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Bei späterem Zurückdenken empfand Bonvouloir jenen Tag von Bressuire, trotz der kleinen Zuchtlosigkeit des vornehmen Führers, als den letzten freudigen und sorglosen vor einer langen Reihe schwerer, angsterfüllter und verhängnisvoller. Denn Herr von Lescure hatte ganz richtig geurteilt, als er starke Gegenschläge von seiten der Republik erwartete, und es dauerte gar nicht lange, bis man gleichsam das Niederschmettern einer gewaltigen Löwenpranke spürte. Am ersten Mai beschloß der Konvent, ein wohlausgerüstetes Heer von zwölftausend Mann nach dem Poitou zu schicken, nachdem bereits die Stadtbesatzungen in dem ganzen Gebiete zwischen Loire und Vendée, an der Küste und im Marais, durch Anwerbungen verstärkt und nach Möglichkeit kriegsbereit gemacht waren.
Immerhin wehten die goldenen Fittiche des Sieges noch um die blaue Marienfahne. Auch die Edelleute hatten, von Lescure, Marigny, Sapinaud de la Veirrie und anderen militärisch geschulten Männern geleitet, ihr Unternehmen in geordnete Bahnen gebracht, nachdem es nun einmal unaufschiebbar und nicht mehr heimlich zu betreiben war. Sie hatten vor allem eine einheitliche Leitung von einem bestimmten Punkte aus ins Werk gesetzt, einen geistlichen und einen weltlichen Rat einberufen, der eine Art Gegenregierung darstellte, und ein kleines Heer geschulter Soldaten zusammengebracht, dem man die Freiwilligen und Ungeschulten bei jeder Gelegenheit zweckdienlich einordnen konnte. Es bedurfte viel guten Zuredens und des ganzen Zaubers von Larochejacqueleins hinreißender Persönlichkeit, ehe die Bauern des Boccage das Wesen militärischer Zusammenarbeit begriffen. Sie waren von übermenschlicher Tapferkeit, wenn sie angriffen; fanden sie sich aber in ungünstiger Lage oder vor unverhoffter Überzahl, so verschwanden sie schemenhaft in Busch und Fels und ließen dem verdutzten Gegner das Feld ›bis auf ein andermal!‹ Niemals durfte man ihnen zumuten, einen eroberten Platz auch besetzt zu halten; nach gewonnener Schlacht feierten sie ernsthaft ihren Sieg und kehrten dann heim an ihre Geschäfte mit dem guten Bewußtsein erfüllter Pflicht. Oft geschah es, daß ein wohlvorbereiteter Überfall mißlang, weil ein Steinkreuz oder eine Martersäule sich zufällig auf ihrem Sturmwege befand: sie knieten dann alle einmütig davor nieder und verrichteten ihre gewohnten Gebete, unbekümmert um die strategischen Folgen einer solchen Verzögerung und unbekümmert um den Zorn ihrer Führer. Befehle nahmen sie überhaupt nicht gern an, folgten aber freiwillig, wenn ein Mutiger voranging oder ein Kluger ihren Ehrgeiz zu reizen wußte. Kurz, sie glichen Rüden eher als Soldaten, und es war wie ein Wunder, daß ihnen noch eine ganze Reihe größerer Unternehmungen zum Glücke ausschlug. Am dreizehnten Mai nahmen diese Bauernheere, die sich jetzt »die Königliche und Katholische Armee« nannten, Chataigneray, am fünfundzwanzigsten Fontenay, unmittelbar darauf Cholet, Doué und Vihiers und endlich am zehnten Juni Saumur. Um diese Zeit konnte der »Oberste Rat« der Edelleute, der nunmehr in Châtillon festen Sitz hatte, an die Kirchentüren von mehr als vierzig Gemeinden einen Erlaß anschlagen lassen, der folgenden Wortlaut hatte:
»Der Himmel selbst spricht für die heiligste und gerechteste Sache. Das Zeichen des Kreuzes Jesu und das Banner des Königtums siegen allerorts über die blutige Fahne der Anarchie. Wir sind Herren der Herzen und Meinungen, mehr noch als der Städte und Dörfer, die uns mit den süßen Namen ›Väter und Befreier‹ begrüßen. Laut dürfen wir unsere Ziele vor der Welt verkünden: die Wiederaufrichtung von Altar und Thron! Erst wenn dies Ziel erreicht ist, dürfen wir unsere Waffen im Tempel des Ewigen niederlegen und einen Krieg beenden, der mit seinen Siegen wie mit seinen Niederlagen das Herz unserer gemeinsamen Mutter Frankreich gleich schmerzvoll zerreißt.«
Gezeichnet war dieser Erlaß mit den Namen der Mitglieder des Obersten Rates, unter denen Lescure und – trotz seiner Jugend – Larochejacquelein in erster Linie standen, und gegeben war er: Im ersten Jahre der Regierung Ludwigs des Siebzehnten! Das Papiergeld, das um diese Zeit im Lande kreiste, mußte vom Obersten Rate gestempelt sein und jenes heilige Datum aufweisen, um bei den Bauern zu gelten.
Dies alles sah wie Sieg aus und mochte wohl die Herzen der einsamen Frauen, die in La Grange versammelt waren, mit Zuversicht erfüllen, wäre der Flügelschlag der Siegesbotschaften nicht begleitet gewesen von dem gleich schnellen dunkler Gerüchte über gewaltige Aufmärsche republikanischer Heere, über Zusammenstöße da und dort, über solch weitverzweigtes, pilzhaft aufschießendes Dickicht feindlicher Posten, daß die Angst stets hinter der Freude herjagte wie ein Flug Krähen hinter einer Schar weißer Tauben. Lescure, Larochejacquelein, van Duyren und Julian standen bei den Heeren, Herr von Texier hatte sich, da er nun seine Teilnahme nicht länger zurückhalten konnte, in den Dienst des Obersten Rates gestellt, und die Damen im Schlosse saßen so allein in ihrer Bangigkeit, wie die Frauen in den Hütten. Frau von Lescure hatte ihr kleines Töchterchen ihrer einstigen Amme in Obhut gegeben und hielt sich selbst stets in möglichster Nähe ihres Gatten auf. Bonvouloir, die noch immer nichts von ihrem Vater wußte und eine Rückkehr nach Bressuire, wo das Regiment der Republik wieder unangefochten saß, mit gutem Grunde fürchtete, war wieder in La Grange eingekehrt und dort in Liebe und Freude empfangen worden. Ihre alte Verwandte war plötzlich gestorben, Bonvouloir nahm ungefragt ihre Stelle ein, blieb aber im vertrautesten Umgange mit den Damen, denen sie unvermerkt ihren eigenen unerschütterlichen, von vielen Wundern bestärkten Glauben übermittelte, und damit ihre Fröhlichkeit. Die sanfte Henriette besonders glaubte in ihr seit dem Tage von Bressuire, den Bonvouloirs Botengang insofern beeinflußt hatte, als er Lescures Freunde in der Stadt selbst vor Unüberlegtheiten und damit die Gefangenen vor Überführung in eine Festung bewahrte, einen menschgewordenen Engel des Himmels zu sehen.
Der Dornstrauch am Wege war wiederum Louise, die ihre Stimmung in keiner Weise der der übrigen Gesellschaft anpassen wollte. Es konnte keiner an ihr vorübergehen, ohne gezupft zu werden, und wenn sie einem ein Flöckchen schönen Glaubens ausreißen konnte, so schien dies ihr Befriedigung zu geben. Sie haßte und fürchtete diesen Krieg, von dem sie sagte, daß er den Adel alles kosten würde, was die Revolution ihm noch gelassen, und für Siegeshoffnungen hatte sie nur ein Achselzucken und ein böses Lachen. Die Landung englischer Truppen auf der Insel Jersey, mit der Lescure so stark rechnete, die Hilfe der Bretagne wie der großen europäischen Mächte nannte sie Wechsel auf die Zukunft, die niemand einlösen würde. Solange als möglich redete sie Vater und Bräutigam zu, eine Verständigung mit der Regierung zu suchen, und erschöpfte sich in Vorschlägen, wie das bisher Verfehlte gutzumachen, zu entschuldigen oder zu verschleiern wäre, wobei sie freilich oft auf kindische Auswege verfiel. Van Duyren lachte sie geradezu aus: für ihn war diese Regierung eine Bande von Mordbrennern und von irgendeiner Verfehlung ihr gegenüber gar nicht zu reden; Hunde und Beutelschneider könnten sich mit ihr verständigen, ein Mann von Ehre nicht! Herr von Texier, weiser und geduldiger, bewies der unverständigen Tochter, daß eine Versöhnung mit der Republik ein Preisgeben der Bauern bedeute, ja, sogar eine Verpflichtung, sie für ihre Kreuzzüge zu bestrafen, und daß damit der Adel für ewige Zeiten sich jeder Macht und jedes Einflusses auf dies sehr selbständig denkende Volk begeben würde. Louise begriff, daß die Lage der Dinge verwickelter war, als sich übersehen ließ, und wieder trug sie ihr volles Herz zu Livarot, von dem sie weise Einsicht und ehrlichen Rat erwartete.
Sie erschrak, als sie aus den Antworten des Mannes erfuhr, wie weit die republikanischen Behörden bereits eingeweiht waren in die vorbereitenden Schritte der adligen Führer, und sie sah ein, daß auch der beste Wille dem schreitenden Verhängnis nicht mehr Halt zu bieten vermocht hätte. Ein heller Ausruf schmerzvollen Zornes, eine Bewegung nicht ganz weiblicher Art entfuhr ihr. Livarot, beinahe etwas erheitert, nahm die Hand, die sich eben noch zur Faust geschlossen hatte. »Warum verurteilen Sie die Ihren?« fragte er. »Sie können nach ihrer Erziehung und ihrer Vergangenheit nicht anders handeln als sie tun.« – »Sie sollten einsehen, daß sie Tausende dem Hunger, dem Tode, dem Verluste ihrer Heimstätten preisgeben!« rief das erbitterte Mädchen. Aber Livarot schüttelte den Kopf.
»Auch diese Tausende,« sagte er ernst, »sind von dem Geiste beseelt, der Ihre Freunde erfüllt: dem Geiste der Erhaltung, dem Festhalten an dem, was schön und behaglich, was wohlangesehen und ererbt war. Bedenken Sie, wie natürlich das ist! Nur Unzufriedene suchen und predigen das Neue und erhellen dadurch die Weisheit eines Schöpfers, der um des Fortschritts willen nicht lauter Zufriedene schaffen wollte. Ihre Bauern waren glücklich, die Herren fühlen sich im Rechte treugeübter Väterlichkeit, was Wunder, daß sie die Republik ablehnen? Das Beharren ist ihnen so angemessen wie uns das Vorwärtsstreben. Bei allen großen Auseinandersetzungen der Weltgeschichte haben leider immer beide Teile recht gehabt.«
»Weil keiner der beiden Teile,« rief das grimmige Fräulein, »sich die Mühe nehmen will, die Grundsätze des anderen durchzudenken! Was? Die Bauern sollten nicht in Flandern, nicht in Italien kämpfen: jetzt wird man sie auf ihrem eigenen Boden niedermachen – und wofür? Was? Unsere Priester konnten die neue Verfassung nicht beschwören, lieber räumten sie das Feld und überließen die Seelen der ihnen Anvertrauten fremden Neulingen, die Mißlaune und Unverstehen züchteten! Und all dieser Unverstand geht von Menschen aus, die schlechthin nicht wissen, was die Revolution gewollt, was die Republik neu geschaffen hat! Als Lafayette für die Freiheit eines fremden Volkes übers Meer ging, haben wir gejubelt: die Männer, die unserem eigenen Volke die Freiheit brachten, haben wir als Verbrecher oder Toren verurteilt! Wer, der denken gelernt hat, könnte so handeln?«
»Denken?« widersprach der Advokat mit einem Aufleuchten seiner sonst so verschleierten Blicke. »Denken, mein Fräulein? Ein politisches Bekenntnis denkt man nicht, man fühlt, man erlebt es. Ihre Freunde sind nicht schuld, daß ihr Gefühl nur den eigenen Stand umfaßt. Tun doch auch die Republikaner dasselbe. Nur wenigen und ganz erlesenen Menschen ist es gegeben, im Feind den Bruder zu sehen, seine Gesinnung wie die eigene zu verstehen und dann nach Grundsätzen, die von allen eigenen Wünschen gelöst sind, zu entscheiden. Tadeln Sie keinen, der nicht zu den Erwählten gehört!«
»Nun denn,« erwiderte Louise, »Sie scheinen mir zu diesen Erwählten zu gehören, Herr Livarot. Aber ich gestehe, ein wenig mehr Parteinahme wäre mir willkommener gewesen.«
»Sehen Sie?« sagte Livarot.
Um nichts ruhiger, um nichts befreiter war Louise von dieser seltsamen Unterredung nach Hause gekommen, um nichts verständlicher, um nichts gerechtfertigter erschien ihr der Bürgerkrieg, der ihrer Ansicht nach von den Ihren in leichtfertiger Weise ins Leben gerufen war. Aber Livarot hatte wenigstens die Einsicht in ihr erweckt, daß mit Worten nichts mehr gutzumachen war – wann je wäre mit Worten etwas gutzumachen gewesen? – und so verhielt sie sich schweigend, wenn nicht ein besonderer Anlaß sie zu einem Bekenntnis zwang. Einen solchen bot van Duyren selbst, der die Trennung von der schönen Braut, die ihn nun lange umsorgt hatte, lebhaft empfand und eine baldige Vereinigung wünschte. Er kam häufig nach La Grange geritten und setzte Frau von Texier zu, in eine rasche und kriegsmäßige Trauung zu willigen und ihm Louise, die besser ritt als die Frauen ihrer Zeit gewöhnlich konnten, als Begleiterin seiner Feldzüge mitzugeben; Frau von Lescures Beispiel rechtfertigte nach seiner Ansicht diesen Wunsch vollkommen. Aber Frau von Texier war so sehr Weltdame, daß sie eine Ehe ohne standesgemäßen Hintergrund für eine Unfaßbarkeit hielt. Erst sollte der Krieg beendet, das alte Regiment wieder aufgerichtet sein und van Duyren für seine kriegerischen Verdienste mit Land und Titeln belohnt: unter geringeren Voraussetzungen konnte eine Texier sich nicht vermählen. Louise dagegen, die ihren Verlobten wirklich lieb hatte, hätte sich nichts Besseres gewünscht als eine Ehe in Mühsal und Entbehrung, von denen sie sich eine Läuterung seiner Begriffe versprach, ein Verständnis für das Wirkliche und Wesentliche des Daseins und – was sie zu vermitteln sich zutraute – eine menschlichere Beurteilung des kleinen Mannes. Sie hatte mehrfach Versuche dieser Art gewagt, aber, von keiner Lebenserfahrung unterstützt, verliefen sie meist in folgender Weise: »Was will denn die Republik?« begann sie zum Beispiel einen ihrer Angriffe auf sein Herz. »Nichts als was das Christentum und das allereinfachste Gerechtigkeitsgefühl verlangen. Schämst du dich nicht, weißes Brot zu essen und in Seide zu gehen, während dein Bruder Kleie verzehrt und in Lumpen läuft? Kannst du, kannst du es aushalten, nachdem es einmal in dir erweckt ist, dies Bewußtsein einer unverdienten Bevorzugung? Schmeckt dir nicht jeder Bissen bitter?«
»Ganz und gar nicht,« pflegte dann van Duyren lachend zu antworten, »und mein Gewissen ist ruhig, weil ich so leicht einen Ochsen auf dem Felde für meinen Bruder ansehen möchte wie dieses Hundepack. Willst du Schweine mit Hummern füttern? Dem Bauern sind Kleie und Bohnen zuträglicher als Wildpret, er würde sonst mehr Kinder zeugen als er ernähren kann, und wozu sollte er bessere Kleider tragen? Die schlechtesten sind gut genug zur Feldarbeit.«
»Wir sind selbst schuld,« wandte die hartnäckige Louise ein, »wenn wir in dem Bauern kaum etwas anderes sehen können, als in einem Tiere des Feldes. Wir lassen ihn leiblich nicht darben – gut! aber kümmern wir uns je um den Hunger seiner Seele? Lehren wir ihn nur verstehen, was ihn zunächst umgibt? Er geht gebückt hinter seinem Pfluge und sieht die Glorie der aufgehenden Sonne nicht, die nur eine Uhr für ihn ist, zu neuer Arbeit rufend. Er hört die Vögel im Walde nicht, denn für ihn ist der Wald nur von den Schlägen der Axt erfüllt, wenn er für uns Bäume fällt, und Mond und Sterne hat er nie gesehen, denn er fällt wie ein Tier mit Sonnenuntergang auf sein Lager, zu müde selbst zum Beten. Das Schönste und Freudigste, was das Leben geben kann, liegt in seinem unmittelbaren Bereiche; seine Arbeit selbst könnte Freude sein, seine Bescheidenheit Reichtum – wir aber halten seinen Kopf geduckt, daß er nichts sieht als die schwarzen Schollen, in denen er gräbt, und dann verurteilen wir ihn noch wegen seines Mangels an Menschlichkeit!«
»Ach,« pflegte dann van Duyren etwa auszurufen, »ich verstehe, was du willst! Die Bäuerinnen sollen blauseidene Röckchen tragen, wie die Hirtinnen der Bühne, und bei der Arbeit empfindsame Arien singen, zum Beispiel: ›Wie lieblich rauscht der Wiesenbach‹ – oder ›Nachtigall, Künderin der Liebe‹ – und dergleichen. Und die Bauern sollen mit bebänderten Stäben –«
»Hör' auf!« rief Louise, wenn sie sich so verspottet hörte. »Es ist umsonst, ernsthaft mit dir reden zu wollen. Es ist unmöglich, mit dir zu streiten!«
»Du sollst mich gar nicht ernst nehmen! Du sollst gar nicht mit mir streiten! Küssen sollst du mich! Liebhaben sollst du mich! Deine weißen Arme sollst du mir um den Hals legen, deine schönen zornigen Augen sollst du hierher wenden – hierher, bitte, in meine! O Louise! wann werde ich das Recht haben, sie in süßeren Feuern erglühen zu lassen?«
Und Louise, lächelnd und seufzend zugleich, gab ihre Bekehrungsversuche für einmal auf und wandte ihr Herz, das so bereit war, für die Menschheit zu glühen, holdselig dem Einen zu, der es ganz allein für sich haben wollte. Und wenn sie dann von den Wonnen einer künftigen Vereinigung mit ihm sprach, so dachte sie an einen entlegenen Meierhof ihres Vaters, den sie von diesem erbitten, den sie mit dem Geliebten bewohnen wollte, und wo sie ihn, der so Seite an Seite mit den schlichten Leuten dieses Tales sein Leben erarbeiten würde, bald zu jenem hohen Gefühle der Brüderlichkeit erziehen zu können hoffte, das sie selbst beseelte, und das sie für das tiefste und wahrste Glück auf Erden hielt.
So stand es also um das eine Liebespaar von La Grange; lassen Sie uns nun das andere betrachten. Auch Pater Julian erschien ab und zu zwischen den Kämpfen, und was er mitbrachte, war wie der Weihrauchduft der fernen Dome. Er war der Armee Lescures als Seelsorger zugewiesen, und er wußte von diesem Heerführer ein Erstaunliches an Wundern zu berichten, das ihn beinahe zu einem Heiligen erhob. So hatte er zum Beispiel vor Fontenay mit seinen Scharen auf freiem Felde gebetet, dicht vor den Schanzen des Feindes, und kein Schuß hatte in der Zeit einen Gläubigen verletzt! So war ihm die heilige Kanone von St. Florent, die Glücksbringerin Marie-Jeanne, die d'Elbée hatte preisgeben müssen, beinahe ohne Kampf wieder zugefallen, indem ihre Bedienung vor dem bloßen Erscheinen des sieghaften Mannes die Flucht ergriffen hatte. So hatte in Saumur zwar eine leichte Verwundung Lescures die Bauern in Verwirrung zu bringen gedroht, doch hatten einige Wagen, gottgesandt im rechten Augenblicke aus einem Feldwege einbiegend, den Flüchtenden den Weg abgeschnitten, sie zum Stehen und zurück unter die Führung des rasch einspringenden Adjutanten gebracht und so die Schlacht gerettet. So wurde auch Larochejacquelein – denn auch ihn umgab die Glorie des Gottesstreiters – indem er das Stadttor erkämpfte, von seinen Leuten abgeschnitten, hinter ihm hatte das Tor sich geschlossen, allein ritt er durch feindliche Straßen zur Zitadelle und forderte den General Custard zur Übergabe auf: schon legen die Begleiter des Generals Hand an ihn, da fallen die ersten Kanonenschüsse in die Stadt, und auf der Zitadelle erscheint eine Gesandtschaft entschlossener Bürgerinnen, die stürmisch Verhandlungen mit dem Feinde fordert und durchsetzt. Solche artige Ungenauigkeiten, von denen übrigens auch die sonst herrlichen Aufzeichnungen der Frau von Lescure strotzen, brachte Pater Julian mit dem Schwunge seiner begeisterten Rede, mit der Überzeugung seiner kritiklosen Jugend zu Gehör. Er war freilich nicht der einzige, der derartiges erzählte, die ganze Luft hing gleichsam voll von Wundern, sie breiteten sich aus wie eine süße Seuche, Fieber erzeugend, Sinne verwirrend. Aber des jungen Priesters Ansehen gab diesen Märchen Glaubwürdigkeit. Wenn er auf La Grange erschien, strömte die ganze Umgebung, Adlige wie Bauern, zusammen, der kleine Saal ward zur Kirche, himmlische Orgeln schienen zu brausen, die Wirklichkeit versank, die Legende ward Leben. Wille zum Sieg und Todesbereitschaft erwuchs in Herzen, die vorher gezagt hatten. Und dicht zu den Füßen dieses jungen Apostels saß in Verzückung Fräulein Henriette, lauschte, weinte und betete, und schrieb nachts in ihr Tagebuch die überzeugenden Worte ein, die sie erhalten zu müssen glaubte – für den König, der sie einst belohnen sollte!
Julian sah nicht mehr blaß aus, die Luft der Schlachtfelder schien ihn zu kräftigen, er hatte leuchtende Augen und ein männliches Gebaren in kurzen Wochen erworben. Er trug das Priestergewand, aber einen Patronengürtel darüber, und er zeigte seinen Basen, wie man ein Gewehr behandelt und abschießt; das hatte van Duyren ihm beigebracht. So oft er kam, bat ihn Frau von Texier, einen Gottesdienst im Schlosse zu halten, was jetzt nicht mehr als ein Verstoß gelten konnte, da man der Republik offen und endgültig abgesagt hatte; und der Zulauf zu diesen kleinen Feiern sprengte fast die Schloßkapelle. Julian nahm auch die Beichte ab und erteilte Absolution, vollzog Trauungen oder taufte, wie es sich eben traf, und zeichnete alle seine kleinen Dokumente mit dem Datum des Jahres 1 der Regierung Ludwigs des Siebzehnten. Und war seiner vollen Berechtigung hierzu unbeirrbar sicher!
Bonvouloir, die ihre scharfen Augen immer gleich emsig umhergehen ließ, bemerkte bald, daß niemand länger und eifriger beichtete, als die unschuldige Henriette, und daß sie unter Buße und Absolution erstaunlich aufblühte. Sie sah aus, als habe sie schon von den Seligkeiten des Himmels gekostet, die Julian seinen Beichtkindern, wenn sie bereuten, so freigebig verhieß. Bonvouloir erklärte sich dies auf ihre eigene ruchlose Weise, und es muß leider gesagt werden, daß sie sich nicht entblödete, hinter dem verklärten Paare her zu spionieren, wenn auch keineswegs in verräterischer Absicht. Ein Fensterchen des Apfelkellers, von einer blattreichen Staude gedeckt, gewährte sichere Beobachtung der Gartenterrasse, und Bonvouloir fing eines Tages an, in diesem geräumigen Gelasse Aufräumungsarbeiten vorzunehmen. Sah sie oben auf dem Gartenkiese den Saum einer Soutane und ein Paar Füßchen im blauen Seidenschuh sich bewegen, so ließ sie ihre Arbeit ruhen, stellte sich in die Ecke hinters Fenster und lauschte. Sie kam dann immer mit einem Ausdrucke vollkommener Befriedigung wieder unter die Leute, pries die zweckmäßige Einrichtung und gute Luft des Apfelkellers, tadelte aber Spinnen und Mäuse, die sich da heimisch gemacht hätten und nicht eifrig genug bekämpft werden könnten. Diesen kleinen Hinterhalt betrieb sie aus lauter Liebe und Mitleid, und es beglückte sie die Gewißheit, daß Julian und Henriette lange nicht mehr so bitter entbehren mußten, wie vorher. Es beruhigte zugleich ihr Gewissen, daß dies fromme Paar keineswegs in freventlicher Vergessenheit versank, sondern daß es jeden Kuß mit Worten bitterer Reue und mit Gebeten um Gnade und Vergebung begleitete, so daß also die Rechnung mit dem lieben Gott gleichsam laufend beglichen wurde. Einmal kam Bonvouloir mit verweinten Augen aus dem Apfelkeller zurück, konnte keinerlei Grund dafür angeben, erzählte aber später in Tagen leidvoller Vertraulichkeit Louisen selbst, was sie da erlebt hatte. Julian und Henriette seien in ziemlicher Nähe des Fensterchens gestanden, und deutlich habe sie, Bonvouloir, die verzweifelten Worte vernommen: »Und weißt du, wofür ich kämpfe, Henriette, weißt du es? Für die alte Ordnung der Dinge, für die Wiederaufrichtung der Klöster, für alles was uns trennt, für meine Rückkehr in eine ferne, kalte Zelle, wo ich nicht mehr dein geliebtes Gesicht sehen werde! Kann Gott ein härteres Opfer fordern?« Fräulein Henriette habe dann auch etwas von Kloster und Bußen und Wiedersehen im Jenseits gesprochen, sie, Bonvouloir, habe vor Mitleid beinahe laut weinen müssen und könne eine solche Kraft der Entsagung schlechthin nicht begreifen. In diesem Augenblicke, aber auch nur in diesem einzigen, habe sie sich gestehen müssen, daß Fräulein Louise die klügere der beiden Schwestern sei.