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3.

Sie verließ ihren Verlobten in einer Art Betäubung, setzte sich allein in ein dunkles Gemach und begann nachzudenken. Gewiß, er hatte recht! Wenn man unerschütterlich an den Sieg der königlichen Sache glaubte, dann war das, was sie getan hatte, eine Torheit und eine Erniedrigung. Warum fand sie diesen Glauben nicht, diese Gewißheit des baldigen Sieges, der doch alle die Ihren erfüllte wie der süße Hauch des Lebens, wie Blut und Atem ihres Seins? Warum? Weil sie Livarot hatte reden hören, weil sie ihm mehr glaubte als den Ihren! Aber durfte sie ihm denn glauben? Er war ein Republikaner, er bekannte sich mit jedem Worte dazu, wenn er auch nie diese Überzeugung Herr werden ließ über seine schöne Menschlichkeit. Er mußte die Dinge von seiner Seite her mit der gleichen Hoffnung betrachten, wie die Adligen sie von der ihrigen her betrachteten, mußte des Sieges so gewiß sein wie sie. Vielleicht betrog er sich, ward betrogen von den Berichten seiner Gesinnungsgenossen, die günstig deuten mußten, was günstig zu deuten war; vielleicht war die Wahrheit nicht auf seiner Seite? Wer konnte entscheiden? Louise drückte ihr Gesicht, das von Scham brannte, in ihre Hände, die eisig waren von einem unnennbaren Entsetzen: sie hatte entschieden! Sie wußte, immer wieder mit der gleichen unbegreiflichen, aber auch unbestreitbaren Klarheit: Das, was Livarot ihr erzählt hatte, war die Wahrheit!

Wer jemals in einem solchen Widerstreit der eigenen Kräfte gestanden hat, wo Liebe glauben möchte, was Einsicht nicht glauben kann, der wird sich die Leiden des edlen und ernsten Mädchens vorstellen können. Louise warf sich unbarmherzig jede Schuld vor, die ein solches Wirrnis begründen konnte: Lieblosigkeit gegen die eigenen nächsten Angehörigen, ruchlose Unterschätzung der Opfer, die diese gebracht hatten, leichtgläubige Schwärmerei vor Worten, die berauschend klangen, aber noch keine Wirkung guter Art gezeitigt hatten! Die Republik! Große und gute Männer hatten mit Harfenklängen seliger Hoffnungen die lichte Gestalt der Brüderlichkeit, der liebenden Einheit aller Kinder eines Volkes beschworen, und was gekommen war, war ein blutiges Gespenst, das jeden Haß, der vorher gebunden gelegen hatte, entfesselte und hetzte. Ja, sie sagte sich dies alles, die arme Louise, sie sagte es sich hundertmal und mit immer härterer Verurteilung. Aber sie konnte sich nicht überzeugen. Sie konnte sich schwer verdammen – den Glauben an die Republik konnte sie nicht in sich auslöschen.

Sie kam schließlich so weit mit sich selbst ins reine, daß sie beschloß, van Duyren, so lange er krank und zu Fiebern geneigt war, nie wieder zu ähnlichen Gesprächen gelangen zu lassen; geschah es gegen ihren Willen, daß eine Auseinandersetzung solcher Art herbeigeführt wurde – nun, so mußte sie schweigen und sich verstellen. Sie durfte ihn nicht nur körperlich nicht schädigen, sie durfte auch seinen Mut nicht schwächen, seinen Glauben nicht erschüttern wollen, denn so nahm sie ihm, was sie selbst sich nicht nehmen lassen wollte. Sie empfand, es war eine Ungerechtigkeit, ihn überzeugen zu wollen, erlebte sie doch soeben in sich, was Überzeugung bedeutete. Es gab nur eins: zuwarten und das Schicksal entscheiden lassen, weder dem einen noch dem anderen Hoffen Erfüllung voraussagen, und im übrigen tun, was Liebe gebot. Wenn van Duyren wieder völlig bei Kräften war, wollte sie ihm sagen, was sie empfand. Noch konnte sie ja mit gutem Gewissen sagen, daß sie den Sieg der Ihren wünschte, wenn sie ihn auch nicht für wahrscheinlich oder auch nur für möglich hielt.

Nachdem sie einmal so weit Klarheit in ihr Bewußtsein gebracht hatte, war sie auch durchaus entschlossen, van Duyrens Gebot, Livarot nicht mehr aufzusuchen, kecklich zu umgehen, diese Besuche, sofern sie ihr nötig schienen, nur heimlich zu betreiben und mit keinem mehr über die Dinge zu reden, die sie da erfuhr. Da sie diesem Manne glaubte, da sie also auch den Dienst, den er ihr geleistet, durchaus nicht für »eine überflüssige Geschäftigkeit« hielt, so erachtete sie es für recht und auch für klug, mit ihm in Verbindung zu bleiben. Griff sie van Duyrens Zuversicht nicht an, so wollte sie doch auch ihrerseits nicht gehindert sein in dem, was sie für ihre Zukunft erforderlich und nützlich hielt. Und so begab sie sich schon nach wenigen Tagen wieder, von Bonvouloir begleitet, in die kleine Gasse.

Nun aber war es ihr Bedürfnis, war es geradezu Pflicht gegen sich selbst und gegen van Duyren geworden, ihre eigenen Begriffe zu läutern und zu prüfen durch lange und tief überlegte Gespräche mit diesem besonnenen und belesenen Manne, der ihr außerdem bewiesen hatte, daß er Billigkeit auch für den Gegner besaß. Alles, was sie über menschliche und staatliche Freiheit, über Fortschritt und Entwicklung der Völker je gedacht oder gelesen hatte, sprach sie noch einmal mit ihm durch, jede Seite und ihr Recht treulich erwägend. Es ist unnütz, daß ich dies hier wiederhole: vieles von dem, was Louise sich in schweren Stunden ergrübelt hatte, ist heute natürliche Erkenntnis jedes Bauernkindes geworden. Damals war es unerhörte Ketzerei, und Bonvouloir, die, still in einer Ecke sitzend, dem Zuhören nicht entgehen konnte, vernahm manches, was ihr das Haar sträubte. War sie mit ihrem Herzen schon keineswegs auf seiten dieser Dame, die gegen das ausdrückliche Verbot ihres künftigen Herrn einen Fremden, einen Jakobiner und Sansculotten aufsuchte, so füllte das, was sie hören mußte, sie geradezu mit dem Bewußtsein, eine Schuld zu hehlen. Wenn Louise, vom Gespräch erglüht, sich rasch erhob und Livarot die Hand mit warmer Gebärde hinstreckte, dann sah Bonvouloir mißtrauisch nach den Augen des Paares, ob sich da auch keine Ungehörigkeit spiegle. Sie konnte sich Louisens Verblendung nur auf eine einzige, sehr volkstümliche Weise erklären.

Sie war Dienerin, sie war gewohnt zu gehorchen, aber sie war innerlich frei genug, um zu wissen, daß Gehorsam im Unrecht verdammenswert ist, daß er Mitschuld wird, und sie begann ihrerseits zu leiden an der Zerrissenheit der Einfältigen, ob sie nun verpflichtet sei, Louisens heimliche Besuche zu verraten oder nicht. Noch kämpfte ihre Dankbarkeit gegen die milde Herrin mit ihrem Rechtlichkeitsgefühl. Da, nur wenige Tage nach jenem Gespräche mit van Duyren, das Louisens Gefühl geklärt hatte, ergab sich ein Gespräch mit Livarot, das Bonvouloir zum Entschlusse verhalf und zugleich zum Verhängnis wurde.

Unter allen Erscheinungen der Revolution war in Louisens Vorstellung die entmutigendste, die zur Verdammnis führende, die auf keine Weise zu rechtfertigende: jene brutale Zerstörung des religiösen Gefühls, die sich in einer förmlichen Absetzung Gottes roh und lächerlich geäußert hatte. Konnte eine Bewegung, die so das Beste im Menschen angriff, Bestand haben? Und da Louise jedes Für und Wider mit unbestechlicher Gewissenhaftigkeit in Betracht zog, so war diese Frage eine der ersten, die sie Livarot vorlegte: war sie doch, ihrer Meinung nach, die Grundfrage aller Staatenbildung überhaupt. Livarot zögerte ein wenig mit der Antwort, nicht weil sie ihm schwer fiel, sondern weil er fühlte, wie gewaltsam er in die Vorstellungswelt des kirchlich erzogenen Mädchens eingreifen mußte. Aber Louisens klare Augen fragten dringlich und ehrlich; und ehrlich mußte er schließlich auch darauf antworten.

»Ich gebe zu,« begann er, »daß sich in diesen Angriffen auf die Religion eine unbändige Auflehnung gegen jede Autorität schlechthin, gleichviel ob irdischer oder göttlicher Art, feststellen läßt, und daß dieser Auflehnung Scheußlichkeiten entsprungen sind, die nicht zu rechtfertigen sind. Jedoch, versuchen Sie etwas tiefer zu denken und geben Sie zu, daß dieser Auflehnung wenigstens ein anerkennenswerter Zug zugrunde liegt: eine starke Wahrheitsliebe.« Und da ihn nach diesen Worten Louise mit dem Ausdrucke zornigen Erschreckens ansah, setzte er sich neben sie, ergriff behutsam ihre Hand, die er festhielt, und fuhr in leiserer, eindringlicher Rede fort:

»Erschrecken Sie nicht, sondern versuchen Sie aufrichtig zu prüfen: wer glaubt eigentlich an Gott? Ich wage zu behaupten: so gut wie niemand. Denn wer würde wohl wagen, auch nur die kleinste Lüge auszusprechen, die Hand auch nur nach eines Kieselsteines Wert vom Gute seines Bruders auszustrecken, wenn er die Gegenwart eines unbestechlichen Richters, das Auge des Allgegenwärtigen wirklich auf sich fühlte? Die Gebote der Bibel sind einfach und leicht zu halten: wer hält sie? Wer scheut sich nur, ein so natürliches Gesetz zu verletzen wie: ›Du sollst nicht falschen Leumund geben wider deinen Nächsten?‹ Die schöne Geschichte von dem kleinen Knaben, der seinen Finger aus dem Honigtopfe zieht, weil das Schwesterchen ihn auf das Stückchen blauen Himmel aufmerksam macht, das in die Speisekammer lugt, ist schlechthin unwahr: der Knabe zieht seinen Finger nicht aus dem Honigtopfe, so wenig wie der Taschendieb seine Hand aus der Tasche des Edelmannes, der Finanzmann die seine aus der königlichen Steuerkasse oder der Prälat die seine aus dem Kirchenschatze, mit dem er seine Konkubine lohnt! Nur sehr einfache oder sehr tief denkende Menschen werden durch die Gottesfurcht in den Äußerungen ihrer Leidenschaften beschränkt. Die weitaus größte Zahl kennt als Grenze für ihre Willkür, für ihren natürlichen Selbstbehauptungstrieb nur das Gesetz des Staates, und jeder hält sich für vollkommen gut und tugendhaft, solange er dieses Gesetz nicht gebrochen oder, noch schlimmer, solange er es nur unbemerkt und ungestraft gebrochen hat. Welchen Zweck hat aber eine Religion, die nicht so viel über die Menschen vermag wie ein paar Polizeisoldaten? – Ich vermeide es absichtlich, davon zu sprechen, daß diese Religion in den Händen berechnender Führer zu einem Mittel der Tyrannei geworden ist, denn auch das wirklich Gute und Förderliche kann mißbraucht werden. Ich frage also bloß nach ihrem wesentlichen Werte für den Frieden und die Ordnung eines Staates, und Sie sehen: ich finde ihn sehr gering. Die Männer der Revolution, die die Religion abschaffen wollten – und es sind wirklich denkende Männer gewesen! – hatten also das Recht zu einem Versuche, den Menschen einen Halt gegen ihre eigene Schwäche zu geben, der sich als fester erweisen würde als der bisherige. Es konnte immer nur ein Versuch bleiben, denn ein solcher Halt muß langsam aufgemauert werden wie eine gute Festung und wird mit dem Ablauf der Jahrhunderte noch manchen Umbau erfahren müssen. Aber ein guter Versuch scheint es mir, den Menschen auf seine Würde als Mitträger des Staates, auf seine Verantwortung gegen seine Mitbürger hinzuweisen und so den Begriff der republikanischen Tugend zu schaffen: da es doch einmal der Staat ist, der aus dem Wilden einen Menschen gemacht hat! Der Staat ist wachsamer und straft sichtbarer als der liebe Gott, und je mehr Menschen sich als Träger des Staates fühlen, desto besser wird diese Wachsamkeit durchgeführt werden können, desto sicherer aber auch Schuld von Verhängnis gesondert werden. Ich halte also diese republikanische Lehre von der Würde des Staatsbürgers für erziehlicher als die Religion – wenn ich auch leider zugeben muß, daß bis jetzt noch nicht viele sie begriffen haben. Sind Sie mir gefolgt, Fräulein Texier?«

»Es scheint mir klar genug,« erwiderte Louise, sehr blaß, aber mit dem redlichen Bestreben, sachlich zu bleiben. »Dennoch scheint mir, daß die Aufgabe der Religion tiefer liegt als in der Erziehung des Menschen zur Ordnung. Es gibt Wirrnisse in unserer Seele, die nicht der einfachen Besitzgier, dem Trieb nach Selbstbehauptung, der großen Sünde schlechtweg entspringen. Es gibt die ewig dunkle Frage nach dem Woher und Wohin, den geheimnisvollen Drang, eine Ordnung über unserer Ordnung zu fühlen, die Ahnung der Ewigkeit, und alle diese Dinge sind unauslöschbar wie der Lebenstrieb selbst. Was kann Ihr republikanischer Tugendbegriff darauf antworten? Ist denn eines Menschen Aufgabe erschöpft, wenn er die zehn Gebote der Bibel und die Gesetze seines Staates gewissenhaft gehalten hat?«

»Gewiß nicht,« erwiderte Livarot. »Aber verzeihen Sie mir, wenn ich behaupte: auch die Religion, die wir bisher hatten, hat nicht erschöpfend darauf zu antworten gewußt. Sie zeigt uns einen Gott, der die Menschheit fehlerhaft geschaffen hat und dann für diese Unzulänglichkeiten bestraft, der Prüfungen auferlegt, von denen er das Ergebnis voraus kennen muß, und der Dinge geschaffen hat, die sein eigenes Wort verdammt. Einen Gott, dessen Betrachtung mehr Verzweiflung einflößen mußte als Trost! Die Republik hat nur wieder versuchen können, etwas Trostreicheres zu schaffen, als sie das ›Höchste Wesen‹ verkündete, dessen Ziele im Dunkeln liegen, aber jedenfalls der menschlichen Vernunft zur Erforschung preisgegeben sind. Und sie hat die Anbetung dieses Wesens nicht in kirchliche Gleichnisse gelegt, die der Einfältige nicht versteht, sondern sie läßt es verehren durch frohes, reines, arbeitsames und schlichtes Leben, durch unschuldige Feste, die Familienglück und nachbarliche Freundschaft stärken, durch Verherrlichung der Natur und durch Hingabe an das Vaterland. – Und was jene dunklen Fragen betrifft, von denen Sie sprachen, Fräulein Louise, so kann das ›Höchste Wesen‹ der Republik freilich keine Antwort darauf geben, da es stumm ist wie die große Natur selbst; aber es verbietet wenigstens nicht das Forschen nach ihrer Lösung. Und endlich: dies ›Höchste Wesen‹ ist kein ungerechter Gott, der sein Geschöpf Abel liebt und sein Geschöpf Kain haßt, es ist eine logische Notwendigkeit, die den Kain wie den Abel erschaffen hat, weil Abels Kinder nicht ohne Kains Kinder in dieser Welt leben könnten.«

Es wurden wohl noch mehr und noch längere Reden dieser Art getauscht, und Louise, zu immer mühsamerem Denken angeregt, mag den ernsthaften Lehrer wohl immer forschender und immer bewegter angeblickt haben. Bonvouloir sah und hörte, und ihre Entrüstung steigerte sich zum Entsetzen. Ein oder zweimal kam die Rede noch auf die unheilvolle Macht der Kirche zu sprechen, die gewissenlos zu ungöttlichen Zwecken ausgeübt wurde, und die vielbesprochenen und häufigen Marienwunder gerade des gegenwärtigen Krieges boten beredte Beispiele dafür: wußte Livarot doch zu berichten, daß dies selbe Volk, das heute auf das Gebot der Jungfrau hin Glaubenslose zu bekämpfen auszog, vor noch nicht ganz zweihundert Jahren, von kalvinistischen Fanatikern angeführt, alle Mariensäulen und Heiligenbilder im Lande verbrannt hatte! Das Gespräch klang aus mit einer halben Bekehrung Louisens zu Livarots weitgreifender Weltanschauung – aber mit einer völligen Überzeugung Bonvouloirs, daß dieser schmalbrüstige Jakobiner der Teufel selbst sein müsse, und daß es ihre Pflicht sei, diese Zusammenkünfte in alle Zukunft unmöglich zu machen.

Sie war so erregt, so in ihren heiligsten Gefühlen angegriffen, daß sie auf dem Heimwege aller Form vergaß, mürrische und heftige Antworten gab und in so fieberhafter Hast dahinlief, daß sie den Abstand, den die Sitte zwischen der Gebieterin und der Dienenden wollte, unversehens verkleinerte. Louise ahnte wohl, was Bonvouloir bekümmerte, und suchte in vorsichtigen Ausdrücken ihre Besuche bei dem Advokaten zu erklären und den Inhalt ihrer Gespräche verständlich zu machen, soweit sie dies für ein schlichtes Gemüt wünschenswert fand. Aber sie hatte nur eben die ersten Töne einer Auseinandersetzung angeschlagen, als Bonvouloir schon losbrauste, daß alle Saiten rissen. Sie schrie geradezu vor Schmerz und Wut. Immer habe Louise auf seiten der Sansculotten gestanden, und jetzt tue sie schön mit ihnen, nachdem eben nur ihre Eltern durch diese Teufelsbrut gemordet, ihr Verlobter durch sie verwundet sei! Und schlimmer als alles, auch an Gott fange sie jetzt an zu sündigen, die heilige Jungfrau und die Kirche zu lästern, die verruchten Lehren der Jakobiner zu bekennen. Ob das zu begreifen wäre, wenn sie für diesen Livarot nicht eine verräterische Schwäche hätte? Treulos, treulos an der Sache, an Gott, am König, an der Familie, treulos jetzt auch noch am Manne, der sie liebe, treulos wie die letzte Dirne – sie, eine Texier! »Den Teufel auch!« schloß das rasende Mädchen seinen Ausbruch mit beinahe überschlagender Stimme, »ich bin nur eine arme Dienerin, Fräulein Louise, aber vor Ihnen spucke ich aus!« Und sie ließ, bei Gott, den Worten die Tat folgen!

Louise war stumm vor Schrecken. Viel zu billig denkend, um über des wilden Mädchens Leidenschaftlichkeit zu zürnen, fühlte sie doch mit tiefer Kränkung die erniedrigende Auslegung ihrer Freundschaft für Livarot. Sie konnte sich nicht verhehlen, daß die Deutung nahe lag. Nicht nur das Kind aus dem Volke, auch jeder andere wäre zu ähnlichen Schlüssen gekommen, es hätte auch durchaus nichts geholfen, dagegen etwas Rechtfertigendes anzuführen. Sie antwortete deshalb nichts anderes als ein hastig dazwischengeschobenes »Bonvouloir, mäßige dich!« und vor der letzten Tätlichkeit trat sie nur mit einer Bewegung schmerzlicher Verachtung etwas zurück. Bonvouloir aber fand in der Sekunde, wo sie das Äußerste getan hatte, auch ihre Besinnung wieder, die furchtbare Entladung erzeugte einen nicht minder heftigen Gegenschlag, taumelnd erkannte sie, wie weit sie sich vergangen hatte. Jetzt hätte sie viel darum gegeben, wenn Fräulein Louise sie wegen ihrer Frechheit gezüchtigt hätte. Aber die Edeldame ging schnell und mit verschlossenem Gesicht weiter, und ihre Augen schienen keine Bonvouloir mehr zu sehen. Ein unsagbares Elend fiel in das Herz des armen Mädchens. Es wußte sich im Recht und doch einer schweren Ungehörigkeit schuldig, hatte Ehrfurcht vor der Gebieterin, Dank gegen die Wohltäterin vergessen, hatte Liebe verscherzt, die ihr unentbehrlich war, hatte mit einem Worte den dünnen Ast, auf den sie ihr unbegehrtes Dasein eben noch gerettet hatte, mutwillig zersägt – und wußte doch, daß sie es wieder tun würde, wenn sie noch einmal in solcher Lage wäre. Und da sie einer schmählichen Entlassung, die ihr sicher schien, zuvorkommen wollte, so fiel sie von der rasch dahinschreitenden Herrin allmählich zurück, verlor sich geschickt in der nächsten Gasse und war am gleichen Abend aus Chatillon verschwunden.


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