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Total stadtmüde war ich: der Anblick der herabgelassenen Jalousien an den Häusern des Adels, meiner Freunde, machte mir auf meinen Spaziergängen das Herz schwer. Auch verursachte es mir geradezu Unbehagen, in der großen Einsamkeit der verlassenen Klubs in Pall Mall zu sitzen und die Klubdiener anzuöden, die gewiß, wenn ich nicht da säße, gern aufs Land zur Jagd gegangen wären. So dachte ich schließlich selbst daran, eine kleine Reise in die Provinz zu unternehmen und einige Besuche zu machen, die ich bereits längst schuldig war.
Mein erster Besuch galt meinem Freunde, dem Major Ponto (H. P. von der reitenden Marine) in der Grafschaft Mangelwurzelshire. Der Major erwartete mich mit seinem kleinen Phaeton am Bahnhof. Das Gefährt war nicht gerade glänzend, es war aber für einen einfachen Mann (als solchen bezeichnete sich Ponto) und für eine zahlreiche Familie angemessen. Wir fuhren an schönen, frischen Feldern und grünen Hecken vorüber durch eine liebliche englische Landschaft. Die Chaussee war so glatt und gut gehalten wie die Wege im Park eines Edelmannes, und kühler Schatten wechselte angenehm mit goldenem Sonnenschein ab. Landleute in schneeweißen kurzen Jacken rissen lächelnd die Hüte herunter, als wir vorbeikamen. Kinder mit Backen so rot wie die Äpfel im Obstgarten standen an den Türen der Bauernhäuschen und machten ihre Knixe vor uns. Hier und da tauchten in der Ferne blaue Kirchturmspitzen auf. Und als die dralle Gärtnersfrau das weiße Tor, das neben dem kleinen mit Efeu bedeckten Häuschen zum Besitztum des Majors führte, öffnete und wir durch die hübsche Pflanzung von Tannen und Immergrün nach dem Hause fuhren, fühlte ich in meiner Brust eine Freude und Erleichterung, wie man sie unmöglich in der rauchigen Stadtatmosphäre empfinden kann. »Hier«, klang es in meinem Innern, »ist alles Freude, Überfluß und Glück, hier werde ich die Snobs loswerden; auf diesem lieblichen arkadischen Fleckchen Erde kann es keine geben.«
Pontos »Immergrün«, so hat es Mrs. Ponto getauft, ist ein vollkommenes Paradies. Es ist mit Schlinggewächsen überzogen und hat eine Fülle von Bogenfenstern und Veranden. Ein wogender Rasen mit wunderhübsch geformten Blumenbeeten, Zickzackwegen und schönen Myrten- und Lorbeerbaumgebüschen sind der Grund, weshalb man den Namen des Gutes geändert hat, denn zur Zeit des alten Doktor Ponto hieß es der »kleine Ochsenstall«.
Aus den Fenstern meines Schlafzimmers, in welches mich Ponto führte, hatte ich Aussicht auf das schöne Gut, den Stall, das Nachbardorf mit der Kirche und den großen jenseits gelegenen Park. Mein gelbes Schlafzimmer war sicherlich das schönste und netteste aller Schlafzimmer; die Luft duftete nach einem großen Blumenstrauß, der auf meinen Schreibtisch gestellt war, und das Bettzeug duftete nach Lavendel aus dem Wäscheschrank. Die Bettvorhänge und das große Sofa dufteten zwar nicht nach Blumen, waren aber mit Blumen über und über bedruckt. Der Tintenwischer auf dem Tisch war die Nachbildung einer gefüllten Georgine, und als Uhrständer diente eine imitierte Sonnenblume auf dem Kamin. Schlingpflanzen mit scharlachroter Blüte umwanden die Fenster, durch welche die sinkende Sonne eine Flut goldenen Lichtes goß. Alles war voller Blumen und Frische. Oh, welch ein Abstand gegen die schwarzen Schornsteine auf dem St. Albans-Platz in London, auf den meine Augen sonst zu sehen gewohnt waren.
»Hier muß das Glück wohnen, Ponto«, sagte ich, indem ich mich in das bequeme Sofa fallen ließ und einen so köstlichen Zug frischer, aromatischer Luft einsog, wie all die tausend Wohlgerüche im Laden Atkinsons ihn nicht auf dem kostbarsten Taschentuch hervorzuzaubern vermögen.
»Netter Ort, nicht wahr?« sagte Ponto, »ruhig und anspruchslos, wie ich es liebe. Haben Sie keinen Diener mitgebracht? Aber warten Sie, Stripes soll Ihnen Ihre Kleider zurechtmachen.« Gleichzeitig trat auch schon dieses Faktotum ein und begann, meinen Mantelsack auszupacken. Er legte meine schwarzen Kaschmirbeinkleider und die Genueser Sammetweste, die weiße Halsbinde und andere zierliche Dinge, die zu einem Gesellschaftsanzug gehören, mit großer Feierlichkeit zurecht. »Eine große Tischgesellschaft«, sagte ich zu mir, als ich diese Vorbereitungen sah (und war vielleicht nicht einmal unangenehm berührt bei dem Gedanken, daß einige der angesehensten Leute aus der Umgegend nur deshalb kämen, um mich kennenzulernen). »Horch, da läutet es schon zum erstenmal«, sagte Ponto und verließ mich. Und wirklich, dieser laute Verkünder der Essenszeit fing an, seine Stimme vom Stallturm aus zu erheben, und zeigte damit die angenehme Tatsache an, daß das Mahl in einer halben Stunde bereit sein würde. »Wenn das Mittagessen so groß ist wie die Mittagsglocke«, dachte ich, »so bin ich gottlob in ein gutes Quartier geraten.« Ich hatte nun während der halbstündigen Pause nicht allein Muße, mich mit der größten Eleganz, die ich zu entwickeln fähig bin, fein zu machen, den Stammbaum der Pontos, der über dem Kamin hing, und ihr Wappen und den Helmschmuck zu bewundern, mit denen das Waschbecken und der Krug geziert waren, sondern auch meinen eigenen zu Tausenden auf mich einstürmenden Gedanken über das Glück des Landlebens und des harmlosen und herzlichen ländlichen Verkehrs nachzuhängen. Die Sehnsucht, mich bei guter Gelegenheit ebenso wie Ponto zurückziehen zu können, überkam mich, ich wünschte mir, einen eigenen Besitz zu haben, eigenen Wein und Feigenbäume zu ziehen, eine »placens uxor in domo« zu haben und ein halbes Dutzend süßer junger Liebespfänder, die um meine väterlichen Knie in herzlicher Zuneigung spielten.
Horch die Glocke! Die dreißig Minuten sind vorüber, und die Dinerglocke Numero zwei dröhnt vom benachbarten Türmchen. Ich eilte hinunter und glaubte eine Schar gesunder Agrarier im Empfangszimmer versammelt zu finden. Es war indessen nur eine Person dort, eine große Dame mit römischer Nase und mit einem über und über mit Jet garnierten Trauerkleide. Sie erhob sich, ging mir zwei Schritte entgegen, neigte majestätisch den Kopf, wobei der ganze Jetschmuck in ihrem schrecklichen Kopfputz zu zittern anfing, und sagte dann mit einem tiefen Seufzer: »Mr. Snob, wir freuen uns, Sie im ›Immergrün‹ willkommen zu heißen.«
Das also war die Majorin Ponto; ich machte ihr meinen schönsten Diener und erwiderte, daß ich stolz sei, ihre Bekanntschaft und die eines so entzückenden Landsitzes wie »Immergrün« machen zu dürfen.
Wieder ein Seufzer. »Wir sind miteinander verwandt, Mr. Snob«, sagte sie und schüttelte traurig den Kopf, »der arme Lord Rubadub!«
»Oh«, bedauerte ich und wußte nicht, was zum Teufel die Majorin meinte. »Major Ponto erzählte mir, daß Sie von der Linie der Leicestershire stammen und mit Lord Snobbington, der sich mit Laura Rubadub, meiner Kusine, verheiratete, verwandt seien, und um ihren armen lieben Vater sind wir in Trauer. Welch ein herber Schlag! Er war erst dreiundsechzig Jahre, als er am Schlagfluß, der sonst nicht in unserer Familie herrscht, starb. Im Leben sind wir des Todes, Mr. Snob. Wie trägt Lady Snobbington den Verlust?«
»Wie meinen, gnädige Frau – ich – ich kann es wirklich nicht sagen«, stotterte ich in wachsender Verwirrung.
Während sie sprach, hörte ich einen mir wohlbekannten Ton, der so klang, als wenn jemand eine Flasche Wein aufzöge, und Mr. Ponto trat herein mit großer weißer Halsbinde und in einem etwas abgetragenen Anzug.
»Mein Lieber«, sagte die Majorin Ponto zu ihrem Gatten, »wir sprechen gerade von unserem Vetter – dem armen, teuren Lord Rubadub. Sein Tod hat einige der ersten englischen Familien in Trauer versetzt. Wissen Sie wohl, ob Lady Rubadub das Haus in der Hill Street behalten wird?«
Ich wußte es natürlich nicht, sagte aber auf gut Glück: »Ich glaube wohl«, und als ich meine Blicke zufällig auf den Salontisch heftete, gewahrte ich dort den unvermeidlichen, abscheulichen, irrsinnigen, abgeschmackten und widerwärtigen Grafenkalender aufgeschlagen bei dem Artikel »Snobbington« liegen und entdeckte zahlreiche handschriftliche Anmerkungen ...
»Das Essen ist angerichtet«, meldete Stripes, indem er die Flügeltüren öffnete, und ich bot der Majorin Ponto meinen Arm.