Carl von Ossietzky
Sämtliche Schriften – Band IV: 1927–1928
Carl von Ossietzky

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Die große republikanische Partei

Sehr verehrter Herr Theodor Wolff –! Seit Sie unter dem Eindruck der demokratischen Wahlniederlage den Gedanken der großen republikanischen Partei zur Erörterung gestellt haben, will mich die Erinnerung an den Winter 1924 nicht verlassen, wo zwei Redakteure der ›Berliner Volkszeitung‹, Karl Vetter und ich, das Palais Mosse verlassen mußten, weil sie sich an der Gründung der kleinen republikanischen Partei beteiligt hatten. Ich will nicht verschweigen, daß Sie damals so gütig waren, sich um eine friedliche Beilegung des Konfliktes zu bemühen, obgleich Sie für unsre Anschauungen und Pläne nicht viel übrig hatten. Von uns wurde damals Eintreten für die Demokratische Partei im bevorstehenden Wahlkampf verlangt; Ihr Vorschlag ging dahin, daß wir wenigstens nichts gegen die Partei unternehmen sollten.

Seltsam, jetzt sind Sie schon lange nicht mehr Mitglied jener Partei, die in Ihrem Redaktionszimmer gegründet worden ist, und daß Sie in Ihrer Umrißzeichnung neuer Möglichkeit[en] die Namen Stresemann und Wirth im Vordergrund plazieren und keinen der Demokratenführer erwähnen, zeigt überdeutlich, wie gründlich bei Ihnen das Kapitel Demopartei zu Ende ist. In Ihrer Konzeption lebt eine Partei mit neuen Führern und auf andre Schichten gestützt. Ich möchte keine Parallele wagen zwischen unserm bald zerschellten Unternehmen und Ihren Plänen. Wir hatten kein großes, machtvolles Gebilde im Auge; jeder von uns fühlte sich als Vorposten, als enfant perdu. Die schweren Parteikolonnen der Linken ließen die Republik in den Händen ihrer Gegner. Es mußte ein Signal aufsteigen, mußte begonnen werden, einerlei, wer schließlich fortsetzte. Trotzdem war damals die Situation günstiger als heute. Noch zitterte die Erregung von 1923 nach, und in den linken Parteien war die Erbitterung gegen die ewig gängelnden und hemmenden Bureaukratien aufs höchste gestiegen. Noch war das Reichsbanner nicht erfunden, um den natürlichen Opponier- und Protestiertrieb der jungen Leute aufzufangen und abzulenken. Heute herrscht überall wieder Ruhe und Ordnung. Aber ob eine große oder kleine Partei gegründet werden soll, die Frage ist doch, an wen sie sich zu wenden hat. Hier sehe ich sehr dunkel. Denn wo, wo sind im deutschen Bürgertum die Massen für eine demokratisch-republikanische Partei, die nicht sozialistisch ist, aber gegen den Sozialismus doch mehr und besseres verteidigt als Tresorinteressen – wo sind sie? Im November 1918 formulierten Sie als Aufgabe der Demokratischen Partei (ich zitiere aus dem Gedächtnis): Nicht mitzuhindern, mitzuhelfen bin ich da! Etwas andres können Sie der neuen Partei auch nicht auf den Weg geben, und wo wäre man im Bürgertum bereit, aus Gründen der sozialen Gerechtigkeit der Arbeiterschaft etwa Positionen einzuräumen, die mehr als nur papierne Bedeutung haben? Die deutsche Bourgeoisie hat den Militarismus knurrend preisgeben müssen, was ihre nationalistische Grundüberzeugung nur mit dickerer Hornschicht überzogen hat. Sie wird, im Laufe der Zeit, auch über den Nationalismus mit sich reden und handeln lassen, aber ihre kapitalistischen Positionen wird sie nur umso stärker befestigen. Mir scheint, daß Sie die Geistesbeschaffenheit unsres Bürgertums zu arglos einschätzen. Mir scheint aber auch, daß Ihr Entschluß, neuen Boden zu schaffen, zu spät kommt. Ich würde es für eine Plumpheit halten, Ihnen wieder und wieder zu versichern, daß ich Sie als bewunderungswürdigen Publizisten verehre, und ich betone es hier nur, weil ich glaube, daß Ihnen die Geister der Sprache williger gehorchen als die der Politik. Ich weiß, daß Sie sich nach langem Schwanken und Schwenken im Endeffekt doch stets nach der richtigen und bessern Seite geschlagen haben. Aber ich kann auch nicht verschweigen, daß Sie oft sehr spät nachgerückt sind, daß ohne Ihren Montagskrieg gegen Poincaré und Benesch die deutsche Öffentlichkeit sich ein paar Jahre eher vor jenen außenpolitischen Tatsachen gebeugt hätte, die heute nur noch in München geleugnet werden, und daß uns viel Leid erspart worden wäre, wenn Sie nicht unbegreiflicherweise Herrn Cuno für einen Staatsmann gehalten hätten. Ihre außenpolitische Intransigenz zwischen Versailles und Locarno mußte irritieren, umso mehr, da wir wußten, daß Sie selbst in den tollsten Zeiten der Kriegszensur nicht einen Augenblick vor dem nationalen Tumult kapituliert haben. Die Demopartei ist aber grade in den Zeiten der außenpolitischen Wirrnisse aufs engste mit dem ›Berliner Tageblatt‹ liiert gewesen. Wir haben da oft schmerzlich auf ein regulierendes Wort gewartet. Es ist nicht gekommen. Und wenn Sie jetzt die Partei verlassen haben – ich bitte um Verzeihung, wenn ich hier Unrichtiges unterstellen sollte – es war das doch kein Bekennerakt, sondern eine taktische Präventivmaßnahme, um das größte deutsche Blatt rechtzeitig von einer fragil werdenden Partei abzulösen. Das Schund- und Schmutzgesetz bot die wirkungsvolle Gelegenheit dazu. Denn was bedeutete es, dies Protektionskind einiger liberaler Philister, betreut von Theodor Bäumer und Gertrud Heuß, rührigen Windelwäscherinnen der deutschen Bildung, – was bedeutete es ernsthaft neben der jahrelangen Mißhandlung der Republik durch Geßler und seine Satelliten? Auch Sie selbst tragen ein Stück Mitschuld, daß sich innerhalb des demokratischen Bürgertums ein linker Flügel nicht entwickeln konnte. Und diesem Bürgertum muten Sie heute ein Programm zu, das es als wahrhaft jakobinisch empfinden muß!

Zu meinem Bedauern sehe ich die Schicht nicht, aus der die neue Partei wachsen soll. Aber mir scheint es auch mit den Führern nicht besser zu stehen. Sie nennen Wirth und Stresemann. Joseph Wirth, gut. Aus der katholischen Partei geschieden, ein mit dem Bannfluch Belegter; ein Kandidat ohne Wähler. Ein Mann der Versammlungserfolge, mit einem Publikum, das andre Parteien wählt. Aber gar Gustav Stresemann als sozial-radikaler Republikaner! Ich bin nicht verbohrt genug, um in ihm nicht den erfolgreichsten deutschen Politiker seit Jahrzehnten zu sehen. Aber deshalb ist er noch immer kein deutscher Caillaux – denn eine solche Erscheinung müßte der Führer doch sein –, sondern ein maßvoll konservativer Ordnungspolitiker, ein Industriepolitiker, der Pazifismus und Demokratismus notgedrungen anwendet, gleichsam mit Gummihandschuhen, um auch nur die kleinste Infektion zu vermeiden. Stresemann ist ebenso wenig pazifistischer Demokrat wie Bismarck Lassalleaner war, weil er von Lassalle das allgemeine Wahlrecht übernommen hat. Wenn aber die neue Partei Sinn haben soll, dann hat sie nicht nur die außenpolitische Konsolidierung der letzten Jahre zu wahren, ihre vornehmste Aufgabe wird innenpolitisch sein, sie wird sich mit der Wehrmacht und mit der Justiz ernsthaft auseinandersetzen müssen, und sie wird sich vor allem dem Faktum eines äußerst verschärften Klassenkampfes gegenübersehen. Um da mehr zu leisten als die beiden jetzigen liberalen Parteien, dazu gehört die Entschlossenheit, nicht vor dem Weg ins Unbekannte zurückzuschrecken. Daran aber fehlt es. Und wie viel daran fehlt, das hat niemand glücklicher formuliert als Herr Erich Koch, der vor ein paar Tagen in einem Artikel zur Rechtfertigung seiner Partei geschrieben hat: »... schließlich kann man doch eine Partei nicht gründen, um Gelegenheit zu haben, aus ihr auszutreten. Lieber als das Nomadenzelt des unsteten Wanderers ist mir schließlich doch noch das Weekendhaus.« Citoyen Koch hat sich hier, an eine Wendung von Ihnen anknüpfend, einen kleinen Scherz erlauben wollen, aber ahnungslos eine schreckliche Wahrheit decouvriert. Das ist nämlich das Elend der Demokraten gewesen, dieser Wochenend-Radikalismus, der am Alltag »der Politik des Möglichen und Erreichbaren« Platz zu machen hatte. Der Charakter als Sonntagshose, der Geist als Patentkocher, auf dem die Mahlzeit für die Weekendgäste hergerichtet wurde. Sonntags gab es Heinrich Mann, werkeltags Külz. In allen wichtigen Dingen entschied man sich für die praktische, das heißt: für die bequemste Lösung. Keinen der Irreführer und Versager hat man hinausgesetzt: die Gothein und Schiffer sind von selbst gegangen, und nicht einmal Geßler ist geflogen, sondern nach einem von ihm arrangierten Krach mit selbstbewußtem Gepolter abmarschiert. Wenn man jetzt sogar liest, daß bei den liberalen Einigungsplänen wieder der Herr Staatsminister a.D. Fischbeck herumfummelt, dann fragt man sich, wie es möglich ist, daß diese unsagbare alte Carcasse von einem Fortschrittsmann, der Sie schon vor zwei Jahrzehnten mit einem glänzend versifizierten Stoß ein paar Rippen verbogen haben, noch immer eine Rolle spielen kann. Hier könnte man über publizistische Wirksamkeit zu sehr trüben Schlüssen gelangen: einem Verderber und Schädling des alten Liberalismus sind eben nur ein paar Rippen verbogen worden, die schärfste Abschüttelung durch das führende liberale Blatt hat den Mann für seine Partei nicht erledigen können. Zwanzig Jahre später wirkt er, noch etwas mehr verbeult, aber sonst noch leidlich frisch, im alten Sinne an gleicher Stelle. Daß Sie die Personenfrage nicht richtig einschätzen, bezeugt mir Ihre kurze, etwas wegwerfend spöttelnde Bemerkung über Hellmut von Gerlach. Sehen Sie, hier ist ein Mann, der seit Jahrhundertbeginn im Geiste dessen wirkt, was Sie jetzt wollen, und der immer wieder gelästert und gehemmt wurde, nicht nur von den Fischbecks, sondern auch von Ihnen und Ihrer Zeitung, weil er immer ein paar Jahre voraus war. Wenn er seine polemische Begabung heute vornehmlich zu spitzen Glossen gegen die ›Deutsche Jägerzeitung‹ verwendet und als große Lösung Vereinigung von Demopartei und Stresepartei propagiert, so ist das nicht, wie Sie zu glauben scheinen, Schlappmacherei, sondern das Ergebnis bitterer Erfahrungen, nach vielen Fehlschlägen eine mimosenhafte Scheu vor allem, was experimentell aussieht und ins Vage zu führen scheint. Der Spott war umso weniger gut angebracht, als Hellmut von Gerlach zu den nicht sehr zahlreichen Demokraten zählte, die im Kriege in bewußter Opposition gestanden haben und deshalb nachher auch promptest aus der Partei hinausbugsiert wurden, wobei sich gewisse Herren besonders hervortaten, die sich mit dem neuen weimarer Mundwasser noch nicht einmal richtig die Kaiserhochs ausgegurgelt hatten, die ihnen noch im Halse klebten.

Damit kommen wir zu einem leidigen, jedoch unvermeidlichen Punkt. Es ist das ärgste Übel des deutschen Republikanismus, daß man diejenigen, die mindestens in den letzten Jahren des alten Regimes schon Republikaner gewesen sind, kaum mit der Diogeneslaterne finden kann. Begibt man sich auf die Suche, gerät man nicht etwa auf eine unterirdische revoluzzernde Geheimliteratur, sondern auf höchst legitime Kaisergeburtstagsreden und ähnlichen Festtagsschmaus. Schweigen wir von Herrn Külz, auch Citoyen Koch hat einiges geleistet, und von Herrn Minister Becker, dessen Verdienste ich gar nicht verkleinert wissen möchte, ist jetzt eine Schrift zum Preise Wilhelms ans Licht gekommen, die ihn gewiß bereuen läßt, sie nicht in einer der ihm geläufigen vorderasiatischen Mundarten abgefaßt zu haben, um etwaiger Popularität vorzubeugen. Nun kann sich gewiß aus einem Royalisten ein Anhänger des Freistaates entwickeln, aber wer einmal Byzantiner gewesen ist, wird niemals ein guter Republikaner werden, weil ihm das Hudeln und Wedeln zur Natur geworden ist und sich tief im Unterbewußtsein festgesetzt hat.

Wenn ich resumieren soll: ich wünsche Ihnen guten Erfolg, aber daran zu glauben vermag ich nicht. Ich bin leider überzeugt, daß für den republikanischen Demokraten, wie Sie ihn proklamieren, das den Festgesessenen so suspekte Nomadenzelt die einzige Behausung sein wird, jetzt und in Zukunft. Das ist ohne Spott gesagt; ich würde ja die eigne Vergangenheit schlagen, wollte ich über Ihren jetzt von allen Opportunismen endlich freigewordenen Willen scherzen. Mag Herr Erich Koch in seinem Wochenendhaus das Heckerlied singen – grade in den Kämpfen dieser Epoche, wo die Parteien so schön satt und kugelrund dasitzen, ist ein Stamm von Nomaden notwendig, von Unseßhaften und Beweglichen – Eilboten der Idee. Sie sind friedlos und nirgends gern gesehen, sie streifen suchend durch die Nacht. Der Schein ihrer Feuer zeigt an, daß nicht alles schläft.

Die Weltbühne, 19. Juni 1928


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