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Auf dieser Wanderung nun hatte Bonvouloir ihr erstes großes Erlebnis, und es ist nötig, daß ich dasselbe ausführlich berichte, wie es mir überliefert ist von den Sibyllen meines Hauses; denn es machte Bonvouloir zu dem, was sie wurde. Dieses Erlebnis trug sich zu, als die Wandernde ihr zweites oder drittes Nachtlager erbat in einem Dorfe unweit St. Laurent, bei einem Freibauern, mit dem sie irgendwie versippt war; es ist ja auch heute noch das ganze Volk dieser Landstriche untereinander irgendwie versippt. Das breite, niedrige Haus mit dem Strohdach, unter welchem Stall und Stube eigentlich nur einen einzigen, durch eine halbhohe Bretterwand geteilten Raum darstellten, erschien ihr traulich und geheimnisvoll zugleich. Die breite Feuerstätte warf lange, rote Lichter in die Tiefe des Gemaches, die hohen kastenartigen Bettstellen mit den grünen Drellvorhängen standen trotzig wie Burgen in den vier Ecken, und über die Teilwand weg glänzten weißlich die Augen und Hörner von drei oder vier Kuhköpfen, die stet und ernsthaft den Bewegungen der Hausbewohner folgten. Erst als die ganze menschliche Einwohnerschaft in ihren Bettenburgen verschwunden war, zog sich auch die tierische ins Dunkel zurück, und man hörte nun über die Bretterwand weg als friedliche Nachtmusik das Mahlen ihrer wiederkäuenden Zähne und hier und da das leise Klirren einer Kette. Bonvouloir, die das Bett mit ihrer ältesten Base teilte, konnte lange nicht einschlafen, blickte unentwegt nach der glimmenden Feuerstelle und sah die roten Lichter am kupfernen Kessel langsam verblassen. Dann schien der Mond durch eine Dachluke, traf denselben Kessel und ließ ihn grünlich blinken. Ein langer, weißglühender Lichtbalken stand quer durch die Hütte, ein zinnerner Teller auf dem Tische glänzte weich wie das Fell einer jungen Maus. Schlaftrunken muhten die Kühe. Und gerade als Bonvouloir anfing, sich an alle diese Dinge zu gewöhnen, und eben einschlafen wollte, vernahm sie draußen vor der Hütte den dumpfen Lärm unzählbarer Tritte und ein weithin rollendes Gemurmel von Stimmen. Ein Glöcklein zitterte fernher, und eine starke Hand pochte an die Türe.
Ein wenig erschrocken sprang Bonvouloir aus ihrer Lade und sah alle anderen ein gleiches tun. Schnell ward die Tür geöffnet, ein paar Worte mit den Draußenstehenden gewechselt, dann griffen die Männer der Familie nach ihren Stöcken, die Frauen nach Tüchern oder Mänteln, und alle schickten sich zum Fortgehen an. Bonvouloir wurde nicht erst gefragt, ob sie mitwolle, man warf ihr drängend ihre dunkle Hülle um, versicherte sich, daß sie einen Rosenkranz trage, und schob sie hinaus. Auf der Schwelle des Hauses stehend, sah sie sich einer großen Menschenmenge gegenüber, die schwarz, wie ein Heer von Ameisen, über die mondhelle Wiese wimmelte; einzelne Fahnen schwebten silbern über den tausend Köpfen, wie Blüten atmend bauschte sich ihre weiße Seide; hier und dort glosten Fackeln, stumpf rötlich in der blendenden Bläue des Mondlichts. Und jetzt vernahm Bonvouloir aus den grüßenden Zurufen der Nächststehenden jenes inbrünstige und geheimnisvolle ›Sie‹, das ihr augenblicklich das Verstehen über die nächtliche Wanderung erschloß. ›Sie‹ zeigte sich, ›Sie‹ rief, ›Sie‹ warb, wie es seit einigen Wochen in flüsternder Erregung durchs Land ging: die heilige Jungfrau, von der Republik entthront, rief ihr Volk zum Bekenntnis auf!
Durchschauert von ungeahnten Gefühlen und unwillkürlich laut mitbetend, ließ sich Bonvouloir im Strome der Menge durch die weiße Nacht dahintragen. Rechts und links dehnten sich Wiesen, auf denen streifig der glänzende Nebel zog. Schwarze Baumgruppen stellten sich beklemmend in den Weg. Von hundert zu hundert Schritt etwa flackerte ein Lichtlein übers Gelände daher, eine neue Schar stieß zu der alten. Weit hinten hörte man singen, fromm und zärtlich, mit jungen, liebessüßen Stimmen: »Maria, sei gegrüßt! Maria! Heilige! Bitte für uns!« Drei- oder viermal stockte der Zug, wenn eine Hütte am Weg lag, aus der kein Licht brach. Es wurde angeklopft, die Schlafenden wachgerufen: »Eilt! Eilt! Sie zeigt sich! Sie will uns! Sie spricht zu uns!« Bonvouloir zitterte vor Neugier, Angst und Ergriffenheit; die Langsamkeit des stets gehemmten Vorrückens machte sie atemloser als der schnellste Lauf sie gemacht hätte.
Plötzlich fühlte Bonvouloir, daß die Massen vor ihr sich endgültig stauten, daß niemand mehr vorrückte. Sie sah sich um: keiner ihrer Verwandten war neben ihr; sie war von fremden Gesichtern umgeben. Noch spähte ihr Blick suchend in die Runde, da tönte weit vorne ein Glöcklein, und die ganze Schar um sie, vor ihr, hinter ihr, soweit sie nur sehen konnte, sank in einem einzigen Kniefall zur Erde. Eine halbe Minute lang stand Bonvouloir allein aufgerichtet zwischen all den gleichsam Niedergemähten und starrte über die gebeugten Köpfe hin, buchstäblich zähneklappernd in der Erwartung des Ungeheuerlichsten. Was sie sah, war ein gewaltiger Baum, eine Riesenkuppel silbern flimmernder Blätter, die ein unspürbarer Luftzug rastlos zu kräuseln schien. Ein Geriesel von bläulichen Diamanten stob unaufhörlich aus dem wunderbar belebten Laube. Ein scharfes, grellweißes Licht fiel aus gelockertem Geäste auf den mächtigen Stamm, auch dieses bewegt, schwindend und wiederkehrend. Und plötzlich schlug Bonvouloir die Hände vors Gesicht und fiel hin wie die anderen.
Am anderen Morgen, als die Sippe mit ergrauten Gesichtern um die Bohnenschüssel saß, tauchten verworren in stockendem Gespräche die Erlebnisse der Nacht auf. Im zögernden Bekenntnis mischte sich Geschautes mit Vorstellungen, die hochgespannte Inbrunst und dürstende Sehnsucht gewoben hatten. Da ballten sich aus Nebelglanz und Mondeszauber weiße Gestalten mit silbernen Weihrauchfässern, messelesende Priester und ministrierende Engel, die einem Heiligsten und Unbeschreiblichen huldigten. Daß Sie da war, der die nächtliche Messe galt, war allen Gewißheit; aber wie sie ausgesehen, welche Gebärde sie gehabt, das wußte niemand zu beschreiben. Wohl! Ein blauer Mantel war da gewesen, und eine silberne Krone auf goldenen Haaren. Und Augen waren da gewesen, die hatte jeder gefühlt mitten in seinem Herzen, obgleich keiner eigentlich hingeblickt hatte, und ein Gebot war verstanden worden, obgleich keiner sich erinnerte, wer es ausgesprochen hatte. Was jeder beschrieb und beschreiben konnte, war die eigene Ergriffenheit, die Bangigkeit, das Mitleid, die tränenvolle Demut, die tatsächlich jedes Schauen verhindert hatten. Und die erzählten sie sich wieder und immer wieder vor.
Später kamen Nachbarn, setzten sich an den Tisch, schwiegen geheimnisvoll mit beredten Gesichtern und ließen endlich aus gebrochenen Worten ein tiefes Erlebnis ahnen. Je weniger sie wirklich aussprachen, desto einmütiger fühlten alle das gleiche, desto gewisser wurden alle dessen, was sie nur zweifelnd empfunden hatten. »Siehst du, es hat mich einfach auf die Knie geworfen!« oder: »Glaube mir oder glaube mir nicht, ich habe geweint wie ein Mädchen!« gab stärkste Gewißheit einer vorhandenen Realität. Wie die Stunden vorrückten und die Besuche sich häuften, reifte die Vorstellung, von zufälligen Worten genährt, zum festumrissenen Bilde. Irgend jemand hatte den Pendelschlag eines Weihrauchbeckens mehr zu fühlen als zu sehen geglaubt: der Engel, der.es schwang, stand plötzlich vor aller Augen. Ein Wörtchen: ›blau‹ genügte, um den Mantel der Heiligen in wallender Schwere sich entfalten zu lassen, und die bloße Erwähnung flimmernder Sterne zeichnete deutlich die liebliche Krone. Der Vorgang war völlig natürlich, da jeder im voraus gewußt hatte, was er sehen wollte. Lange ehe der Tag zu Ende war, ging unbestritten und unbestaunt die Versicherung von Mund zu Mund, die Heilige Jungfrau fordere in persönlichen Aufrufen zum Kampfe gegen die Feinde der alten Kirche auf. Die Ekstase ebbte aus in Klagen und Schmähungen gegen das neue Regiment, die übernatürliche Entrücktheit gebar wie immer den natürlichen Haß. Man erging sich in herzbewegenden Erzählungen von den Leiden der frommen Priester, die den verruchten Revolutionseid nicht hatten leisten wollen, man wußte Unerhörtes über die Sittenlosigkeit der von der Republik eingesetzten Seelsorger. Noch an demselben Abende wurden in der Hütte Sensen an Stangen gebunden, Flinten geputzt und grobes Pulver in alten Kuhhörnern auf seine Trockenheit untersucht. Bonvouloir, wild erregt, erzählte dabei von Cathelineau, den sie in Cholet mit eigenen Augen hatte sehen dürfen, und hatte neidvoll bewundernde Zuhörer. Und als sie an diesem Abende in ihrer riesigen Bettlade entschlummerte, war ihr letzter Gedanke nicht ein frommes Gebet um Schutz und Hilfe für ihre fernere Wanderung, sondern im Gegenteil: ein vertraulich tröstendes Versprechen, in kindlicher Anmaßung und jugendwarmer Kampflust nach oben geschickt, ungefähr in den Worten: » Va, Sainte Vierge, sei ruhig, heilige Jungfrau, wir werden sie schon zum Lande hinaushauen, die gottverlassenen Jakobiner!«