Carl von Ossietzky
Sämtliche Schriften – Band IV: 1927–1928
Carl von Ossietzky

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Kompromiß Venetia

Es ist nicht alltäglich, daß ein junger Unterhaltungsschriftsteller von blendenden Gaben, der sich auf den ersten Anhieb Welterfolg geholt hat, plötzlich seine Ziele weiter steckt, ohne darüber die Vorzüge seines Metiers zu verlieren. Michael Arlen ist bei Kriegsende blutjung und bettelarm mit nichts als einem langen armenischen Namen und mangelnden englischen Sprachkenntnissen in London eingezogen. Dann kamen ein paar mit früher Virtuosität geschliffene Gesellschaftsromane, die ihn zum Mann des Tages machten. Vor ein paar Wochen zeigten die großen Modemagazine Bilder von der Hochzeit des Herrn Michael Arlen mit der Contessa Mercati in Cannes. Doug und Mary waren Gäste, dazu etliche amerikanische Finanzgrößen, die gelegentlich ein paar europäische Börsen durch den Reifen springen lassen. Schöne Frauen, pikfeine Automobile, Anzüge zum Entzücken; Hochzeit in Cannes. Es ist wie ein Traum von Kasimir Edschmied.

Jetzt stellt sich der erfolgreiche Michael Arlen mit einem vielumfassenden Zeitroman vor, der beweist, daß er in Sybaris nicht entnervt und versüßlicht, sondern nur verfeinerter, hellhöriger und beweglicher geworden ist. Das Buch heißt in der deutschen Ausgabe »Kompromiß Venetia« (Weller & Co., Leipzig), spielt in Krieg und Nachkrieg, zeigt Aufschwung und Hoffnung der Jugend und ihren Verfall und die Kompromisse und die schließliche Einordnung nach allem Spektakel. Das ist mit Bissigkeit und Laune und mit sehr, sehr viel Menschenkenntnis geschrieben. Nichts gemahnt mehr an Galsworthy, den soliden Porträtisten der guten englischen Familie. Dem steckt, auch wo er tadelt, die Ehrfurcht tief in den Knochen. Er ist der Eingeborene, der nicht nur die Gesetze, sondern auch die nationalen Vorurteile achtet. Nicht nur das rapidere Temperament trennt Arlen von dem Chronisten der Viktorianer. Denn er sieht Britannia mit den Augen des Fremden, mit den Augen des nichtgeladenen Ballgastes, der toleriert wird, weil er gut gekleidet und amüsant ist und der seinerseits die ganze Gesellschaft zum Totlachen findet, ohne die Krähenfüße zu vergessen, die geheimer Kummer den Leuten um die Augen gekritzelt hat. Kaum bietet sich dem Gesellschaftskritiker ein besseres Objekt als England, denn nirgends war die Konvention eherner, nirgends ihr Sturz katastrophaler. Das Chaos, fünf Minuten nach diesem Weltuntergang, hat hier seinen damit nicht unzufriedenen Interpreten gefunden. Während Oscar Wilde sein Lebelang in einem Salon seine memorierten Pointen abbläst, Shaw seit vierzig Jahren einen unsichtbaren internationalen Fabierklub apostrophiert, hat Michael Arlen sich mit schöner Ungezwungenheit mitten im geheiligten britischen Schlafzimmer niedergelassen, ohne sich von den von der Schicklichkeit gezogenen Pentagrammen Pein machen zu lassen. Die Heldinnen der englischen Romanciers bleiben sonst immer Klippschülerinnen der Liebe, ihre Sünderinnen reden wie Diakonissen, die sich einen guten Tag machen wollen, und meistens bleibt der Herr Autor die Antwort schuldig, worin die Sünde eigentlich besteht. Man frage einen ergrauten Anglisten wie Wolf Zucker, wann die letzte Romanengländerin im Bett gesehen ward? Man muß wohl in die aufgeräumten Zeiten von Fielding und Smollett zurückpilgern.

Im Mittelpunkt der Geschichte steht Venetia, die schöne Tochter eines Finanzmagnaten, die früh vereinsamt, in dem Dunstkreis einer lasciven väterlichen Lebensführung zu einem seltsam verschlossenen und verschrobenen Geschöpf wird. Jahrelang hat sie eine Liebschaft mit einem viel ältern, verheirateten Politiker, um dann einem erfolgreichen Schriftsteller zuzufallen, ohne den andern aufgeben zu können. Das Kompromiß zerbricht: die beiden Männer sind engherziger, egoistischer als das liebenswürdige Mädchen. Sie pochen auf Besitzrechte, entwickeln desperate Szenen. Venetia aber hat einen vagen Traum von weiblicher Freiheit, von Selbstbestimmung; sie möchte sich schenken. Doch es ist der Bessere von den Beiden noch, der erwidert: »Die weibliche Spitzfindigkeit, daß Frauen nur sich selbst gehören, wird in der Praxis hinfällig.« Venetia geht in eine Ehe mit einem jungen, harmlosen Trottel. Um diese mit Grazie, mit Heiterkeit, etwas Traurigkeit, mit viel Menschenkenntnis und gelegentlich auch einigem Bluff erzählte Geschichte gruppiert der Autor die Figuren einer bestimmten Schicht zwischen 1914-24, Politiker, Finanziers, Zeitungsleute – Piraten und Geplünderte. Wie sie unter sich über den Krieg sprechen, über Irland, über Geschäfte und Streiks, das ist nicht nur erstaunlich scharf dialogisiert, sondern auch oft vor böse schwarze Hintergründe gesetzt. Man weiß nicht, ob dieser Roman eine neue Entwicklung seines Verfassers anzeigt, oder nur die lässige Geste eines Erfolgreichen bedeutet, der in ein paar Jahren einige zehntausend Pfund verdient hat und es sich erlauben kann, dem geschätzten Publikum ein Mal zum Spaß auch die andre Seite seines Talentes zu offerieren. Aber selbst dann möchte man den freundlichen Salut einem Romanschreiber nicht versagen, der empfindet, daß eine männliche Eleganz durch ein Stück Courage nicht verunziert wird.

Die Weltbühne, 14. August 1928


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