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5.

Mit stillem Neide sah Louise in diesen Tagen auf Bonvouloir, deren einfaches Gemüt auch von diesem erschütternden Erlebnisse nicht wesentlich berührt schien. Zwar teilte sie Schmerz und Empörung mit allen Wohlgesinnten, aber sie stellte keine Fragen an das Schicksal und schöpfte aus dem Schrecknis nur neue Sicherheit für sich selbst. Ihre Logik war so einfach! Gott hat das Gute, die Aristokraten, den König und die braven Leute geschaffen, der Teufel die Sansculotten, die Republik und die Bösen. Gott hat den ersteren den Himmel, den letzteren die Hölle bestimmt, und hat, damit die Sache auch ihren Preis habe, den Guten befohlen, gegen die Bösen zu kämpfen. Das ganze Weltall mit allen Schauern und Wirrnissen fügte sich bequem in diese Formel, und schlichte, treue, mutige Menschen wie diese Bonvouloir brauchten durchaus nicht mehr, um ihr Leben auszufüllen, in Frieden mit sich selbst zu wandeln und jedes Unglück zu ertragen. Louise schlug sich verzweiflungsvoll an die Stirne. Warum denken müssen, warum grübeln und forschen, wie sie es tat, von einem Fluche unbekannten Ursprunges zu ewiger Rastlosigkeit verdammt? Familienbande, Liebe, Vertrauen ins Leben und in die Ziele der Menschheit, alles litt unter dieser fürchterlichen Gabe! Wie glücklich war Bonvouloir! Und nur glücklich? Nicht vielleicht auch wertvoller als sie? Nicht vielleicht auch der Mensch, wie die Welt ihn brauchte, das glatte, leicht spielende, gefügige Werkzeug in der Hand der großen Mächte, die die Brücke zur Ewigkeit zimmerten?

Bonvouloir war tief überzeugt, daß die arme Königin als Märtyrerin hatte sterben müssen, damit die träge Welt in einem einzigen Aufbrausen der Empörung sich sammeln und sämtliche Sansculotten in Grund und Boden hauen müsse. Sie war also sehr traurig, aber ganz ruhig in ihrer unerschütterlichen Glaubensseligkeit und kindlichen Hingabe an das Schicksal. Merkwürdigerweise fehlte es auch nicht an Bestätigung ihres schönen Wahnes, denn eine ganze Reihe bretonischer Adliger, die sich bisher, wie einst Herr von Texier, der Bewegung lieber ferngehalten hätten, traten nun offen auf die Seite der Vendée und brachten wertvolle Hilfe. Und Bonvouloir konnte unbeirrt jeden Abend ihr Sprüchlein zur heiligen Jungfrau beten, die die Menschen zwar prüft und ihnen nicht immer ganz leichte Aufgaben stellt – aber wozu hätte man sonst Mut und Geschicklichkeit? –, die indes die Guten, die ihre Arbeit zur Zufriedenheit Gottes erledigen, niemals lange im Stiche läßt. War dieser Feldzug nicht untrüglicher Beweis für all diese Dinge?

Am tiefsten fühlte sich Louise von der Erkenntnis berührt, wieviel Trost und Kraft Bonvouloir, ohne es selbst zu ahnen, um sich her ausstrahlte, eine kleine Sonne der Zuversicht, in deren lieblich wärmendem Lichtkreis jeder sich wohlfühlte. In den Abendstunden pflegte Frau von Lescure ihren kleinen Hof zu empfangen. Sie lag zu Bett, immer noch sehr schwach, die großen Stühle standen in weiter Runde, und hinter ihnen brannte im Kamine ein gütiges Feuer; es ist nicht gewiß, ob der abendliche Zuspruch mehr der verehrten Frau oder diesem Feuer galt. Kamine gab es damals bei weitem nicht in jedem Zimmer. Da war denn das Gespräch über die arme Königin das unerschöpflichste, immer wieder neu erregende. Frau von Donnissan, die viele Jahre als Hofdame in Versailles verlebt hatte, beschwor innige und rührende Erinnerungen, Frau von Lescure, die als Kind und junges Mädchen die Huld der Königin empfangen hatte, ergänzte mit jüngeren Bildern. Die ersten Schreckensnächte wurden wieder gegenwärtig. Der Anmarsch der Nationalgarde donnerte wieder in den Ohren: der General Lafayette und der Herzog von Ayen versichern lachend, es handle sich um Lächerlichkeiten. Im Oeuil de Boeuf singt und tanzt Frau von Staël: die guten Pariser Bürger! Wer könnte sich vor ihnen fürchten? Frau von Donnissan hört Schüsse. Sie beugt sich weit aus dem Fenster, das den Ministerhof beherrscht, sieht Knäuel kämpfender Menschen, Säbel blitzen rot im Widerschein einiger Fackeln. Der Posten unter ihrem Fenster flüstert heiser herauf: »Fort, gnädige Frau! Man tötet die Leibgarde!« Und schon stürzen Flüchtlinge in ihr Zimmer, reißen Truhen und Schränke auf, hüllen sich in Frauenkleider, in Gardinen, bergen sich in Betten. Und in den Schloßhöfen braust der grollende Haß der Ungezählten.

Dann erzählte Frau von Lescure von der Mordnacht in Paris, in der die treugebliebenen Helfer des Königs die Tore des Louvre verrammelt fanden durch heulende Massen. Wer drinnen war, fand keinen Ausweg, wer draußen war, konnte keine Hilfe bringen, schwarz stand die wutbrausende Flut um das ganze Gebäude. Lescure hatte die Nacht im Hause seiner Gattin verbracht, er stürzte fort, er kam wieder, verzweifelt schilderte er die Unmöglichkeit, zum König durchzudringen. Viktorine beginnt zu weinen: die Königin rechnet so sicher auf Lescures Treue! Sie hat der jungen Frau so rührend gedankt, daß sie ihrem Gatten zugeredet hat, sich nicht den Emigranten anzuschließen! Sie hat solchen Mut geschöpft aus dem Mute der wenigen, die Paris nicht verlassen haben! – Da stürzte Larochejacquelein und Herr von Marigny herein, warfen Mäntel über das zaudernde Paar, drängen zu eiliger Flucht. In den Straßen sieht man laufende, rückstauende, sich ballende Massen, die sich wieder auflösen und weiter laufen. Aus einem Fenster fliegt eine Gestalt, ein Priestergewand bauscht sich im Wind, ein dumpfes Aufklatschen wird von johlendem Gelächter begleitet. In den Champs-Elysées stolpert man über Tote. Hinter den Tuilerien steigt Brandröte auf. Auf dem Pont Neuf undurchdringliche Mauern von Menschen. Und plötzlich ein bekanntes Gesicht, ein bescheidenes, treues, kluges Gesicht unterm breiten Hut der Nationalgarde: Lescures alter Hauslehrer, der ihn sein erstes Alphabet gelehrt hat! Er nimmt sie bei der Hand, er führt sie in die Wohnung seiner Frau im Faubourg St. Germain, er bringt sie am nächsten Tage durch das bewachte Tor, in die Freiheit. Und wieder weint Viktorine, kaum der eigenen Gefahr entgangen, um die Königin, die vergeblich nach Rettern, nach dienenden Händen, nach vertrauten Gesichtern ausblicken muß.

Auch van Duyren erzählt von seiner Gefangenschaft in der Abbaye, von seinem Verhör durch einen Schlächtergesellen. Rabiate Weiber umdrängen ihn. Er antwortet grob, unerschrocken, verächtlich. Nun ja, natürlich ist er Aristokrat und dient seinem König – was man sonst etwa von ihm dächte? Und plötzlich grölende Stimmen hinter ihm: »Er ist unschuldig!« Eine täppische, rauhe Hand streichelt seine Wange, er schlägt danach. »Wir wollen ihm das Leben schenken, dem hübschen Jungen, er soll uns gesunde kleine Bürger machen!« Er wird hoch gehoben trotz seines Sträubens, in der Luft von Arm zu Arm weiter gegeben, durch den Ausgang auf die Gasse geschoben. Irgend jemand streicht ihm den Rock glatt. Ein Gassenjunge, der neben ihm in eine Pfütze tritt, fängt eine Ohrfeige: »Bengel, mußt du dem Herrn die seidenen Strümpfe bespritzen?« Halb besinnungslos, mehr verwirrt von dieser Hexengunst als von dem drohenden Tode vorher, rennt van Duyren ungehindert durch die Straßen.

So rollte Bild auf Bild vorbei, denn auch Heinrich, Royrand, Herr von Domaigné, der Prinz, d'Autichamps und der oder jener hatten noch zu irgendeiner Zeit der letzten vier Jahre in Paris zu tun gehabt, hatten dieses oder jenes Geschehnis mit angesehen, hatten Mirabeau, Danton, Desmoulins gekannt, den Prozeß des Königs zum Teile mit angehört, die Kämpfe der Girondisten entstehen und austragen sehen. Die ganze Ungeheuerlichkeit eines Weltuntergangs, wie er noch nie erhört war, solange man Geschichte schrieb, stieg noch einmal empor, vielgestaltig, weitspannend in der Wirkung, gigantisch im Zerstören, unfaßbar in ihren Ursachen. Mehr, weit mehr als ein gesellschaftlicher Umsturz war dieses Ereignis, es war ein Riß durchs Weltall, ein Hüben und Drüben von Gut und Böse, eine satanische Legion gegen eine himmlische, ein Abgrund von Haß, über den hinweg keine Stimme reichte. Louise, die einzig Schweigende in diesem Kreise, dachte verstört: Ist das so? Ist alle Schuld drüben und keine bei uns? Hat jemand durch uns gelitten? Sind nicht Menschen verhungert, während wir im Überfluß saßen? Ist ein Unterschied zwischen einem Bettelkinde und einer Königin? Sie sprach es nicht aus, dachte den Gedanken nicht einmal zu Ende. Die heuchlerische Gerechtigkeit, die den Mord an der Königin gefordert und beschönigt hatte, würgte immer wieder an ihrer Kehle. Sie preßte die Hände im Schoße zusammen, blaß vor Ekel und ganz verelendet im Gefühle eines Unrechtes nach beiden Seiten hin.

Sie sah Bonvouloir an, deren braunes Gesichtchen im Zorn erglühte, in mitfühlender Angst verblaßte, in Spannung erstarrte, in Rührung sich löste, eine weiche Musik hundertfacher Schwingungen widerspiegelte. Wie sie miterlebt! dachte Louise neidvoll. Sie hat nicht Einen gekannt von diesen Herzögen und Prinzen, sie hat Paris nie gesehen, die Königin hat ihr nie zugelächelt. Und doch leidet sie den Schmerz, das Entsetzen dieser unbekannten Tausende, doch gibt sie ihr ganzes Gefühl der Strafe, der Vergeltung, dem Hasse gegen Feinde, die ihr näherstehen müßten als wir, und sie sieht mit begeisterter Entsagung ihren liebsten Mann in den Krieg ziehen für eine Sache, die ihr nicht den mindesten Vorteil bringt. Wie sie ihm die Hand drückt! Wie ihre Augen ihn aufrufen, wie sie ihm Heldenmut zuflammt, wenn er von der Berechtigung unseres Aufstandes spricht! Ja, sie ist uns verbunden durch ein magisches Band, so wie ich jenen verbunden bin durch einen rätselhaften Zug – sie brach in Entsetzen die gefährliche Gedankenreihe ab. Scheu blickte sie auf ihren jungen Gatten, dem sie gerne ein Zustimmen, ein Miterleben gezeigt hätte, wie Bonvouloir dem glücklichen Heinrich. Warum konnte sie es nicht? Van Duyren mußte fühlen, wie fern sie ihm war, auch wenn sie ab und zu in das Urteil der anderen einstimmte. Bonvouloir rief in lodernder Entrüstung: »Der Mord an der Königin ist das Letzte gewesen, was Gott zulassen konnte! Jetzt muß der Blitzstrahl der Vergeltung kommen! Darum sind wir bis hierher vorgedrungen. Morgen wird die ganze Bretagne erwacht sein, in England werden sie alle Segel spannen, die großen Mächte werden ihre Heere entsenden. Jetzt müssen wir siegen!« Louise, im gleichen Gedankengange, bemerkte sachlich: »Die Republik hat bewiesen, daß sie sich auch nur durch Gewalt behaupten kann. Gewalt gepaart mit Verlogenheit. Das wird ihr die Anhängerschaft vieler Redlicher nehmen.« Ein nüchternes: »Gewiß, so ist's,« kam ihr als Antwort. Aller Augen hafteten an Bonvouloirs sprühender Leidenschaftlichkeit, die Heinrichs geradezu mit Bewunderung. Da setzte sie sich leise neben van Duyren, griff nach seiner Hand und flüsterte: »Auch ich denke wie Bonvouloir. Wir werden siegen, weil das Gute endlich siegen muß. Sonst wär' kein Gott.« Mit erwärmendem Herzen nahm sie wahr, wie er sich dieser Worte freute.

Frau von Bonchamps erhob die Stimme und sagte: »Ich habe immer alles gebilligt, was mein Gatte tat. Aber nun kränkt es mich, daß er ein paar Stunden vor seinem Tode noch die gefangenen Patrioten begnadigt hat, die unsere Offiziere, um sie nicht über die Loire zu schleppen, erschießen wollten. Es waren beinahe viertausend.«

»Soldaten?« fragte jemand.

»Größtenteils Bürger aus den Städten des Boccage, die sich verräterisch gegen uns benommen haben. Hätte er damals schon von dieser Büberei an der Königin gewußt, er hätte sie nicht lebend entkommen lassen.«

Nun konnte Louise doch nicht an sich halten. »Um Gottes willen, gnädige Frau,« rief sie, »bedauern Sie nicht, daß Ihr edler Verstorbener sich nicht mit Untaten befleckt hat, die wir dem Feinde vorwerfen! Was können jene armen Leute für die Beschlüsse des Konvents? Am Tode der Königin waren sie in jenen Tagen gewiß ganz unschuldig.«

»In einer Republik ist keiner unschuldig,« verkündete van Duyren mit Nachdruck. »Da ist doch Volk und Regierung Eines.« Oberst Keller lachte ein bißchen: »Wenn es so wäre!« Die Mehrzahl der Anwesenden stimmten der Frau von Bonchamps zu: es hätte keine Gnade an den Königsmördern geübt werden dürfen, es dürfe in Zukunft keine geübt werden. Das Volk habe Abgeordnete; es könne Protest erheben; es hätte schon nach der Hinrichtung des Königs Protest erheben müssen. Der letzte Knecht der Patrioten wäre mitschuldig am Tode der Königin. Van Duyren gehörte zu denen, die am lebhaftesten für diese Ansicht eintraten. Als er geendet hatte, bemerkte er mit Unruhe und Erstaunen, daß über Louisens Wangen Tränen liefen.


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