Carl von Ossietzky
Sämtliche Schriften – Band IV: 1927–1928
Carl von Ossietzky

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Fürsorgezögling Hintze

Der Neuköllner Jugendrichter ärgert sich über einen langen Schlacks mit drahtigem Kraushaar und abstehenden Ohren. Er nennt ihn arbeitsscheu und denkfaul und gibt sich auch sonst alle Mühe, aus dem wortkargen sechzehnjährigen Bengel so etwas wie ein menschliches Gefühl herauszulocken. Es mißlingt. Der Junge bleibt verstockt und setzt der feierlichen Prozedur ein bissiges Schweigen entgegen.

Das ist der Fürsorgezögling Willi Hintze, der vor ein paar Monaten wohlhabende Häuser mit einem sehr üblen Trick gebrandschatzt hat. Er erschien bei gewissen Familien und erzählte, einer der Angehörigen sei bedenklich verunglückt und er, Hintze, sei beauftragt, Geld für Medikamente und ärztliche Behandlung zu holen. In der großen Bestürzung, die diese Kunde erregte, ist es ihm in fast dreißig Fällen gelungen, ziemlich beträchtliche Summen zu bekommen.

Ein widerwärtiger Trick, der mit Recht den Zorn des Jugendrichters hervorrief, und auch hier soll für den Fürsorgezögling Willi Hintze nicht Charpie gezupft werden. Auf die wiederholte Frage, ob er denn niemals nachgedacht habe, in welch namenlose Angst er damit Familien versetzt habe, antwortete er ganz ruhig: »Ich habe mir das nicht weiter überlegt. Ich habe mir keine Gedanken gemacht. Für mich war das Geld die Hauptsache.«

Angeklagte, die so sprechen, sind nicht beliebt. Denn was er sagte, war mehr als ein persönliches Bekenntnis: es war das unverhüllte Credo der kapitalistischen Gesellschaft überhaupt, seltsam anzuhören aus dem Munde eines halbflüggen Proletarierjungen, der hier zur Rechtfertigung kleiner schmutziger Gaunereien ganz intuitiv das sagt, was ergraute Wirtschaftsführer auf der Höhe der Erfolge als Quintessenz ihres Seins auch sagen können, aber leider nur sehr selten sagen und kaum öffentlich. Der selige Stinnes hat bekanntlich immer nur für seine Familie gescharwerkt.

Aber dieser von allen Geistern der Selbsterhaltung verlassene Hintze weiß nicht, wie günstig etwas Familiensinn wirkt. Der Herr Vorsitzende, um aus diesem Kieselstein ein Fünkchen zu schlagen, erinnert ihn an seine Mutter. So, jetzt muß doch die Stimme brechen, die Träne rieseln. Doch der besagte Hintze klappt nicht zusammen, sondern erwidert ganz mucksch: »Lassen Sie meine Mutter aus dem Spiel, die hat hier in der Sache nichts zu tun.«

Ist jemals ein Richter so schroff zur Sache gerufen worden? Ist jemals die ranzige Routine richterlicher Güte so prompt abgeführt worden? Dieser junge Bursche will nicht Untersuchung seiner Psyche und Gemütsart, keine Fahndung nach mildernden Umständen, kein Sentiment, sondern seine Strafe und damit Schluß. Und dem letzten Versuch, seine Bockigkeit zu durchdringen, setzt er eine Antwort entgegen, die Zehntausende von gutgemeinten Büchern zu Makulatur degradiert und einige tausend Meter gemüttriefende Filmleinwand jäh zerreißt.

Das Gericht hat ihn wegen mangelnder Willensbestimmung freigesprochen, nachdem der Staatsanwalt sechs Monate Gefängnis beantragt hatte.

Der Antrag des Staatsanwalts war hart, aber es galt hier nicht ein Verbrechen zu bestrafen, sondern eine Natur. Dafür kennt ein Staatsanwalt nichts, was milder stimmen könnte.

Der Fürsorgezögling Hintze trägt den Katechismus der bürgerlichen Ordnung, den Andre sich mühsam und schmerzenvoll aneignen müssen, im Blut. Daß ers nicht verhehlte, macht ihn so odios. Aber er wird nicht untergehen. So etwas kann nicht untergehen. Man soll seine Seele nicht lammherzigen Jugendverbesserern zur Reparatur geben. Er gehört in ein Industriesyndikat.

Die Weltbühne, 14. Juni 1927


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