Carl von Ossietzky
Sämtliche Schriften – Band IV: 1927–1928
Carl von Ossietzky

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Die Historiker sind ernstlich böse

Vor mir liegen ein paar Bücher, die demnächst gewürdigt sein wollen. Biographien bedeutender oder wenigstens schicksalsvoller Menschen. Die Verfasser sind Journalisten, Politiker, freie Literaten. Kein Mann vom historischen Fach ist dabei. Das nötigt zu einigen Bemerkungen.

Die »Historische Zeitschrift«, das Verbandsorgan der Geschichtsforscher, hat nämlich unter dem Titel »Historische Belletristik« eine Sammlung von Rezensionen herausgegeben, die bei ihr über die bekannten Bücher von Ludwig, Hegemann, Eulenberg und Wiegler erschienen sind. Die Kritiker gehören verschiedenen Schulen und Lebensaltern an, aber sie sind sich einig in einem unbedingten Anathema. Sie legen sich darauf, Irrtümer nachzuweisen und die Autoren als Seichtbolde zu verdammen, aber es gelingt ihnen nur zu überzeugen, daß sie ein Datum oder Faktum besser wissen. Sie verekeln uns weder die Autoren noch ihre Bücher. Und sie beweisen vor allem nicht, daß Einer ihrer Gilde befähigter zu der Aufgabe ist als die von ihnen Abgekanzelten. Sie zeigen nur auf, daß es mit der Historik zurzeit nicht gut steht.

Der Herausgeber, Herr Schüßler, spricht den großen Bannfluch gegen »die neueste Literatur im Stile Hegemanns, Ludwigs, Eulenbergs u.a.« Er verkündet: »Mag deren Darstellung noch so feuilletonistisch gehalten sein; das ist in diesem Fall unwichtig; die Behauptung dieser Literaten jedoch, daß ihre Machwerke Wissenschaft seien oder sie ersetzen könnten, ist zurückzuweisen ... keiner weiß, was historische Anschauung und Wertung ist; kurz unsre Wissenschaft erlebt es, daß Barbaren einbrechen ... Das allgemeine Kulturniveau ist so gesunken, daß die vorliegende ›historische Belletristik‹ – ein buntes Gemisch von plumpster politischer Tendenzmacherei, Feuilletonismus und bodenlosester Kritiklosigkeit – die geistige Nahrung ungezählter gläubiger Leser sind.«

Das ist die eherne Stimme der Wissenschaft, die jeden hinausweist, der tänzelnd in den Vorhof kommt. Das ist die voraussetzungslose Wissenschaft; ihre Wage funktioniert unerbittlich gerecht. Doch Herr Schüßler fährt fort: »Das ist aber auch deshalb nicht gleichgültig, weil, wie gesagt, die politische Tendenz aller dieser Werke völlig eindeutig ist. Ihre Verfasser, soweit sie sich mit deutscher Geschichte befassen, sind höhnende, ungerechte, deshalb verständnislose und jetzt noch haßerfüllte Gegner des alten Kaiserreiches, das Bismarck errichtet hat.«

Daher der Tränenerguß. Damit wäre also die voraussetzungslose Dame schon von ihrem erhabenen Sitz gerutscht und paddelt munter in dem Pfuhl, wo Parteileidenschaften brodeln. Mit dieser Feststellung könnte diese Betrachtung eigentlich zu Ende sein, denn Herr Schüßler scheint Objektivität nur dort zu finden, wo die Kaiserei verhimmelt wird.

Aber ich möchte den Herren doch den Gefallen tun und ihnen in das Röhricht ihrer Argumentation folgen. Ich möchte sie so behandeln, als ob sie wirklich voraussetzungslose Diener ihrer Wissenschaft wären und nicht erboste deutschnationale Parteisekretäre. Sie toben darüber, daß sich Dilettanten in ihre geheiligten Bezirke drängen, aber sie bemerken nicht, daß sie selbst uns jene Leistungen schuldig geblieben sind, die stärker als ein entrüstetes Odi profanum Unwürdige abschrecken. Die Freude an der Geschichte, an bedeutenden Ereignissen und Schicksalen ist wieder da, aber die Männer vom Fach bemerken das nicht. Daß sich das allgemeine Interesse gerade der Zeit von 1850 bis 1914 zuwendet, ist ein überdeutliches Zeichen, daß diese Zeit höchst gründlich abgelaufen ist, daß Inventur gemacht wird. Dem Bedürfnis nach Bestandsaufnahme dienen die verketzerten Bücher. Sie mögen ungleichmäßig sein – sie haben den Vorzug, daß sie vorhanden sind. Die Fachwissenschaft glänzt durch Fehlanzeige.

Wo sie sich tummelt, ergibt ein Verzeichnis von Beiträgen, die in den letzten Jahren im Historikerblatt erschienen sind. Nur ein paar Beispiele: Das Erzstift Magdeburg und der Osten – Calvins Staatsanschauung – Zur Geschichte der Flibustier – Die Diplomatie um 1500 – Mittelalter und Küchenlatein – Das Problem der Renaissance in Byzanz – Der tierische Magnetismus in Preußen vor und nach den Freiheitskriegen. (Wieso? Ruhte der tierische Magnetismus während der Freiheitskriege? Wollte er nach dem Tilsiter Frieden nicht mehr recht klappen, wuchs er nachher ins Ungemessene, weil Preußen Magdeburg und Rheinland geschluckt hatte? Und warum nicht: Die innere Medizin vor und nach dem Kapp-Putsch? Rätsel über Rätsel.) Ein einzelner Temperamentvoller wagt sich an eine Studie über Benedict Waldeck. Ein jugendlicher Wagehals vollends getraut sich bis an den Bericht des Professors Bredt, also nahe an die randalierendste Aktualität, und wird sich wahrscheinlich nachher wie der Reiter übern Bodensee vorkommen und für den Rest seiner Tage reuig in der Spätantike versinken. Die gelehrten Herren sind noch nicht bei der Gegenwart angelangt. Wenn sie endlich bei der deutschen Republik halten, dann werden sich die leichtfertigen Belletristen ganz gewiß schon mit Wilhelm dem Elften beschäftigen. Die Herren sind Spezialisten geworden, die am liebsten unter Efeuhügeln stöbern. Die Eule der Athene hat das Fliegen verlernt, und eine flotte Fußgängerin ist sie nie gewesen.

Jede Wissenschaft, die nicht mehr ganz frisch ist, hüllt sich gern in einen geheimnisvollen Dunst. Sie schafft immer eine Region um sich, nur dem Eingeweihten zugänglich, die sich nicht dem hellen, forschenden Geist, sondern nur dem geduldigen Sitzleder erschließt. Bei der Historik heißt das Geheimnis: Quellenkunde! Was ist daran so geheimnisvoll? Ist ein an andern Aufgaben für die Erkennung des Wichtigen geschulter, sprachkundiger Schriftsteller für die Auffindung und Prüfung von Quellen etwa so ungeeignet wie ein Dachdecker für chemische Analysen? Die Quellenkunde ist Handwerk und deshalb für den Intelligenten erlernbar. Ein Mann wie Wiegler, um nur ein Beispiel zu nehmen, hat für seine Literaturgeschichte mehr zusammengelesen als eine ganze Bieruniversität, die Pedellen inbegriffen. Hegemann kommt von der Bauwissenschaft und ist der geschätzte Herausgeber wichtiger Schriften und Bilderwerke. Ist diesen Schriftstellern die Quellenkunde wirklich ein Schloß im Mond? Der ehrwürdige Delbrück allerdings schreibt mit höchster Akribie: Emil Ludwig (Cohn). »Wie schlecht steht Possenreißern weißes Haar!« (William Shakespeare: Heinrich der Vierte, Zweiter Teil, fünfter Akt, fünfte Szene.) Außenseiter wie Carlyle oder Krapotkin haben mit minutiösester Genauigkeit gearbeitet, und der große Anatole France hat sich in seiner »Jeanne d'Arc« so weit in fachliche Gewissenhaftigkeit versponnen, daß große Strecken des Werkes so langweilig sind wie von einem richtigen Herrn von der Sorbonne abgefaßt.

Die Zunft sieht Niedergang, Verfall, Entweihung – den Einbruch der Barbaren. Die Barbaren haben niemals nur zerstört, sondern oft eine neue große Epoche angekündigt. Die politisch-historische Literatur ist wiedererstanden, und wird, vor allem, wirklich gelesen. Es ist die eigne Schuld der Schulhistorik, daß sie daran nicht teil hat.

Die Weltbühne, 11. Dezember 1928


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