erfaßt. Überall wurde sie zurückgetrieben oder sah sich gehindert von Ansammlungen solcher, die in übertriebener Eile sich selbst die Wege sperrten. Sie sah ein Haus brennen, dessen Besitzer sie wohl kannte. Sie sah eine Familie, die ihr von früher vertraut war, sich mit großen Packen beladen durch das Gewühle schieben. Sie rief sie an, sah entgeisterte Gesichter und erhielt keine andere Auskunft als ein atemloses: »Die Blauen kommen!« Endlich erblickte sie auf einer Treppe, um die sich eine Anzahl Soldaten drängten, einen Offizier, den sie kannte.
Sie machte sich mühsam verständlich, um blutwenig Gewisses von ihm zu erfahren. Doch konnte er ihr wenigstens bestätigen, daß ihre Berechnung richtig und daß Herr von Lescure sich auf der westwärts führenden Straße befinden müsse, nannte auch das Dorf, das als Nachtlager in Betracht gezogen worden war, wenn Heinrich die Blauen auf dieser Straße lange genug aufhalten konnte. Bonvouloir hatte nun ein festes Ziel, und sie lief, wie sie noch nie gelaufen war, immer den dumpfen Hall von Kanonen im Rücken, immer Haufen flüchtender Menschen vor und um sich, immer um ihrer leichtfüßigen Eile willen geschmäht und herausgefordert. Die Schwerbeladenen, mit Karren und Vieh Belasteten konnten das scheinbar müßig dahinlaufende Mädchen nicht ohne Haß sehen. »Was rennst du? Komm hierher und hilf tragen!« tönte es ihr immer wieder in die Ohren. Sie erreichte zu halber Nacht das Dorf Chaudron, fand Lescure und an seiner Seite van Duyren und den leichtverwundeten Herrn von Bonchamps. Gern wurde der Dienst am Krankenbett ihr anvertraut, und bis zum hellen Morgen saß sie und legte Balsamläppchen auf die furchtbare Wunde, die nun blau und stark geschwollen war und wild schmerzen mußte. Lescure war auch nicht mehr bewußtlos. Die Qual hielt ihn wach. Er erkannte Bonvouloir und hörte ihre tröstliche Nachricht über seine Familie. Seine Augen dankten ihr.
Unterdessen ritt Louise, sehr allein mit ihren Gedanken, und vermied jedes Gespräch. Aber so tief ihr Mitgefühl mit Frau von Lescure war, es beschäftigte sie doch nicht über eine gewisse Zeit, dann traten andere Gedanken an sie heran und redeten zu ihr durch den sinkenden Abend auf den stiller und stiller werdenden Wegen. Die kurze Begegnung mit Livarot hatte viele Fragen in ihr wachgerufen. Durfte sie billigen, wie sie ihm begegnet war, hatte sie klug gehandelt, diesen Mann durch eine neue Verpflichtung an sich zu binden, nun, da sie wußte, wie es um ihn stand? Hätte sie ihn nicht empört abweisen müssen, den Plebejer, der es wagte, ihr mehr sein zu wollen als ein ergebener Diener? Ja, so hätte jede Frau gehandelt, die auf ihren Stand hält. Aber halte ich denn auf meinen Stand? Habe ich nicht eben diesem Manne hundertmal die schönen Worte von der Gleichheit aller Menschen gesagt? Wie steht es nun in diesem Falle bei mir mit der vielgepriesenen Gleichheit? Ich habe nichts als Verachtung und Mitleid für diesen Mann.
Warum Verachtung? Weil er glaubt, daß seine Partei die siegreiche sein wird, wie wir es von unserer glauben? Weil er die Möglichkeit annimmt, weil er sein Glück in der Möglichkeit findet, ich könnte jetzt den Mut finden, mich zu dem zu bekennen, was ich wirklich bin: eine Republikanerin? Habe ich ihm wirklich kein Recht gegebenen diese Möglichkeit zu glauben? Ich bin von La Grange geflohen. Ich habe nie von Rache gegen die Republik gesprochen, die mir Heimat und Eltern nahm. Ich habe immer diesen Krieg verurteilt. Damit hätte ich ihm wirklich kein Recht gegeben, an diese Möglichkeit zu glauben?
Und doch Verachtung! Denn er traut mir zu, ich könnte das sinkende Schiff verlassen, mich in Sicherheit bringen, vielleicht meinen Verlobten überreden, sich mit mir in Sicherheit zu bringen – denn er hat gesagt: ich werde Mittel zur Rettung auch für diesen oder jenen finden, wenn Sie es wünschen. Es gibt so viele Edelleute, die gute Republikaner geworden sind. Durfte er mir nicht zutrauen, was so viele getan haben? Nein, mir nicht! Mir gewiß nicht! Er mußte wissen, daß ich zu den Meinen stehen werde, auch wenn ich weiß, daß sie für eine Irrlehre kämpfen.
Aber warum tue ich dies? Warum mache ich mich mitschuldig an einer Tat des Wahnsinns, die Zehntausende um Heimat und Leben bringt, die aus einem blühenden Lande eine Wüste macht, und die fruchtlos bleiben muß, weil sie wie ein Schwimmen gegen den Strom der Zeit ist? Wollte Livarot mich an eine höhere Pflicht erinnern, als er mir seinen armseligen kleinen Rettungsvorschlag machte? Wollte er mir sagen: du gehörst hier nicht hin, bekenne deine Verbundenheit mit der neuen Richtung, bekenne, daß du an die Berufung des Volkes zur Herrschaft glaubst, daß du an die Freiheit, an das Glück aller glaubst. Vielleicht bin ich wirklich verächtlicher als er. Ich sollte den Mut zur Wahrheit haben. Warum habe ich ihn nicht? Weil ich meinen Verlobten liebe, weil ich diejenigen nicht verlassen kann, mit denen meine Jugend bisher verknüpft war? Bin ich zu weich? Bin ich noch nicht reif für eine Wahrheit, die doch in mir mit solcher Klarheit spricht? Wie schwer ist es, zu bekennen, wenn man gegen seine Liebsten bekennen muß! O wollte doch das Schicksal für mich entscheiden, da ich selbst es doch nie können werde!
In solchen Gedanken verging Louisen der Ritt, in solchen verging ihr die Nacht, die übrigens kurz war und keinerlei Gelegenheit zum Schlafen bot. Die Damen hatten sich einem der ansehnlichsten Gehöfte des Ortes zugewandt, ein großer Raum wurde ihnen bereitwillig erschlossen, aber die späte Stunde, die Müdigkeit der Reiterinnen erlaubte das Herbeischaffen und Aufstellen von Betten nicht mehr. Völlig angekleidet legten sich alle auf eine rasch bereite Strohschütte, kaum lagen sie, so öffnete die Türe sich neuen Flüchtlingen und immer neuen, so viel die Stube faßte; und wer hätte den Mut gehabt, sie abzuweisen? In grauer Morgenstunde gab Frau von Lescure das Zeichen zum Weiterritt. Sie sahen alle müder und verblichener aus, als am Abend vorher.
Vor dem Aufbruch suchte Frau von Lescure, von einigen der Damen begleitet, die nahe Kirche auf, um noch die Frühmesse zu hören. »Wir wollen den Trost nicht auf dem Wege liegen lassen,« sagte sie, »wir werden ihn brauchen.« Als sie die Worte sprach, brach der junge Offizier ihrer Schutzmannschaft, der schon am Tage vorher seine mitleidfeuchten Augen so oft auf sie gerichtet hatte, in lautes Weinen aus. Sie sah ihn erstaunt an, fragte streng nach der Ursache dieser Tränen. »Ich weine über unser Unglück!« brachte er stammelnd heraus. »Schämen Sie sich, Sie Kind!« wies ihn Frau von Lescure zurecht. »Ist Ihr Glaube so schwach? Wir werden in einigen Tagen den Weg hier mit Freudenpsalmen zurückgehen, den wir jetzt in Furcht und Sorgen wandeln.« Er eilte sich zu verbergen, begegnete Louise und sah an ihrem wissenden Gesicht, daß sie erriet, worüber er weinte.
Im Vorwärtsreiten sahen sie erstaunt endlose Züge von Menschen und hochbepackten Wagen aus allen Feldwegen heraus sich auf das Sträßlein ergießen, sahen alle belebt von dem gleichen, fast unbewußten Drange gen Norden zu, hörten von vielen Lippen die Schreckensrufe: »Die Blauen kommen!« und begannen zu ahnen, daß diesmal die bleiche Furcht ihre grauen Schwingen weiter spannte als je. Frau von Lescure rief wieder und immer wieder den Gruppen, an denen sie vorüberritt, Trostworte zu: »Es ist nicht schlimmer, als schon oft! Wir kommen wieder! Herr von Lescure und Herr von Larochejacquelein werden die Blauen zurücktreiben! Cholet wird sich halten! Es wird wiedergenommen werden! Châtillon wird wieder unser sein! Kommt nur mit und laßt euch anwerben! Kommt nur mit und helft uns! Alles wird wieder gut werden, Gott und die Heilige Jungfrau sind mit uns!« Louise und der junge Offizier erwarteten in qualvoller Hilflosigkeit den Augenblick, wo ein Vorüberziehender antworten würde: »Herr von Lescure ist gefallen!« Aber die Pferde zogen rasch vorwärts, die Reiterinnen kamen an den Fußgängern und Karrentreibern in gleitender Eile vorüber; wenn so eine Antwort irgendwann gegeben ward, so verhallte sie ungehört hinter Frau von Lescures Rücken.
Sie erreichten gegen Abend das Dörfchen Beausse, das sie in heller Bewegung fanden. Mitten im Dorfe hatten ein paar Adlige ein Haus belegt, da fanden sich die Männer der Umgebung zusammen und ließen sich aufnehmen in die Katholische Armee. In fast allen anderen Häusern konnte man eiliges Zusammenraffen fahrbarer Habe sehen, auf allen Wegen standen Karren, Ochsen und Gäule, an Bäume oder Brunnen festgebunden. Frau von Lescure erbat eine Stube von den Adligen, erhielt sie und lagerte sich so gut es ging auf dem blanken Boden, den Rücken gegen die Wand gelehnt, das schlummernde Kind im Schoß. Die ganze Nacht vernahm sie die Stimmen der Bauern, die sich zu den Fahnen meldeten. Erfreut lächelte sie den anderen Damen zu. »Es muß immer erst ein bißchen heiß hergehen, ehe sie sich an ihre Pflicht erinnern, die guten Leute! Jetzt kommen sie in hellen Haufen! Wären sie gestern zur Hand gewesen!« Louise dachte schmerzvoll: Pflicht? Ihr Ahnen antwortete: Furcht!
Gegen drei Uhr morgens fuhren alle in die Höhe. Kanonenschläge, nah, deutlich, rasch einander folgend kamen aus der Gegend von Montjean. Man erhob sich in Eile, draußen reihten sich die Bauern zum Aufbruch, die Führer berieten noch flüsternd Weg und Sicherheit. Der alte Curé des Dorfes trat heran, er schien gewillt, noch eine kurze Messe zu lesen, der Aufbruch sollte nicht nach Flucht aussehen. Da sah er die Damen, die eben aus dem Hause kamen. Mit allen Zeichen tiefer Ergriffenheit näherte er sich Frau von Lescure, streckte ihr die Hände hin und sagte mit versagender Stimme: »Meine Tochter! Gott hat Sie der Märtyrerkrone für würdig gehalten!«
Frau von Lescure starrte ihn an, sah mit entgeisterten Blicken in die Runde – und hatte verstanden. Sie sprach nicht ein Wort, stellte das Kind, das sie auf dem Arme trug, zu Boden, sprang wie eine Entfesselte auf den nächsten Gaul los, schwang sich hinauf und schoß, da er behaglich stehen blieb, die Pistole über seinen Ohren ab. Das erschrockene Tier brauste los, der alte Strick, an den es gebunden war, brach wie Zunder, und querfeldein flog die Reiterin in der Richtung auf Cholet zurück, während die erschrockenen Offiziere eilig in den Bügel stiegen, um ein kleines Gefolge hinter ihr her zu hetzen.