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3.

Als Livarot gegangen war, erhob sich Bonvouloir, die sich bis dahin still im Hintergrunde des Zimmers verhalten und ihr Kind betreut hatte, und sagte nachdenklich: »Es ist nicht alles töricht, was er sagt, dein patriotischer Freund. Es ist vielleicht wahr, daß wir nur dazu da sind, Fundamente zu graben, das Wort hat mir gefallen, es ist mir früher schon Ähnliches durch den Kopf gegangen. Warum müßten wir sonst sterben, ohne einen Erfolg zu sehen? Aber wenn es dann wieder einmal zum Bauen kommt, dann, bei Gott, sollen die alten rechtmäßigen Herren das Haus wieder aufrichten, und nicht diese Hunde! Die sind zum Niederreißen gut genug gewesen.«

Erstaunt sah Louise die Freundin an. »Sieh da!« sagte sie mit milder Heiterkeit, »wirst du philosophisch, kleine Bonvouloir? Aber was du da eben gesagt hast, scheint mir so gut, daß du es vor Livarot noch einmal sagen sollst. Vielleicht sogar kannst du besser mit ihm rechten als ich!«

Bonvouloir, leicht verlegen, erwiderte: »Seit Heinrich es ausgesprochen hat, geht mir das Bild von dem Manne, der die Erdschollen im Acker zerkleinert, immer im Kopfe herum. Es ist wohl im Leben so, daß einer gräbt, der nächste säet und der dritte erntet, das Leben ist nun einmal so kurz! Es ist hart, daß wir nie sehen werden, was schließlich auf dem Boden wächst, den wir jetzt mit unserem Blute düngen. Aber eine Republik darf es nicht sein, denn das meiste Blut ist von uns geflossen, es ist lauter edles Aristokratenblut geflossen, wie könnte da die Ernte nicht uns gehören?« Louise schloß die Augen und sagte: »Bonvouloir, es ist auch Bürgerblut vergossen worden, denke an alles, was unsere Bauern getan haben!« Aber Bonvouloir wollte es nicht wahr haben, daß die Bauern ebenso schlimm gewütet hätten wie die Patrioten.

Livarot gab sich einen Vorwand, um wiederzukommen, indem er Louise das Tagebuch der verstorbenen Schwester brachte. Als sie es hielt, drückte sie es an die Brust, ihre Augen füllten sich mit Tränen, sie las lange in wortloser Versunkenheit, und Livarot sah sie an, ohne sie durch eine noch so leise Bewegung zu stören. Endlich erhob sie das feuchte Gesicht zu ihm und sagte mit einem schmerzlichen Lächeln: »Livarot, Sie kämpfen gegen sich selbst, indem Sie mir dies Buch in die Hände geben. Welches Argument könnte jetzt noch stark genug sein, die ergreifende Lehre dieses Buches zu entwerten? Diese Menschen waren einig mit sich selbst, sie sahen ihre Aufgabe klar vor sich, sie standen fest auf ererbtem Boden und starben lieber, als daß sie sich verleugnet hätten. Warum war meinem Geiste diese gerade Straße damals so fremd? Aber nun will ich nicht mehr abirren, nun will ich den Meinen verbunden bleiben, und Sie sollen nichts mehr sagen, um mich hinüberzuziehen in die lockenden und betörenden Irrgänge Ihrer gefährlichen Lehre.«

Livarot erwiderte bewegt: »Sie haben mich mißverstanden, wenn Sie glaubten, ich wollte dies, liebe Louise. Ich möchte Sie nur nicht verzweifeln sehen, möchte nicht, daß die Welt Ihnen ein Tummelplatz wüster Gewalten sei, möchte, daß Sie die Weisheit fühlen, die wir verehren und die wir noch mit keinem Namen belegen konnten, weil wir ahnen, daß wir noch viele Jahrhunderte um ihre Entschleierung werden kämpfen müssen. Aber ich will gewiß nichts mehr reden, wenn es Ihnen wie Überredung erscheint.«

Louise sagte: »Wenn Sie ein Wort wissen, das mir die Gräßlichkeiten eines solchen Mordens, solcher unmenschlicher Vernichtungswut mildern kann, so halten Sie es nicht zurück. Ich würde Ihnen dankbar sein, wenn ich sterben dürfte ohne dies Bewußtsein, daß des Menschen Trachten böse sei von Grund auf. Aber versuchen Sie nicht mehr, der Republik die göttliche Rolle der Allesbeseligenden zuzuschreiben. Ich werde nichts derartiges mehr glauben.«

Livarot legte die Hand über die Augen und dachte ein wenig nach. »Vielleicht,« sagte er, »wird es Ihnen wohltun, wenn ich Ihre Gedanken auf ganz andere und fernere Bilder richte. Ich möchte Sie anregen, ohne Sie zu ermüden. – Also stellen Sie sich, liebste Freundin, den Mann vor, der zuerst von allen einen vom Blitz entzündeten Baum erblickte. Er hat noch nie in seinem Leben Feuer gesehen, er tritt ahnungslos aus seiner finsteren und kalten Höhle und steht, entzückt und berauscht, vor der dröhnenden Herrlichkeit eines Gottes! Er stürzt hin, er greift mit den Händen in die goldenen Falten dieses überirdischen Gewandes – und fühlt entsetzt eine bittere Feindschaft, eine schmerzende Abwehr sich entgegenschlagen. Stellen Sie sich nun die Ratlosigkeit und tiefe Verzweiflung in der dunklen Seele dieses armen Menschen vor!

Wäre dieser Mann ein Tier gewesen, er würde in ewiger Flucht jede Erscheinung gemieden haben, die an den hassenden und verzehrenden Gott im roten Mantel nur von ferne erinnerte. Aber dieser Mann war ein Mensch, das erste Keimen göttlicher Überlegung ging leise in seinem Gehirne vor sich. Er glaubte trotz der schmerzenden Wunden, daß dieser schöne, glänzende Gott ein wohltätiger Gott sein könne, wenn man nur verstünde, ihn sich geneigt zu machen.

Er blieb auf den Spuren dieses Gottes, wo immer er ihn fand. Er versuchte erneut, sich ihm zu nähern. Was man nicht tun durfte, das lehrte dieser Gott ganz genau, oh! da war kein Zweifel möglich! Mit der scharfen Peitsche des Schmerzes lehrte er es, unerbittlich streng strafte er jeden unbesonnenen Schritt. Und jener arme, dunkle Mensch mochte denken: ›Er ist böse, der schöne Gott! Aber er ist auch wieder gut, weil er Schmerz erregt! Denn ohne diesen Schmerz wurde ich geradezu Hineinlaufen in seinen großen, roten Magen, der so prächtig leuchtet, und er würde mich verzehren, ohne daß ich das geringste davon wüßte!‹ Und von diesem Schmerze geleitet, gleichsam umhegt, lernte der Mensch weiter, wie er es anstellen müsse, um sich den schönen Gott zum Freunde zu machen. Zum Freunde und – nach jahrhunderte-, nach jahrtausendelangen Versuchen und Fehlversuchen – zum Diener! Dahin ist der Mensch gekommen, weil er nicht, wie das Tier, die einfache Wirklichkeitserfahrung hinnahm, sondern weil er hinter dieser Erfahrung etwas suchte: das Gute, das Zweckvolle, das Göttliche. – Können Sie noch folgen, liebe Louise?«

Über Louisens schattenhaftes Gesicht ging ein blasser Schein von Humor. »Sie rufen meine Jugend wieder auf, Livarot,« sagte sie freundlich; »unser guter alter Lehrer, Abbé Ségure, pflegte auch solche Geschichtchen zu erzählen, nur daß er sie immer mit einer sehr greifbaren Moral schließen ließ. ›Die Freiheit, mein Kindchen,‹ würde er gesagt haben, ›ist solch schöner und gefährlicher Gott, sie verbrennt alle, die sich von ihr verführen lassen! Habe du lieber nichts mit ihr zu schaffen, künftige Geschlechter werden sich mit ihr abzufinden wissen.‹ Ja, diese Lehre würde ich dazumal aus der Geschichte gezogen haben. Nun aber möchte ich gern die Ihre hören.«

Livarot erwiderte: »Es entspricht durchaus dem, was wir von einem Abbé erwarten, daß er vor neuen und unbekannten Göttern warnen muß. Wie aber, ich bitte, hätten die ›künftigen Geschlechter‹ lernen sollen, sich das Feuer dienstbar zu machen, wenn der erste sich vor verbrannten Fingern gefürchtet hätte? Sie wollen meine Moral hören? Ich weiß keine. Ich denke nur daran, welch ungeheurer Mut und welches Vertrauen dazu gehörte, sich immer wieder an die dämonische Gewalt dieser Erscheinung heranzumachen, trotzdem sie gewiß immer neue Schrecknisse zeigte. Schöne Dinge mag der arme dunkle Mensch angerichtet haben, als er zum ersten Male die blauglosende Blume eines entzündeten Astes in seine Höhle trug, um sich an ihr zu wärmen! Konnte er wissen, welch unstillbaren Hunger der schöne Gott nach Heulagern und Felldecken hatte, und mit welch unfaßbarer Schnelligkeit er sich ihrer bemächtigte? Konnte er wissen, daß nicht nur sein rotes Kleid fraß und tötete, sondern daß der graue Hauch, den er aus seinem Munde blies, den Aufenthalt in der Höhle zu unsagbarer Qual machen, vielleicht die Kinder des Mannes in Todesschlaf senken, ihn selbst zu rasender Flucht treiben würde? Ich weiß nicht, ob die Menschen damals schon eine Sprache hatten. Wenn ja, so mag die erschrockene Frau dieses Mannes wohl allerlei Liebliches gesagt haben – wie etwa: Dunkelheit und Kälte waren am Ende doch erträglicher gewesen als das, was der neue Gott brachte! Nun ja! Er hätte ja auch ruhig weitere Generationen lang in Dunkelheit und Kälte sitzenbleiben können, wenn der Keim des inneren Wachstums nicht in ihm gelegen hätte, wie in jeder Pflanze. Da dieser Keim in ihm nach aufwärts drängte, hatte er keine Wahl, der arme Mann.«

Louise hatte die Augen geschlossen und schwieg lange mit einem ruhigen und traumglücklichen Gesichte, ohne zu fühlen, mit welcher Innigkeit Livarot sie ansah. Den durchschauerte mit Wonne das Bewußtsein, die Trauer der geliebten Frau durch die spielenden Lichter weithintragender Gedanken erhellt zu haben, wie das nächtliche Meer erhellt wird durch den Widerschein eines Lichtes am Mast eines Bootes. ›Gottlob!‹ dachte er, ›die Leidenschaft des Denkens ist noch wach in ihr – der tiefste Antrieb zum Leben ist noch nicht erloschen!‹ Er berauschte sich in dem Gedanken, aus ihrer inneren Anteilnahme an den Dingen Genesung erwachsen zu sehen, und die Freude ließ ihm die Augen feucht werden.

Nach einer Weile öffnete Louise die ihren und sagte: »Genug Stoff zum Nachdenken für mich für zwei oder drei Tage, Livarot! Dann kommen Sie wieder! Aber ehe Sie gehen, sollen Sie hier mit Bonvouloir noch ein Frage- und Antwortspiel spielen, sie ist voll Neugier, was Sie ihr antworten werden!« Livarot fragte erstaunt: »Frau Marquise?« und Bonvouloir kam mit rotem Gesichte und sehr verlegener Miene aus ihrer Ecke. Sie nahm sich aber tapfer zusammen und tat ihre Frage so, daß man merkte, sie habe lang darüber nachgedacht und sie förmlich auswendig gelernt.

»Ich habe,« sagte sie, »Ihr Gespräch mit meiner Freundin verfolgt, und es ist wohl so, wie Sie sagen, daß wir, die Königlichen wie die Patrioten, jetzt nichts weiter tun als zerschlagen, umgraben und keinen Stein auf seinem Platze lassen. Gut, es soll wohl so sein! Aber wichtig scheint mir nun die Frage, wer aus all diesem Wust nun wieder eine Ordnung zimmern soll. Das Haus muß doch wieder aufgebaut werden, das Feld soll wieder Ernte tragen. Und da sage ich: König und Adlige sollen die Baumeister sein, denn sie haben das gelernt.«

Livarot lächelte und sagte: »Ich denke, da wird der natürliche Wettbewerb entscheiden. Wessen Stand die besten Baumeister besitzt, dem wird es in die Hand gelegt werden. Wer die hellsten und gesundesten Wohnungen für die größte Zahl Menschen baut, der wird Baumeister werden.« Bonvouloir, der die Gabe der bildhaften Rede nicht voll gegeben war, schwieg befangen. Aber Louise mischte sich ein, offenbar erheitert von der anregenden Antwort, und bemerkte: »Ich hätte gedacht, wer die festeste Burg gegen Feinde aller Art zu bauen versteht, der soll Baumeister werden.«

Livarot sagte: »Ich bin ein Mann der Justiz und ich erfahre vieles. Es ist mir aufgefallen, daß die reichen Höfe, die feste Mauern und bissige Hunde haben, am meisten von Räubern heimgesucht werden. Der bescheidene Kleinbauer in seiner Hütte hat keine Feinde. Ich weiß also nicht, ob die Burgen ein so guter Schutz gegen Feinde sind. Besser wäre, keine zu haben.«

Jetzt machte Bonvouloir große Augen. »Wenn ich diesen Gedanken zu Ende denke, Herr Livarot, so wollen Sie sagen, daß es keine reichen Leute mehr geben soll!« Livarot antwortete mit weicher Stimme: »Es soll nur noch reiche Leute geben, Frau Marquise!«

Da ihn nun beide Frauen mit ungläubigen und etwas spöttischen Blicken betrachteten, fuhr er fort: »Ich denke dabei natürlich nicht, daß alle Menschen reich sein sollen an Geld und Gut. Reich sollen sie sein in dem besten Sinne, den es geben kann, darin, daß sie alle das sollen tun können, wozu die Natur den Triebkeim in sie hineingelegt hat. Wer gerne Soldat sein will, soll Soldat sein können, und wer Tänzer, Arzt, Seemann oder Kaufmann, Bauer oder Handwerker sein will, soll es können und soll alle Möglichkeiten haben, etwas Rechtes zu lernen in dem, was er sich erwählt hat. Es soll ihn niemand hindern, aber es soll ihm jeder helfen, das zu werden, was die Natur ihm befiehlt, denn das Gebot der Natur soll heilig sein. Und es soll kein Stand mehr gelten oder edler sein als der andere, denn keinen hat ein König gemacht, sondern alle hat die heilige Natur und die Arbeit des einzelnen Menschen gemacht, so haben alle gleiches Recht und gleichen Ursprung. Und nur, wer seinen Stand schlecht ausfüllt, wer das Gebot der Natur in sich wegen Faulheit oder törichter Zeitvergeudung nicht voll erfüllt, der soll übergangen werden, und der wird auch arm sein. So denke ich mir das Haus, das gebaut werden muß, und es soll ein offenes Haus sein für jeden, der eintreten will und seinen Stand ordentlich ausfüllen.«

»Genug, Livarot!« rief Louise, der versagenden Stimme Befehl und Bitte abringend. »Sie malen Dinge, die sich nie erfüllen können, solange die Welt auch stehen wird. Wir dürfen nicht zuhören, wenn Sie solche berauschende Bilder zeigen, die Wirklichkeit sieht zu erbärmlich daneben aus! Gehen Sie jetzt, gehen Sie! Sie könnten noch einmal Glauben in mir erwecken, und so kurz vor meinem Tode darf das nicht mehr sein: das Jenseits könnte mir unvollkommen erscheinen neben einer Welt, wie Ihre Gedanken sie schaffen!«

Die Tage bis zu Livarots neuem Besuche füllte Louise zum großen Teile damit aus, in dem Tagebuche zu lesen, das sie nun nicht mehr von ihrer Seite gab. Sie weinte dabei oft in einer stillen, ergebenen Weise, machte aber auch ab und zu Aufzeichnungen hinein, die deutlich erkennen ließen, wie der Glaube an das Neue wieder leise seine flimmernden Netze um sie spann. Sie war stets etwas erregt, die Teilnahmlosigkeit und stumpfe Trübseligkeit war von ihr gewichen, manchmal schien es, als ob das Leben ihr noch etwas abgewinnen könne. Agathe sah erfreut die Wandlung. Ohne sich über die drohende Nähe des Todes zu täuschen, empfand sie es tröstlich, daß Louise ihre letzten Tage noch mit einem Scheine von Leben erfüllen konnte. Mehr noch beglückte es sie, daß Louise um den Besuch des wackeren Proust bat und sich vieles von ihm erzählen ließ. Proust war erstaunt, wie tief und ehrlich Louise sich mit dem republikanischen Gedanken befaßt hatte, wie groß und rein sie dachte. Er sagte später zu seiner Frau: »Republikaner werden manchmal auch in Palästen geboren, wie mir scheint.« Und er warf alle Bedenken beiseite, diese wunderbare Frau in seinem Hause zu beherbergen, solange es nötig sein würde.

Er befürwortete auch, daß Louise den Besuch der Frau von Bonchamps empfangen dürfe, die in Nantes als Arbeiterin in einem Hutgeschäfte wohl besseren Schutz genoß, als ihre Arbeit zahlte. Agathe sah sie zuweilen und brachte sie eines Tages mit in ihr Haus. Louise begrüßte sie mit wahrer Freude. Frau von Bonchamps bestätigte die Geschichte ihrer Rettung durch den begnadigten Gefangenen, so wie Louise sie vernommen hatte, und beschrieb ihr Leben unter den einfachen Leuten, in deren Hand sie sich gegeben hatte. »Sie ahnen alle, daß ich nicht ihresgleichen bin,« sagte sie, »denn schon meine Unfähigkeiten verraten mich. Sie könnten eine hübsche Summe Geldes verdienen, wenn sie mich anzeigten, aber sie scheinen einen solchen Gedanken schlechthin nicht zu fassen. Es leben viele der Unsern so wie ich verkleidet unter der kleinen Bürgerschaft, auch meine Schwägerin, die am gleichen Tage wie du Frau, am gleichen Tage Witwe geworden ist. Die Leute helfen uns, soviel sie können – und es ist doch äußerst gefährlich für sie selbst!«

Louise fragte Frau von Bonchamps nach Frau von Lescure und erhielt die Antwort: man glaube mit Bestimmtheit zu wissen, daß sie sich irgendwo in der Bretagne oder in der Normandie, als Bäuerin verkleidet, aufhalte. Sie würde wohl ebenso den Schutz und die Mildtätigkeit des Volkes in Anspruch nehmen, wie so viele ihrer Standesgenossen, würde Entbehrung und Arbeit kennenlernen und sich schließlich ganz erträglich dabei befinden. »Dieser Krieg hat sich gelohnt,« schloß Frau von Bonchamps mit bitterem Lachen. »Gegen die Republik wollten wir kämpfen und haben die wahre Republik in die Welt gesetzt, in der die Gleichheit der bitteren Not gilt. Die Gleichheit des Hungers, der Mühsal, der Todesangst! Dafür sind unsere Männer gestorben.«

»Nein,« sagte Louise, indem sie Frau von Bonchamps die Hand drückte und sie mit warmen, teilnehmenden Augen anblickte, »nicht dafür, Liebe! Sondern vielleicht doch für einen Adel: für den Adel der guten, selbstlosen und hilfreichen Menschen, von denen wir bisher so wenig gewußt haben.« –

Bonvouloir zeigte, nach jenem ersten und einzigen Versuche, an den Gesprächen ihrer Freundin teilzunehmen, nie wieder Lust oder Mut zu so gefährlichem Waffenspiel. Bei Livarots nächstem Besuche kam sie mit der Bitte zu ihm, er möchte ihr ein Stück Tuch bringen von der Farbe, die Heinrich so gern getragen habe, sie wolle sich einen Mantel daraus nähen. Erstaunt, aber ohne zu fragen, erfüllte Livarot ihren Wunsch, und von da ab schien Bonvouloirs Aufmerksamkeit zwischen dem Kinde und dem blauen Gewandstücke, das sie geheimnisvoll arbeitete, ganz erschöpft zu sein. Sie hörte nicht mehr zu, wenn Louise und Livarot zusammen sprachen, ja, sie wandte auch keinen Blick mehr nach ihnen.

Livarot kam häufiger und verweilte länger, wie die Tage vorrückten. Zuerst pflegte Louise noch ab und zu mit Gegengründen anzukämpfen, wenn er seine Zukunftsgedanken entrollte, aber nach und nach, wie ihre Schwäche zunahm, verzichtete sie auf Antwort und wehrte nur ab und zu mit einem Kopfschütteln, mit einem müden Augenaufschlag das drängende Wehen der heißen Gedankenstürme ab, die an ihrer Seele rissen wie Föhn an vereisten Wäldern. Immer hielt sie mit beiden Händen das Tagebuch umklammert, und manchmal drückte sie es an die Brust wie einen Schild gegen das Eindringen brennender Pfeile. Livarot sah es und milderte seine Rede. Dann forderte ein klarer, erwartungsvoller Blick wieder zum Sprechen auf, und fort fuhr er, wie ein Prophet, den Strom seiner Verheißungen zu ergießen.

Was er verhieß? Ach, lieber Freund! Das Herz tut einem weh, wenn man die bescheidenen Ideale jener Zeit in Betracht zieht und bedenkt, wieviel Blut darum geflossen ist! Das Kühnste, das Weitgreifendste, was die Revolution von 1789 fordern konnte, es ist noch nicht ein Zehntel von dem, was heute der letzte Mensch als sein natürliches Recht in Händen hält – und was ihm noch bei weitem nicht genügt. Daß jedes Kind lesen lernen sollte, daß jedem Lernenden Wahl und Weg seines Berufes frei sein sollte, daß jede Arbeit bezahlt werden müsse, daß Staatsgesetze Alter und Hilflosigkeit schützen würden, daß die Welt und alle ihre Schätze offenstehen sollten für hellen Geist und offene Hand – welche Utopien! Livarot vertrat sie, und Louise sah, im Banne der wirtschaftlichen Beschränktheiten ihrer Zeit, mit ungläubigem Lächeln nur Volkselend und Staatsverfall aus jeder dieser Forderungen erwachsen. Und dennoch erlag sie langsam dem Zauber dieser Vorstellungen. Immer schwächer wurde ihre Abwehr, immer seltener sah Livarot das unruhige, zweifelvolle Flackern eines gequälten Geistes in ihren Augen. Manchmal sogar lächelte sie leise und innig, als ob ein Bild ihr Herz wohltuend berühre. In den letzten Tagen endlich geschah es, was er mit dem heißesten Beben erfüllter Glückseligkeit wahrnahm, daß sie das Tagebuch losließ, ihre Hand auf die seine legte und sie gelegentlich, bei einem starken Worte, ein wenig drückte.

Als das Ende nahe war, suchte Livarot nach einem Evangelium für die scheidende Seele, und was er fand, war jenes Revolutionsprogramm, dessen Louise einmal Erwähnung getan hatte, und das wohl zu den schönsten gehört, die gläubige Menschen aufgestellt haben. Und wieder kommen mir die Tränen, Freund, wenn ich den Inhalt jenes Programmes und die tatsächlichen und praktischen Ansprüche jener Menschen miteinander vergleiche. Sie, die ein übermenschliches zu wagen glaubten, wenn sie allgemeine Schulbildung forderten, hielten sich für befähigt, Gebote durchzuführen, die keine Entwicklung des Menschengeistes jemals voll erfüllen wird. An das Höchste, an die Vollkommenheit, an die Göttlichkeit im Menschen griffen diese Gebote, deren Verwirklichung die Männer jener Tage ohne einen Schauder des Zweifels in Angriff nahmen. Und das sind die Worte, bei deren Klang Louise, die Wange vertrauensvoll auf ihres Freundes Hand gelegt, hinüberschlief in ein besseres Leben:

 

»Wir wollen:

die Moral an die Stelle der Selbstsucht setzen,
die Ehre in Ehrlichkeit wandeln,
Grundsätze statt Gebräuche heiligen,
Pflichten statt Wohlanständigkeiten,
Vernunft statt der Mode;
statt des Unglücks wollen wir das Laster verachten,
Frechheit soll edlem Stolze weichen
Eitelkeit der Seelengröße;
statt des Goldes wollen wir den Ruhm lieben,
gute Menschen statt »guter Gesellschaft«,
Verdienst soll uns helfen statt Intrigue,
Genie soll gelten statt Schöngeisterei,
wahres Glück statt Wollust;
ein großes, mächtiges und glückliches Volk soll stehen an der Stelle eines schwachen, frivolen und liebenswürdigen:
reines, freies Menschentum an Stelle von Gottesgnadentum!«

 

Bonvouloir, die von Schluchzen erschüttert am Fensterkreuz lehnte, wandte sich bei den letzten Worten um und murmelte heiser: »freies Menschentum – Narrheit! Nicht einmal ein Dudelsackpfeifer kannst du sein ohne Gottesgnadentum!«

Erschrocken beugte sich Livarot über die sterbende Frau. Als er gewiß war, daß sie nichts mehr hören konnte, antwortete er friedlich auf Bonvouloirs Angriff: »Wenn Sie das Gottesgnadentum so verstehen, Frau Marquise, dann ist kein Unterschied mehr zwischen Ihnen und uns.«


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