Carl von Ossietzky
Sämtliche Schriften – Band IV: 1927–1928
Carl von Ossietzky

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Die Belange von Kuhschnappel

»Ich stehe vielmehr auf dem Standpunkt, daß Preußen, das etwa drei Fünftel des Reiches darstellt und das bereits durch den Friedensvertrag erheblichen Land- und Bevölkerungsverlust gehabt hat ... in seiner Geschlossenheit und Größe unbeeinträchtigt aufrecht erhalten werden muß, da es zweifellos den Kern für einen deutschen Einheitsstaat bilden wird ...« Und weiter: »Die preußische Regierung glaubt hervorheben zu sollen, daß ihr eine baldige Wiederaufnahme etwaiger Verhandlungen zwischen beiden Ländern nicht dringlich erscheint.«

Ja, was ist denn wieder los? Geben denn die verdammten Polen noch keine Ruh? Wer spricht denn so, daß man selbst bei friedlicher Zeitungslektüre deutlich den Küraß klirren hört als Begleitmusik zu solchen erzgeschienten Worten, »... baldige Wiederaufnahme etwaiger Verhandlungen ... nicht dringlich!« Gott und unser scharfes Schwert! Wir haben Zeit.

Doch, Ernst beiseite, es handelt sich hier nicht um eine verspätet publizierte, im Drang der Ereignisse übersehene Kriegsrede, sondern um Darlegungen des Herrn preußischen Ministerpräsidenten in der Groß-Hamburg-Debatte des Landtags. Es handelt sich nicht um den Konflikt mit einer fremden Macht, sondern um eine innerdeutsche Angelegenheit. Es wird also wieder mal ein bißchen Sechsundsechzig gespielt; Wappentiere werden aufeinander gehetzt, und der zum preußischen Premierminister avancierte internationale Sozialdemokrat empfindet zwingend, daß er der historischen Situation gerecht werden müsse, um als Verteidiger, lieber noch, als Mehrer preußischen Bodens den republikanischen Schulbüchern der Zukunft überliefert zu werden. Ohne Otto Brauns Überschwang betrachtet, liegen die Dinge so:

Das vom großen Nachbarstaat fest umklammerte Hamburg muß, um seinen Hafen auszubauen und neues Wohngelände zu gewinnen, sein Gebiet arrondieren. Darum ziehen sich jetzt jahrelang Verhandlungen hin, die, dank preußischer Unnachgiebigkeit, immer mit zugeknallten Türen endeten. Daß die Einwohner der Elbeorte, die bei einer Neuregelung hamburgisch werden müßten, sich aus manchen praktischen Gründen, nicht zuletzt steuerlicher Art, widersetzen, ist begreiflich, und darüber läßt sich reden. Aber wenn der Herr preußische Ministerpräsident sich hinstellt und etwas von »hamburgischer Großmannssucht« schmettert und überhaupt bei der Gelegenheit alle Feinde Brandenburgs in den Staub wirft – darüber läßt sich gar nicht reden. Das ist ganz einfach komisch und wird nur ernst, weil ein uraltes deutsches Thema, das deutsche Thema par excellence, hier aufgerührt wird. Ist denn die Entwicklung der deutschen Handelskapitale nicht den Verzicht auf ein paar Streifen Landes in Hannover und Schleswig-Holstein wert, zwei Provinzen, die bekanntlich auch nicht grade durch Kauf oder Erbschaft an die preußische Hausmacht gelangt sind? Es dreht sich doch nicht um eine Abtretung an den Feindbund. Weshalb also der Lärm? Hätte der Genosse Otto Braun das preußische Geld nur ebenso tapfer gegen die Hohenzollern verteidigt wie jetzt jeden Fußbreit preußischen Bodens gegen den hamburgischen Nachbarn!

Aber die preußische Regierung läßt ihren Chef nicht nur reden wie einen alten kurbrandenburgischen Seneschall, sondern diesen Worten unglücklicherweise noch eine Tat folgen: eine Gesetzesvorlage nämlich, in der die Hamburg umfassenden preußischen Städte durch Eingemeindungen verstärkt, gegen die große Schwester »konkurrenzfähig« gemacht werden sollen. Statt des Versuches einer Einigung nur gesteigerte Einengung Hamburgs. Statt des Versuches, die Grundlagen der künftigen wirtschaftspolitischen Einheit Groß-Hamburg zu schaffen, neue Abgrenzung, demonstrative Scheidung. Statt der nüchternen Zweckmäßigkeit zu folgen, wird ein völlig unorganisches Groß-Altona konstruiert und »konkurrenzfähig« gemacht, um auf diesem Umwege der ihrer galanten Heimindustrie wegen ehemals weltberühmten Stadt zu neuer Blüte zu verhelfen. Die Bureaukratie siegt über die Vernunft. Was die Andern können, das können wir auch. Die Hauptsache: es wird wieder einmal organisiert; es wird eingemeindet, es gibt Schreibereien; der Kanzleibetrieb hat wieder seine große Zeit. Und während das mit schicksalhafter Zwangsläufigkeit vor sich geht, wird am Vereinstisch munter von deutscher Einheit geschwafelt, wird bei Banketten gesinnungsstark und nibelungentreu auf Groß-Deutschland getoastet. Schilda als Metropolis maskiert.

 

Der Genosse Braun indessen wollte nicht nur wettern, sondern ganz staatsmännisch, ganz bismärckisch, auch höhere Gesichtspunkte aufweisen. Man muß ihm aufrichtig dankbar sein, daß er nicht gleich die Reichsexekution beantragt hat, o nein, er läßt es beim Rade bewenden: er empfiehlt ganz einfach Anschluß an Preußen. Aber das ist gar nicht so einladend, wie er denkt. Der Genosse Braun übersieht in der Zufriedenheit des Autochthonen, daß der Begriff Preußen sich nicht nur südlich des Mains keiner überzeugenden Werbekraft erfreut. Schon der Westdeutsche hat dabei eine Vorstellung von etwas Unbehaglichem, von Steifheit, kastenmäßiger Absonderung und überheblicher Beamtenhierarchie. An diesen Gefühlen hat auch die derzeitige Linksregierung nichts ändern können und wollen. Ist Preußen deshalb beliebter geworden, weil seit ein paar Jahren sozialdemokratische Minister dort sitzen? Bedeutet das schon moralische Eroberung und Überwindung tief wurzelnder volkstümlicher Empfindungen? Preußisch gilt, trotz Abrüstung, noch immer als militärisch. Daran hat sich nichts geändert. Wenn der Genosse Braun den borussischen Geist für die Dauer einer Parlamentsrede aufs Turnierpferd setzt und die Tartsche schwingen läßt, ergötzt das Niemanden als die ihm unterstellten wilhelminischen Geheimräte, und auch da werden die meisten mitleidig die Achseln zucken: Gott, was sich der Sozi für Mühe gibt ... Es gibt einen falschen Föderalismus, der am liebsten von München aus Weltpolitik machen möchte, und es gibt einen falschen Unitarismus, der die einzige Lösung in der Verschlingung Deutschlands durch Preußen sieht. Beide Methoden sind unmöglich. Überlebt und unbrauchbar geworden ist der heutige Zustand mit den Landesregierungen, Landesparlamenten, Gesandschaften etcetera – getreuen Kopien des befehdeten berliner Regierungsbetriebs. Bismarcks Fürstenbund von Versailles war eine großartige Kompromißleistung. Die Fürsten sind fort, die Grenzen zwischen den Ländern geblieben. Die Wirtschaft hat in aller Ruhe eine neue Gliederung des Reiches vorbereitet, die Politik hat die Frage noch nicht einmal nachdrücklich zur Diskussion gestellt. Kostspieliger Leerlauf, Vergeudung von Volksgut; denn die Belange von Kuhschnappel kosten Geld, und ihre Wahrnehmung erfordert einen ungeheuerlich aufgeblähten Apparat. Otto Brauns Parteifreund Scheidemann hat einmal die trefflichen Worte gesprochen, daß man nicht jeden Grenzstein zu respektieren brauche, den vor hundert Jahren ein lange vermoderter Diplomat gesetzt habe. Das bezog sich auf Belgien, und Der es sagte, wird heute über diese Erinnerung nicht erfreut sein. Aber wenn man schon extra muros so großzügig war, ehrwürdige Dokumente als chiffons de papier zu betrachten, wie viel mehr gilt das nicht für die Angelegenheiten im eignen Kral! Daß die Auseinandersetzung darüber nicht in Fluß kommen will, daran ist nicht zuletzt die zähe behauptete preußische Vormachtstellung schuld. Denn das ist allerdings evident: dieses aus den verschiedensten Teilen zusammengesetzte Preußen ist seit dem Abgang der Monarchie nur noch eine Fiktion. Hausmachtswille einer Dynastie hielt es zusammen; mit ihrem Sturz zerfiel es in seine natürlichen Teile. Heute ist es mit seinem Verlangen nach Suprematie ein Hindernis der Einung und eine Bekräftigung der Anschauung, daß es, wie vor Bismarcks Tagen, noch immer eine deutsche Frage gibt. Erst wenn Preußen nicht mehr da ist, wird Deutschland geboren werden.

 

Herr Unterrichtsminister Doktor Becker hat ein ausgesprochnes Pech. Schon ließ er sich als Sieger im Studentenkrieg feiern, und nun wollen die jungen Herrn sich plötzlich drücken; sie desavouieren ihre Vertreter und suchen der Vereinbarung mit dem Ministerium eine Deutung zu geben, die, wenn sie von Hörern der juristischen Fakultät herrühren sollte, zu den schönsten Hoffnungen auf eine Richtergeneration von Köllings und Niedners eröffnet. Herrn Doktor Becker wird jetzt nichts übrig bleiben, als seine Energie zu beweisen, falls die Studentenschaften nicht doch noch im letzten Augenblick einen diplomatischen Dreh finden sollten, um sich und den Herrn Minister aus der Klemme zu ziehen.

Herr Becker ist ein vorsichtiger und trotzdem immer von Mißgeschicken verfolgter Mann. Er hat lange zugesehn. Wehrverbände gingen pleite, große rechtsradikale Gruppen lösten sich in kleine, miteinander raufende Konventikel auf. Die völkische Bewegung ist müde geworden. Nur die Universitäten blieben wie in den Tagen des Rathenau-Mordes. Nichts hat sich seit Jahren dort geändert. Herr Becker verhielt sich dazu wie ein kaum beteiligter Zuschauer, der nur in Aktion trat, wenn ihm die Steine hageldicht durchs Fenster prasselten. Endlich mußte sich selbst dieser behutsame Mann entschließen. Er legte den Studentenschaften eine Konkordienformel vor und ließ ihnen ein paar Monate Zeit zum Nachdenken. Es ist so gekommen, wie alle Kenner des akademischen Bürgertums von heute erwartet haben: die Studenten haben nach Ablauf dieser Frist Ja gesagt und versuchen jetzt daran zu deuteln und wollen es gar nicht so gemeint haben. Denn unsre jungen Teutonen sind in der Rabulistik am stärksten und drehn an einem deutschen Manneswort so lange herum, bis sie es endlich auf den Rücken gelegt haben.

Warum aber diese plötzliche Fronde? Herr Becker ist ja gegen seine buntbemützten Kindlein sowieso kein Herodestyrann. Er hätte ihre Unterschrift zur Kenntnis genommen und Alles wäre geblieben, wie es war. Rechnen die Studenten damit, daß Herr Doktor Becker nicht mehr allzu lange Minister sein wird, daß sich in Preußen überhaupt demnächst etwas verändern wird? Jedenfalls waren die Jüngelchen bisher immer gut beraten, und vielleicht ist ihnen dies Mal die Aufgabe zugefallen, die Feindseligkeiten gegen die preußische Regierung als Avantgarde zu eröffnen. Zwar versichern die republikanischen Blätter, die Koalition stehe bombenfest. Aber die Luft ist voll Konfliktstoff; an allen Ecken wird versucht, Streit zu entfesseln. In dieser Stimmung wird der Studentenkrieg seine Wirkung haben; die jungen Leute haben sich bisher immer brauchbar erwiesen. Trotzdem braucht der Universitätskrakehl nicht überschätzt zu werden. Nicht das Radauheldentum der Studenten, die Gesinnungslosigkeit vieler Herren Professoren ist das ärgste Übel. Studentische Selbstverwaltung? Die kulturelle Rolle der deutschen Universitäten ist einstweilen ausgespielt. Ob Becker siegt oder seine Gegner – auch hier geht es um Belange von Kuhschnappel.

Die Weltbühne, 1. März 1927


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