Carl von Ossietzky
Sämtliche Schriften – Band IV: 1927–1928
Carl von Ossietzky

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Wiener Anschlußparade

Schicksalsgemeinschaft. Kulturgemeinschaft. Rechtsangleichung. Große Staatsvisite. Händedruck zwischen dem schwarzen Marx und dem schwarzen Seipel. Friedensreden, die niemand bestellt hat und deshalb niemand abholt. Man nennt die Summe von solchen Geräuschen neuerdings den »schweigenden Anschluß«.

Die pariser Presse wahrt dies Mal Reserve. Kein Alarm, kein verletzendes Wort. Briand, der Schlaue, mag es eingepaukt haben, daß Pläne, deren Gedeihen man nicht wünscht, am sichersten durch Nichtbeachtung sterilisiert werden. Demonstranten, die niemanden zum Aufblicken nötigen, gehn bald nach Haus. Nicht so diszipliniert halten sich die Sukzessionsstaaten. Hier wird warnend auf die Verträge hingewiesen und auf Österreichs für die Sanierung übernommene Verpflichtung, seine staatliche Selbständigkeit zu bewahren. Wozu bemerkt werden muß, daß es ebenso unvernünftig ist, zwei Völker, die zueinander streben, durch Machtgebot zu trennen, wie zwei Menschen, die sich vereinen wollen. Das mögen grade die Sukzessionsländer bedenken, die doch alle durch das Selbstbestimmungsrecht legitimiert, dem k.u.k. Arrestlokal entwichen sind. Etwas andres ist nur, ob die beiden beteiligten Völker die Vereinigung wirklich als so dringend empfinden, daß sie bereit wären, alle Schranken der Konvention, alle Fesseln der Verbote zu sprengen. Nun, die Beziehungen zwischen Deutschland und Österreich sind nicht nur ausgezeichnet, sie sind sogar warm, sie sind herzlich, und die Beiden sind sich in der Vergangenheit wiederholt so nahe gewesen, daß sie sich schließlich nicht mehr riechen konnten. Jedenfalls: die Beziehungen sind brillant, aber kaum so, daß einer für eine Stunde der Umarmung nächtlich durch den Hellespont schwimmen möchte und durchaus noch in dem Stadium, wo der Kopf das Herz zu zügeln vermag.

Deutschlands Grenzen am Rhein und an der Weichsel bilden heute noch immer langgestreckte Gefahrenfelder. Was wäre durch eine Verlängerung nach Südosten und Süden mehr zu gewinnen als der europäische Rekord in der Problematik der Grenzen! Das würde nicht nur rundum Erregung und Mißtrauen hervorrufen, sondern Deutschland selbst mißtrauisch und unsicher machen. Wenn heute die drei skandinavischen Staaten sich vereinen wollten, so gäbe es nur eine einmütige Gratulationscour, denn diese Länder bleiben bewußt den weltpolitischen Schußlinien fern. Käme aber etwa Finnland hinzu, so würde Rußland sofort sein Veto einlegen. Denn an Stelle eines zwischen Arroganz und Verzagtheit schwankenden Kleinstaates wäre ihm an seiner Nordwestgrenze plötzlich eine Großmacht vorgelagert. In Skandinavien aber würde man sich sehr ernsthaft fragen, ob es sich lohnt, den heutigen komfortablen Zustand gegen einen Machtzuwachs einzutauschen, der Beteiligung an allen europäischen Händeln bedeutet. Deutschland leidet ohnehin an einem Übermaß von »Marken«; es hat genug Grenzländer, deren Nervosität selbst in die Psyche der räumlich Entferntesten züngelt. Und nun stelle man sich vor: Deutschlands Grenze am Brenner, Deutschland in Balkannähe, Deutschland als Nachbar Mussolinis und der italienisch-jugoslawischen Rivalität, die grade in diesen Tagen durch den Vertrag Paris–Belgrad neuen Heizstoff erhalten hat. Welch Wust von neuen Streitfragen und welch ungeahnte Aspekte für die nationale Hysterie!

Aber wird bei uns der Anschluß wirklich als lebenswichtig empfunden? Ist das eine Sache, die den durchaus nicht mythischen Mann auf der Straße berührt? Gewiß, unser Reichsbanner läßt gern »Großdeutschland« hochleben, aber das ist nicht so schrecklich wörtlich zu nehmen: man braucht halt ein nationales Visum, sonst springen die Bürgerlichen ab ... Was bisher appelliert und proklamiert wurde, war durchweg das Produkt eines betriebsamen berliner Klubbismus, in dem redliche Ideologie etwas unbeholfen neben der schoflen Kalkulation jener geschäftigen Mehrer des Reiches steht, die in Gedanken schon die künftigen Rekrutenziffern errechnen, so wie sie vor zehn Jahren Polen »befreiten«, weil das eigne Kanonenfutter anfing, rar zu werden.

Übrigens hat man für die wiener Parade einen etwas seltsamen Zeitpunkt gewählt. Grade jetzt blüht dort unten die Reaktion; in Marschbereitschaft gegen das rote Wien die bewaffneten Heimatwehren – Monsignore Seipel hat einstweilen gesiegt. Zähneknirschend steht die Sozialdemokratie zurück, weil sie weiß, daß die Reaktion mit dem ungarischen, mit dem italienischen Fascismus versippt ist, und jeder Revolver, der etwa in Wien losgeht, die Intervention in die Nähe rückt. Wenn in diesem Augenblick ein so breiter Sympathienaustausch zwischen der Republik Hindenburgs und der Seipels für notwendig gehalten wird, muß die Frage schon gestattet sein, an wen eigentlich angeschlossen werden soll? An das zerspaltene, zur Hälfte rote Österreich oder ... an Horthys Ungarn, den Vorposten des fascistischen Blocks ...? Als im Sommer das wiener Justizpalais brannte, hatten Seipels deutsche Freunde plötzlich keine Lust mehr. Westarp winkte scharf ab. Seit Seipels Sieg ist Österreich wieder viel appetitlicher geworden. Und war nicht Seipel selbst, als bei uns die Weimarer regierten, Anschlußgegner? Es gilt, aus den Erfahrungen seit 1919 das Fazit zu ziehen: die Anschlußidee hat bisher für keinen Politiker von Grad und Einfluß einen absoluten Wert besessen – sie war, hier wie dort, stets abhängig davon, wer drüben regierte. Das bestimmte die Temperatur der Gefühle. So sieht aber keine Schicksalsgemeinschaft aus.

Zu fordern bleibt: macht ein Ende mit dem schweigenden Anschluß! Im Interesse Deutschlands wie Österreichs darf nicht heimlich ein Gericht zusammengekocht werden, das mal plötzlich überlaufen kann, wenn die Küchenchefs grade nach der andern Seite gucken. Offene Diskussion tut not, kritische Diskussion, nicht das jetzt beliebte sentimentale Gebrabbel.

Die Weltbühne. 22. November 1927


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