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4.

Ganz geladen von neuen, berauschenden Kräften kam Bonvouloir einige Tage später in La Grange an und ward von der alternden Base bereitwilligst ausgenommen. Auch Frau von Texier hieß sie willkommen und wehrte sehr gütig ab, als Bonvouloir ihr Sprüchlein von Lästigwerden und Weiterwandern aufsagte. Im stillen dachte die kleine Streberin freilich von Anfang an, sie wolle sich schon so halten, daß man sie nicht fortschicken würde, denn sie vertraute auf allerlei Geschicklichkeiten, die sie besaß, und auf eine unermüdliche Arbeitsfreudigkeit, die sie bisher in ihrem kleinen Kreise beliebt und wichtig gemacht hatte; und die mütterlichen Augen der Marquise winkten ein freundliches Amen zu den unausgesprochenen Vorsätzen des jungen Geschöpfes.

Hatte Bonvouloir auf ihrer Wanderung klüglich von der Wundernacht in St. Laurent geschwiegen, so packte sie nun um so eilfertiger aus, was sie erlebt hatte, und erstritt damit fast noch größeren Erfolg, als mit ihren Stiefeln voll Geldscheinen, die ›ihr Vater dem König leihen wolle‹. Nachdem sie zunächst die Gesindestuben in Aufruhr versetzt hatte, wurde sie zur Herrschaft befohlen, um ihre Vision zu erzählen, und sie stand nun also in dem gleichen hellen und in zarter Buntheit verzierten Saale, wie schon einmal vor beinahe zehn Jahren; nur daß unterdessen aus den geputzten Kindern zwei sehr anmutige junge Damen geworden waren. Die ältere, Fräulein Louise, soll eine etwas hagere Blondine mit regelmäßigen Zügen und klugen grauen Augen gewesen sein, während die Schönheit der jüngeren Henriette als dunkel, zart, geheimnisvoll und melancholisch überliefert wird. Diese beiden Edelfräulein begrüßten Bonvouloir sehr warm, nahmen sie aber sogleich ganz ordentlich ins Gebet und fragten kreuz und quer nach dem Wunder unter dem Marienbaume mit solcher Eindringlichkeit, daß Bonvouloir der Atem ausging. Sie bemerkte dabei, daß Fräulein Louise in sonderbar kalter Weise solche Fragen stellte, die sie nicht genau beantworten konnte und die sie daher verwirren mußten, während Fräulein Henriette ihr mit einer gewissen Leidenschaftlichkeit zu Hilfe kam, als hinge für sie selbst sehr viel an der Bestätigung jenes Übernatürlichen. Es waren noch einige Personen im Saale, die sich aber wie Herr und Frau von Texier nur ab und zu mit einem Worte der Beschwichtigung einmischten, wenn Fräulein Louise gar zu rücksichtslos angriff. Bonvouloir war sehr erregt, verängstigt und ein wenig böse darüber, daß jene blonde Schöne ihr Erlebnis bestreiten oder verkleinern wollte, und während sie sprach, um es zu verteidigen, steigerte sich in ihr jenes Gefühl des Berufenseins fast bis zur Entrücktheit. Sie vergaß ihre Angst, redete frei, begeistert und beinahe schön von der heiligen Pflicht des Volkes, für seinen König, für seine Religion einzustehen, bis sie ganz erstaunt bemerkte, daß aller Augen mit einer innigen und gütigen, wiewohl etwas lächelnden Anteilnahme auf sie gerichtet waren; da verstummte sie errötend. Herr von Texier streichelte ihr das Haar und sagte: »Nun, nun, meine kleine Jeanne d'Arc!« und Fräulein Henriette nahm sie in die Arme und küßte sie schwesterlich auf beide Wangen. Nur Fräulein Louise stand abseits und sah sie nicht an.

Wie nun Bonvouloir, noch zitternd von ihrem Fluge durch den Himmel, mühsam wieder die Erde zu gewinnen suchte, brach ein neues Erlebnis in ihr Gemüt ein, das sie gleich noch einmal, und diesmal in noch betäubenderem Wirbel, vom Boden emporriß. In einer Ecke des Saales befand sich ein Tisch, auf dem ein großer Globus stand, und hinter dem Globus saß im Halbdunkel ein Mann und schrieb. Das hatte Bonvouloir, während sie predigte, unbewußt in sich ausgenommen, und es hatte sie dunkel gereizt, den verborgenen Schreiber zum Heben des Kopfes zu zwingen, von dem jetzt nichts sichtbar war als ein glänzender blonder Engländerscheitel. Der Versteckte dagegen hatte sich teilnahmslos verhalten, solange Bonvouloir sprach, und erst als sie halb betäubt in Henriettens Arm hing, hatte er plötzlich ein schmales Knabengesicht neben dem Globus hervorgeschoben und die Verzückte eine Sekunde lang angesehen – o mein Gott! mit was für herrlichen Augen! Es kam Bonvouloir nicht zum Bewußtsein, daß diese schönen, klaren und herrischen Blauaugen über einem unverschämten knallroten Halstuche standen, das mit einer sehr eitlen, sehr weltlich-modernen Schlingung einen schmalbrüstigen blauen Waffenrock bereicherte. Sie hatte nur das Gesicht gesehen, das jung und weich war, und die sieghafte Pracht jener Augen, von denen allerdings auch die Memoirenschreiber der Zeit berichten, daß sie einzig waren. Bonvouloirs Herz jagte in Fieberpulsen, und es dauerte eine ganze Weile, ehe sie die Dinge rings im Gemache wieder deutlich unterscheiden konnte. Ein zweiter Blick in die Ecke, wo der Geheimnisvolle schon wieder versteckt hinter seinem Globus saß, zeigte die Möglichkeit einer Annäherung. Sie durfte zu ihrer innigen Genugtuung noch etwa ein halbes Stündchen bei den hohen Herrschaften verweilen, und da sie bald wieder Herrin über sich selbst war, so benutzte sie diese Zeit klüglich, um unter allerlei Vorwänden gefälliger Handreichungen dem Tische näher zu kommen, hinter dem das schöne Bild sich verschanzt hatte; ja, sie beschlich dieses mit vollkommen strategischer Gerissenheit. Aber der Herr im roten Halstuch hielt, während er schrieb, eine schmale Linke beständig auf dem Fußgestell seiner Erdkugel, und wie Bonvouloir sich auch wenden mochte, immer schob sich leise und geschickt das große Rund zwischen sie und den blonden Scheitel. Betrübt mußte sie endlich den Gartensaal verlassen; und als sie am nächsten Morgen wieder gerufen wurde, befand sich der Fremde nicht mehr im Kreise der Schloßbewohner.

Übrigens kehrte Bonvouloir nicht mehr in die Gesindestuben zurück, sondern wurde von den Fräulein Texier als dienende Vertraute festgehalten. Sie hielt dies für eine unausgesprochene Anerkennung ihrer göttlichen Berufung und war stolz darauf: in Wahrheit jedoch war es eine Verordnung des Hausherrn, der sich nichts Gutes davon versprach, wenn die Schwärmerei des begeisterten Mädchens ungehindert ins Weite wirken konnte. Er hatte bis zu diesem Augenblicke seine Bauern leidlich ruhig zu halten vermocht, und er hatte ernsteste Gründe, dies auch fernerhin zu tun. Denn abgesehen davon, daß man seine Bauern lieber am Pfluge oder beim Ginsterroden sieht als auf Kreuzzügen, so gefährdete auch das vernunftlose Bandenwesen geradezu die Sache, die es zu fördern glaubte. Es gingen bereits Gerüchte, daß einzelne Edelleute, die sich an Bauernerhebungen beteiligt hatten, verhaftet und verschickt worden seien, und auch Herr von Texier fühlte sich von Bressuire aus genau beobachtet. Noch hatten die Behörden der Republik keine ernsten Gegenmaßnahmen gegen die kleinen Unruhen ergriffen, vielleicht weil sie der Einsicht der Gutsherren vertrauten, die solche ohne Schwierigkeit verhindern konnten. Sahen sie sich darin enttäuscht, so mußten Verstärkungen der Garnisonen, Strafexpeditionen oder gar ein regelrechter Feldzug die nächsten Folgen sein, und das würde eine beträchtliche Erschwerung eines geordneten Unternehmens zugunsten der königlichen Sache bedeuten; und ein solches lag allen Edelleuten sehr stark im Sinne. Deshalb befahl Herr von Texier, der den Einfluß eines begeisterten Frauenwesens, wenn dieses schön war, nicht unterschätzte, die kleine Wundersüchtige nach Möglichkeit im Hause festzuhalten und dem Ansehen, das sie bereits gewonnen haben mochte, eine ruhige Ablehnung entgegenzusetzen. Seine kluge Tochter Louise verstand ihn hierin völlig; Frau von Texier allerdings, die leidenschaftlicher empfand als ihre grauen Haare vermuten ließen, mußte besonders und dringend ermahnt werden, Bonvouloirs heiliges Abenteuer nicht weiter zu verbreiten. »Glaubst du dem lieben Mädchen nicht, was es erzählt hat?« fragte sie mit leichter Gekränktheit den vorsichtigen Gatten. Dieser, mit jener Wärme, die ein Ehemann und ein Diplomat immer zur Hand haben muß, erwiderte unverzüglich: »Jedes Wort glaube ich, mein liebes Herz! Aber was in der Sache des Königs geschehen muß und – verlasse dich darauf! – geschehen wird, darf nicht den Knabenstreichen eines Cathelineau oder eines Stofflet gleichen. Gedulde dich also noch ein Weilchen und gib mir unterdessen hübsch acht auf unsere kleine Schwärmerin!«

Diese Aufgabe wurde der Marquise von Bonvouloirs Seite nicht sonderlich schwer gemacht. Sie redete kaum noch von ihrer Berufung, nun sie sich einmal darin anerkannt fühlte, und im übrigen war das heilige Erlebnis von dem unheiligen verdrängt worden. Bonvouloir dachte jetzt mehr an den Jüngling als an die Jungfrau! Ihr ruchloses kleines Herz ward von Neugier zernagt, wer jener rätselhafte Fremde denn wohl sein möge, und sie ließ tausend Listen spielen, um seinen Namen zu erfahren. So oft im Kreise der Damen Texier von den Bauernaufständen und deren Führern die Rede war, wurde Bonvouloir nicht müde, durch viele unschuldige Fragen soviel Persönliches über die beteiligten Herren herauszulocken, als die arglosen Frauen nur geben konnten. Das schlaue Mädchen glaubte auf ganz sicheren Wegen zu gehen, wenn sie ihren Abgott im Kreise der Rebellen suchte: denn daß jener sein Gesicht so streng verborgen haben sollte, bloß um einem verliebten Mädchenblicke zu entgehen, das konnte Bonvouloir nach den Erfahrungen ihres kurzen, aber inhaltsreichen Lebens keineswegs annehmen. Ein junger Mann, der Frauenaugen ausweicht, muß sehr schwerwiegende Gründe dafür haben.

Leider kam die kleine Diplomatin nicht an das ersehnte Ziel. Sie lernte zwar viele Namen kennen und alles, was als Verehrung oder Spott sich an diese Namen heftete, aber nichts wollte zu dem Bilde passen, das sie so lebhaft ergriffen hatte. Weder der feierliche Herr d'Elbée, der immer einen mit Heiligenbildern gefütterten Rock trug und jeden Befehl mit dem Worte »die Vorsehung« einleitete; von dem es hieß, er habe sich an die Spitze seiner Bauern gestellt, nur um sie an Unbesonnenheit zu verhindern, – noch der struppige und tollkühne Waldhüter Stofflet, der Cathelineaus Frömmigkeit verlachte, aber die besten Schützen im Lande heranzubilden wußte, fügten sich dem Vergleiche. Herr von Bonchamps, dessen Führerschaft noch nicht feststand, aber von den Bauern der Loireniederung heiß erfleht wurde, war dreißig Jahre alt und trug einen Vollbart. Und der wilde Herr von Charette, der nur mittat, weil er überall mittun mußte, wo eine Flinte geladen oder ein Dreschflegel geschwungen wurde, saß gottlob weit drüben im meernahen Marais und kümmerte sich nicht um die Unternehmungen im Poitou.

Erfuhr nun Bonvouloir auch nicht, was sie zu erfahren wünschte, so drang ihre Neugier doch in mancherlei Dinge anderer Art, die zu wissen ihr nicht schadete. Vor allem hatte sie zu lernen, daß jedes Menschen Seele ein Spiegel von eigenem Schliff ist, der die Bilder dieser Welt in ganz bestimmter Brechung wiedergibt, und daß das wahre Bild schwer zu ermitteln ist. Jedes Mitglied der Familie Texier sprach in seiner besonderen Weise von den Vorgängen im Lande, und Bonvouloir hörte mit einer gewissen Verwirrung, wie heftig oft die verschiedenen Meinungen aufeinanderprallten. Im ganzen hielt sich Louise zu ihrem Vater, Henriette und der übrige Hausstand zur Marquise; aber wenn es zu Worten kam, dann redete Louise eine so unerhörte Sprache, daß niemand mehr sagen konnte, wo sie hinaus wollte. Sie war der Dorn in aller Augen, und es ist nötig, daß wir ihr widerspruchvolles und widerspruchlustiges Wesen einmal genauer betrachten.


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