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Keiner der Herren Offiziere der Vendée außer Larochejacquelein hatte etwas Verdächtiges darin gesehen, daß die Besatzung von Fougères ohne den Versuch einer Verteidigung gegen Norden hin abgezogen war, daß man nur einige armselige Außenposten gleichsam überrumpelt hatte, und daß man die Eroberer nun in der Stadt in aller Gemächlichkeit ihr Verwaltungsnetz ausbreiten ließ, bis es einen schönen Teil des ganzen Landes umspannte. Heinrich allein hatte kein Hohnwort auf die »Fünffrankenhelden« gelten lassen, die einen so wichtigen Posten wie Fougères preisgaben. »Sie sparen ihre Kugeln,« sagte er, »weil sie sehen, daß wir von selbst in die Falle laufen. In der ganzen Bretagne ist kein Mann, der nicht wüßte, daß und warum wir nach Granville wollen. Laßt uns schweigen und nach Rennes gehen. Wenn sie uns dort überfallen, müssen wir wenigstens nicht ins Meer springen.«
Seine Mahnung verhallte nicht ganz ungehört. Es gab neben ihm noch andere, die für Rennes stimmten, und der Plan wurde ernstlich erwogen. Auch waren die Bauern dafür, die aus der Basse-Bretagne leichtere Wege in die alte Heimat zurückzufinden hofften. Vorläufig indes drängten die Sorgen einer Regierungsbildung, die Einsetzung königlicher Behörden und ein straffes Zusammenfassen aller Mittel des Landes diese Frage, als eine später zu erwägende, in den Hintergrund.
Die Herren der Vendée wohnten jetzt wieder standesgemäß in adligen Palästen, die ihnen von den königstreuen Besitzern freudig aufgetan wurden. Im altertümlichen Rathause tagte der Oberste Rat, im prunkhaften Kapitelhof wohnte der Bischof von Agra, an den Altären sämtlicher Kirchen wurde für den König gebetet, auf den Straßen standen Marienaltäre an Stelle der Freiheitsbäume, und das Lilienbanner wehte auf allen Balkonen. Das beste war wohl, daß sich im Verlaufe weniger Tage der ganze Heerwurm der Vendéeleute sehr zweckmäßig über ein großes Gebiet verteilt hatte, das sogar die Städte Dol und Avranches umfaßte, so daß die Ernährung der Ungezählten sich von selbst ordnete, freilich immer noch mit einer gewissen Kargheit. Es litt immerhin niemand. Frau von Lescure war auf den Rat ihrer Mutter auf ein stilles Gutshaus ziemlich weit vor der Stadt gebracht worden, wo das kleine Mädchen, das schwer hustete und fieberte, unter Agathens Pflege langsam wieder zu Kräften kam; die zähe Natur der Frau von Lescure selbst fand noch einmal zu gesunder Schwangerschaft zurück, freilich mußte sie sich mehrere Tage beinahe regungslos verhalten. So hatte sie auch dem Begräbnisse ihres Gatten nicht beiwohnen können.
Heinrich wohnte in einem hübschen alten Palaste, wie es ihm als Generalissimus zukam, und Bonvouloir mußte mehr Marquise spielen, als ihr lieb war. Louise hatte sich, um in van Duyrens Nähe zu sein, bei dem Paare einquartiert, sah ihren Freund oft allein und wurde von Bonvouloir weder beobachtet noch gestört. Jetzt war ja wohl der ersehnte Augenblick gekommen, Hochzeitsgedanken durften zu Worte kommen, und es war sogar ein zweites Fest dieser Art nahe, da auch das Fräulein von Bonchamps unterwegs ihr Schicksal gefunden hatte. Van Duyren träumte von einer Doppelhochzeit, die der unterworfenen Stadt die Herrlichkeiten adliger Prunkfreude recht anschaulich zum Bewußtsein bringen sollte; er versprach sich etwas von derartigen Eindrücken. Aber noch einmal hob das Schicksal die Hand und gebot Halt. Eine ungeheure Trauer löschte jede Festfreude aus: der schreckensvolle Tod einer Königin!
Schon in Ernée war das Blatt des Moniteur de Paris, das die Nachricht der Hinrichtung enthielt, von einigen gesehen worden, man hatte da und dort während des Rittes davon gesprochen. Aber in jenen Tagen gingen so viele schauerliche Lügen durch die Welt, daß die Führer Schweigen geboten bis zu unabweisbarer Gewißheit. Diese ließ sich nun in Fougères weder verleugnen noch verschweigen. Überall lagen Pariser Zeitungen mit der entsetzlichen Nachricht, sie wurden in die Häuser der Adligen gebracht, mit Schmerz und Empörung von den Wohlgesinnten, mit boshafter Dienstwilligkeit von Friseuren, Bäckern, Stallknechten und allen solchen, die ihre Gesinnung dem jeweils Erfolgreichen weihten. Es war nicht möglich, die Damen Donnissan und Lescure vor dem Schlage zu schützen, den diese Nachricht für sie, die im engsten Kreise der Königin aufgewachsen waren, bedeuten mußte. Frau von Donnissan gab das Beispiel für alle Damen des eingesessenen wie des Vendée-Adels, ihre Kleider mit schwarzen Schleiern zu verhüllen, auch die kaum entfalteten Siegesfahnen wurden durch schwarze Bänder zu Verkündern öffentlicher Trauer. Wieder mußte van Duyren auf die Erfüllung eines Wunsches verzichten, der ihm am Herzen lag, nicht nur weil er Louisen Liebe und Verlangen entgegenbrachte, sondern mehr noch, weil es sein Gefühl empörte, sie auf einer Stufe mit Bonvouloir zu sehen, die er in seinem Herzen immer noch die Troßdirne nannte, so sehr er sich im Betragen ihrer neuen Würde anpassen mußte. Wenn Bonvouloir ihn mit ihrem leisen, immer ein wenig nachdenklichen Lächeln ansah, glaubte er ihre Gedanken deuten zu müssen, als freue sie sich, daß er und Louise ihr nun nichts mehr vorzuwerfen hätten. Dieser Zustand nagte an ihm, und er bereitete in der Stille alles vor, um die Trauung bei erster Möglichkeit vollziehen zu können.
Weit mehr als alle Damen des Adels, weit mehr als Frau von Lescure selbst war Louise von der Wahnsinnstat der ruchlosen Mörder niedergeschmettert. Als sie die Nachricht vernahm, sahen Heinrich und van Duyren mit gleichem Erschrecken, wie sie zusammenknickte, wie ihr schönes ruhiges Gesicht beinahe greisenhafte Züge aufwies, wie eine Trostlosigkeit, ein Verfall über sie kam, als habe sie eine tödliche Krankheit im Herzen. Ihre Worte gaben keinen Aufschluß über das, was sie dachte, deshalb gaben die Freunde sich mit der naheliegenden Erklärung zufrieden, die vielbestrittene Republikanerin sei am Ende doch dem Königshause treuer ergeben, als sie selbst wohl gedacht hätte. Aber Louisens Schmerz saß tiefer. Immer hatte sie selbst sich bemüht, immer war sie von Livarot dazu ermahnt worden, Ausschreitungen trunkener Machthaber nicht auf Rechnung der Republik zu setzen, so wie auch die Erfahrungen des gegenwärtigen Kriegszustandes sie gelehrt hatten, daß wohlgesinnte und gerecht denkende Männer manchmal die Ursache zu unvermeidlichen Grausamkeiten bieten können. Sie war nicht kindisch genug um zu glauben, daß eine Neuordnung der Welt im einzelnen schonend verfahren könne. Aber diese sinnlose, gänzlich unbegründete Bestialität gegen eine Frau, die nichts verbrochen hatte, als daß sie ihr bitteres Leid in die Welt zu schreien versucht hatte, eine Frau, die noch vor kaum einem Jahre geliebt und bewundert war wegen der tapferen Ruhe, mit der sie sich in schwere Veränderungen gefunden hatte, das war doch etwas, das über alle Berechtigungen des Kampfes hinausging. Das war gemeine Blutgier! Das war Lust am Morden! Und schlimmer noch als die Tat selbst schien dem vornehm empfindenden Mädchen die Begründung, die das Urteil begleitete: denn diese war in allen Einzelheiten mit veröffentlicht worden. Was für schmutzige Seelen hatten sich da in das Kleid der strafenden Gerechtigkeit gehüllt! Wie hatten sie es besudelt, im schwärzesten Unrate geschleift, um es dann triumphierend als Siegesfahne über den Köpfen blinder und gleich schmutziger Narren zu schwenken, denen Gerechtigkeit so fern lag, wie das Firmament der Pfütze, in der es sich spiegelt. Louise weinte eine ganze Nacht vor unsagbarer Beschämung. Hier war nicht ein Gewaltmensch und Mordbube, der zur Rechenschaft gezogen werden konnte, wenn die Zeit seiner sinnlosen Herrschaft abgelaufen war, hier war ein ganzes Volk, das sich weidete an niedrigen Vorstellungen, an selbsterfundenen Anklagen, an der Einbildung gerechtfertigter Grausamkeit, das Verleumdungen und Blut schlürfte als den wahren Nektar seiner Seele. Und das war das Volk, zu dem das große Evangelium der Brüderlichkeit und Menschlichkeit gekommen war! Louise mußte mitten in ihrem Schluchzen plötzlich laut und krankhaft auflachen: eine Schar Affen im Urwald wären gleich würdige Empfänger der Himmelsbotschaft gewesen wie diese Menschen!
Mein lieber Freund! Ich sehe einen Ausdruck des Unglaubens in Ihren Mienen, und dieser Ausdruck allein würde mir verraten, wenn ich es nicht schon wüßte, daß Sie niemals republikanisch empfunden und gedacht haben. Der republikanische Gedanke ist schön, es ist nach dem christlichen der schönste, den der Geist reiner und erleuchteter Menschen je gedacht hat. Aber um ihn zu denken, muß man an die Menschen glauben, muß das Gute in ihnen für die wahre Substanz ihres Seins halten, das Schlechte nur für Ergebnis harter und ungesunder Verhältnisse. Alle Republikaner haben dies getan, immer und zu allen Zeiten. Auch Louise hatte es getan – und sah nun in einem schrecklichen Erwachen, daß das Schlechte, ja, geradezu die Lust am Schlechten das eigentliche Wesen der Menschheit war.
Es fehlte auch in den folgenden Tagen nicht an Beweisen für diese traurige Wahrheit. Die kleinen Zeitungen des Inlandes, aus dunklen Quellen der Pariser Vorstadtboulevards befruchtet, vom Gesetz der neuen Königlichen Regierung unterdrückt und verboten, erschienen plötzlich wieder wie eine niedrig wuchernde Pilzsaat in den Häusern der kleinen Leute, und alle waren voll von Anekdoten zweifelhaftester Art über die Königin und ihre Laster. Und jede Waschfrau, die den Damen eine Haube fältelte, jeder Krämer, bei dem man ein Talglicht erstand, fing seine Begrüßung mit den Worten an: »Haben Sie schon gehört?« und suchte seine schmutzige Weisheit feilzubieten. Sie kamen nicht weit, wenn sie zufällig an Bonvouloir oder an irgendeine andere Dame gerieten. Aber Louise ließ sie reden, hörte in völliger Erstarrung des Gefühls die Ergüsse ihrer armseligen, schmutzfreudigen Gemüter an, preßte sich den Stachel der demütigenden Erkenntnis tief ins Herz und sagte sich immer wieder mit bitterer Selbstanklage: das sind die Wesen, auf die du alle Hoffnung gesetzt hast, das sind sie, um derentwillen du dich von den Deinen gelöst hast, das sind sie, in deren Hände gleich Blinde und Gläubige wie du das Schicksal Frankreichs gelegt haben! Und als mehrere Tage später van Duyren seinen Entschluß zur Tat machen und mit seiner blassen Braut vor den Altar treten konnte, da war Louise nicht nur mit ihrem Herzen und ihren Sinnen, sondern auch mit unbedingter reumütiger Aufgabe ihres früheren Selbst die Seine.