Carl von Ossietzky
Sämtliche Schriften – Band IV: 1927–1928
Carl von Ossietzky

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Die Mayerlinge

Als ich noch ein kleiner Junge war und neugierig die Buchstaben abtastend mich durch die Schlinggewächse einer Zeitungskolumne mühte, las ich zum ersten Mal: Die Tragödie von Mayerling. Ein tüchtiger Kerl, der Mayerling! dachte ich in meiner Unschuld und stellte mir darunter einen emsig schreibenden, ältlichen Herrn vor; lang, schmal und etwas blaß, die großen träumerischen Poetenaugen, vom vielen Tragödienschreiben Wasserfarben geworden, mit goldgerandetem Kneifer bewehrt.

Seitdem sind an die dreißig Jahre vergangen, und unser fleißiger Verfasser hat nicht gerastet. Eher ist mit den Dezennien seine Produktivität gewachsen, und seine Werke füllen schon eine geräumige Bibliothek. Er hat natürlich Schule gemacht, und alle jungen Nachfolger, einerlei, welcher Methode sie huldigen, der seriösen Forschung oder dem medisanten Auspacken von Palastgeheimnissen, kennen nur ein Thema: das traurige Ende des Kronprinzen Rudolf und der Mary Vetsera. Grade jetzt tritt ein neuer Mann auf den Plan, ein Italiener mit dem phonetisch gefälligen Namen G.A. Borgese, und der Merlin-Verlag zu Heidelberg präsentiert sein Buch.

Herrn Borgese gebührt die Palme vor allen Vorgängern. Dem Sammeleifer einer geduldigen deutschen Archivassel gesellt sich harmonisch eine glänzend trainierte Reporterphantasie; doch zwischen diesen scheinbar polaren Gegensätzen zeigt ein stockernster Gelehrter plötzlich weite geschichtliche Aspekte auf, und philosophische Soffitten hängen in eine Szene, in die mit allem Komfort von 1916, ein Vater-Sohn-Drama eingebaut ist. Ein solider Plauderer und flotter Historiker, der zu denjenigen Wahrheitsforschern gehört, die die Muse der Geschichte immer dann interviewen, wenn sie grade abgeschminkt im Bett liegt. Aber Clio ist dankbar und segnet ihren Gast mit einem Füllhorn von Daten und Fakten. So beherrscht Herr Borgese seinen Stoff mit leichter Anmut: »Mary hat sich also am 13. Januar, einem Sonntag, dem Kronprinzen Rudolf hingegeben«. Und er kommentiert das mit eleganter Menschenkenntnis: »Sicherlich ging die Initiative von Mary aus. Und die Zeugnisse beweisen übereinstimmend, daß Rudolfs Vorgehen relativ zurückhaltend und vorsichtig war. Ein Zyniker, dem es nur darauf ankam, koste es, was es wolle, zu genießen, hätte die gute Gelegenheit ganz anders ausgenutzt.«

Das ist gewiß sehr interessant. Aber wem ist nun mit der Feststellung gedient, daß die Hingabe grade am Sonntag erfolgte? Wenn sich irgend ein junger Bursche mit seiner Mizzi im Prater totschießt, so erschöpft die Zeitung die Problematik des Falles mit der simplen Registrierung: Liebeskummer. Was die Mayerlinge und ihre aufnahmefreudigen Leser reizt, ist nicht das verständliche Verlangen, eine vermeintliche Schicksalstragödie zu enträtseln, sondern die Sensation des höfisch-dynastischen Hintergrundes und die prickelnde Genugtuung des schlichten Bürgers, die Problematik allerhöchster Herrschaften psychologisch wie coitologisch in tiefster Devotion untersuchen zu können. Und nach Herrn Borgeses gründlicher Leistung wünscht man, jetzt wäre endlich Schluß damit. Aber vielleicht ist das Heil näher als man ahnt. Denn da Herr Borgese bereits von einem Mythus des Kronprinzen Rudolf spricht, so dürfte der Augenblick bald da sein, wo ein Mayerling der gehobenen Intellektualsphäre um Spengler oder Pannwitz den von seinen Vorgängern so profan gewürzten Stoff zu einem dreibändigen »Rudolfinischen Mythos« sublimiert (Bd. I: Propädeutik zur Morphologie des tragischen Eros). Und damit wäre eine Affäre voll von Groschenromantik und chronique scandaleuse endgültig in den reinen Lichtkreis der Ismen und der gebildeten Langeweile entrückt.

Die Weltbühne, 5. April 1927


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