Carl von Ossietzky
Sämtliche Schriften – Band IV: 1927–1928
Carl von Ossietzky

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Die Kriegspartei

Das Standgericht in Warschau hat den Mörder des Gesandten Woykow, den jungen Boris Kowerda, zu fünfzehn Jahren Zuchthaus verurteilt. Die Russen finden die Strafe nicht hoch genug, und einige ihrer deutschen Freunde fordern gleich den Kopf des Attentäters. Warum plötzlich so rigoros? Und mit welcher Legitimation will man künftig die Amnestierung der von der Reaktion eingekerkerten Kameraden fordern, wenn man selbst nach Bluturteilen schreit? Gegen das warschauer Standgericht wird wahrscheinlich mit Recht der Vorwurf erhoben werden können, daß es den Hintergründen des Attentats nicht genügend nachgegangen ist, sondern sich mit der Versicherung Kowerdas zufrieden gab, er habe aus eignem Entschluß und ohne Beeinflussung von irgendeiner Seite gehandelt und sei auch nicht Teilnehmer irgendeiner Konspiration. Doch wir wissen aus eigner Erfahrung, daß Gerichte in aufgeregten Zeiten und in Fragen nationalen Prestiges lieber auf das Gejohle der Straßen hören als auf die Gebote der Vernunft. Daß Kowerda trotz der antirussischen Stimmung im Lande überhaupt verurteilt werden konnte, zeugt von dem starken Willen der polnischen Regierung. So traurig die Folgen der Tat eines überreizten jungen Menschen auch sein mögen – europäische Kriegsgefahr, Erschießung von zwanzig Geiseln in Moskau –, so darf doch nicht vergessen werden, daß die Grausamkeiten der Bolschewiki-Revolution und die schreckliche Konsequenz der Tscheka in den Bürgerkriegsjahren durchaus geeignet waren, Exaltados zu züchten, die sich für das, was ihnen und ihren Freunden widerfahren, durch einen Demonstrationsakt von ohnmächtiger Verrücktheit rächen wollen. Auch Mussolinis Reich ist von Beleidigten und Rachedurstenden umstellt. Ein trauriger Erfolg der Diktaturen: in aller Welt lauern heute solche Kowerdas, von deren zufälliger Nervenverfassung die Entscheidung über Krieg und Frieden in Europa abhängen kann.

Der jetzt nach Rußland zurückgekehrte Tschitscherin wird mit den Kollegen ein ernstes Wort zu reden haben. Er ist der Gegner einer Gewaltpolitik, die mehr hysterisch scheint als kraftvoll, und er ist auch ein Gegner jener überscharfen Tonart, wie sie in letzter Zeit von einigen seiner Freunde angewendet wurde. Denn es gibt unter den in Moskau Regierenden eine Gruppe, die nichts weniger als eine Entscheidung mit der Waffe zum Ziele hat und sich in diesem Wunsche unglücklicherweise mit einer gewissen Gruppe im englischen Kabinett begegnet. Tschitscherin hat in diesen krisenreichen Wochen Europa aufs intimste belauscht, und das beharrliche Schweigen des sonst so interviewfreudigen Mannes läßt seine Sorgen um die Zukunft und sein Entsetzen über das, was in Moskau geschehen, erraten.

 

Es gibt heute – abgesehen von Italien, das eine ganz exceptionelle Stellung einnimmt – kein Land in Europa, wo eine Partei regiert, die bewußt auf kriegerische Auseinandersetzung in nächster Zeit hinarbeitet. In England und Frankreich, in Deutschland und Rußland amtieren Außenminister, die Freunde friedlicher Lösungen sind und es bewiesen haben. Aber keiner kommt zur rechten Entfaltung, denn jeder muß die Macht mit entgegenstrebenden Köpfen teilen. Briand hat seinen Marin auf den Fersen, Chamberlain seinen Churchill, Stresemann seinen Hergt, Tschitscherin seinen Woroschilow. Nirgends stehen sich Pazifisten und Bellizisten sauber geschieden als Gegner gegenüber, wie eigentlich der Normalzustand sein müßte, sie sitzen vielmehr an einem Regierungstisch. Viele Leute verzeichnen das mit Genugtuung, aber man kann die Dinge auch anders sehen. Tatsächlich herrschen in den meisten europäischen Ländern heute ganz ungeklärte Mehrheitsverhältnisse; man hat sich einstweilen fast überall auf ein Juste milieu geeinigt – auch das Stalin-Regime in Rußland ist eines – die Konturen sind verwaschen, Müdigkeit an prinzipiellen Auseinandersetzungen überwiegt und aus einer notgedrungenen treuga Dei entwickelt sich eine Unklarheit, die den Vertretern des Nationalismus günstiger ist als den Freunden des Friedens. Diese aus Extremen zusammengesetzten Regierungen gleichen paritätisch verwalteten Janustempeln, nur daß es den Aufsehern der kriegerischen Seite des doppelgesichtigen Gottes dank einer größern Fingerfertigkeit stets gelingt, diesen im entscheidenden Augenblick rotieren zu lassen und grade dann, wenn die Welt die sonnig lächelnde Partie erwartet.

Es gibt eine große internationale Kriegspartei, deren nationale Sektionen sich in der Form von Beschimpfungen, Hetzcampagnen und Konstruktion von Zwischenfällen gegenseitig unterstützen. Durch diese Art von internationaler Kooperation sind die Hoffnungen zertrampelt worden, die sich an das Zusammentreten der Abrüstungskonferenz geknüpft haben. Diese Verschwörung der alten Mächte hat das junge Vertrauen aus den Tagen von Locarno und Thoiry schnell verdorren lassen. Sie arbeiten sich gut in die Hände, sie, die sich hassen. Wenn nur die Andern so konsequent, so zielbewußt und rücksichtslos wären!

 

Das erklärt auch das traurige Versanden der eben beendeten genfer Ratstagung. Die Herren Delegierten kamen mit begrenzten Vollmachten; keiner wagte zu handeln oder bindende Versprechen zu geben; keiner in dieser Zeit ärgster Krisen den Apparat des Völkerbundes in Bewegung zu setzen, aus Furcht, sofort von seinem Kabinett desavouiert zu werden. Private Gespräche traten an die Stelle der vorgesehenen Tagesordnung, und als die Situation zu knifflich wurde, erinnerte sich Herr Briand der Beschwerden seiner vorgerückten Jahre und reiste ab.

Dennoch weiß Herr Stresemanns Presse deutsche Erfolge zu berichten: in kurzer Zeit, wenn die Kontrolle der geschleiften Ostfestungen beendet ist, soll auch die ersehnte Verminderung der Okkupationstruppen eintreten ... Warten wir ab. Dagegen ist Deutschland jetzt in die Mandatskommission aufgenommen worden. Ein kleines Geschenk an die liebe Eitelkeit. Und wenn es England beliebt, wird sich deutsche Tüchtigkeit in absehbarer Zeit in irgend einem Malariadistrikt zwischen rebellierenden Schwarzen erproben können.

Aber auch Herrn Chamberlain ist es nicht gelungen, die von England geplante europäische Allianz gegen Moskau fertig zu bringen, und in grauer Verlegenheit endete die Séance.

 

Noch kurz vor der Abreise hatte Stresemann mit Chamberlain eine zweistündige Unterhaltung, die streng geheim gehalten wurde und deshalb Anlaß zu zahlreichen Gerüchten gegeben hat. Chamberlain, dem die Offensivpläne der Diehards gegen Rußland wenig Vergnügen bereiten, soll gewisse Wünsche geäußert haben. Übrigens, so wird gemunkelt, soll auch Herr Tschitscherin am Vorabend der Ratstagung in einer ähnlich mysteriösen Unterhaltung mit unserm Außenminister Wünsche zum Ausdruck gebracht haben, die sich in ziemlich gleicher Richtung bewegten wie die Chamberlains – kurzum: die Stresemannblätter sehen den Himmel wieder voller Geigen. Ein neuer Berliner Kongreß schwebt im Hintergrund; wir werden wieder ehrlicher Makler sein und europäischer Schlichter, wie Bismarck auf der Höhe der Macht.

Lassen wir ganz die Frage beiseite, ob solche Aufgabe nicht doch Stresemanns Kräfte überspannt: hier ist für die deutsche Sektion der internationalen Kriegspartei, repräsentiert durch die deutschnationalen Bundesbrüder Stresemanns, eine Grenze erreicht. Man ist doch schließlich nicht in die Regierung gegangen, um etwas für den europäischen Frieden zu tun. Man ist zwar unter schwersten Bedenken in den Völkerbund gestiegen und nur unter der festen Voraussetzung, daß das nicht eben viel zu bedeuten habe. Man spekulierte auf Erlaubnis zur Aufrüstung, auf mehr Kanonen und Schiffe; auf Kolonien. Und jetzt soll man sich etwa bemühen, den Streit zwischen England und Rußland mit seinem für die Rechte höchst erwünschten Halbdunkel zu beenden? Das hieße vorzeitig die Partie verderben.

 

Die Deutschnationalen sind aufs äußerste beunruhigt. Sie fühlen immer mehr, daß Europa kein chimärischer Begriff ist, daß eine übernationale Solidarität im Entstehen ist, deren Bindungen sich heute schon bemerkbar machen. Die Deutschnationalen werden entweder sich selbst aufgeben oder ausbrechen müssen, denn der heutige Zustand, zugleich als Regierungspartei und als außenpolitische Opposition, als »nationale Opposition«, fungieren zu müssen, erfordert eine Diplomatengabe, die ihrer jetzigen Führergarnitur nicht zur Verfügung steht.

Das Wutgeheul, das den aus Genf zurückgekommenen Außenminister begrüßt, kennzeichnet die außerordentliche Verwirrung der Rechten. Was jetzt geschehen wird? Herr Stresemann wird, wie immer, die Linke anschirren, seine Außenpolitik zu retten, und wird, um die Rechte zu besänftigen, ihr neue innenpolitische Kompensationen gewähren müssen. Was wird dies Mal der Kaufpreis für die Erlaubnis zur Fortführung der Außenpolitik sein?

 

Zu dem noch immer nicht erledigten Verfahren Dietz-Goldmann veröffentlichten die ›Zeit-Notizen‹ am 14. Juni das folgende bemerkenswerte Dokument (ein Schreiben des Oberstaatsanwalts in Elberfeld auf eine Beschwerde des Doktor Goldmann gegen den Untersuchungsrichter Hofius):

Der Oberstaatsanwalt 4 J 257/27.                        Elberfeld, den 2. Juni 1927.

Auf die Anzeige vom 19.4.1927 gegen den Landgerichtsrat Hofius. Das Verfahren habe ich eingestellt.

Nach Ihrer Darstellung soll der Beschuldigte auf Ihren Hinweis, Deutschland habe alle Geschütze abgeliefert, und die Erfüllung des Friedensvertrages sei durch die Reichskanzler Wirth und Marx bestätigt worden, geantwortet haben: ›Das ist ja Unsinn; das war nur, um den Gegnern Sand in die Augen zu streuen, 10–12mal betrügen wir täglich die Gegner‹.

Ob der Beschuldigte eine Äußerung in dieser Form gemacht hat, kann dahingestellt bleiben. Wenn Sie aus einer derartigen Äußerung entnehmen, der Beschuldigte habe die genannten Reichskanzler der Lüge bezichtigt, so findet eine solche Auffassung in dem von Ihnen behaupteten Wortlaut keine Stütze.

Daß der Beschuldigte nicht daran gedacht haben kann, die Reichskanzler Marx und Wirth zu beleidigen, ergibt sich daraus, daß er offenbar der Ansicht war, es sei im vaterländischen Interesse, ›den Gegnern Sand in die Augen zu streuen‹, und daß die Äußerung, soweit sie überhaupt auf die Reichskanzler Bezug haben kann, gerade eine Anerkennung ihrer Handlungsweise bedeuten würde. Auch der Zeuge v. Eberhardt hat nicht das Empfinden gehabt, als hätte der Beschuldigte den jetzigen und den früheren Reichskanzler herabsetzen wollen.

Ein Vergehen gegen § 8 Ziff. 1 des Gesetzes zum Schutze der Republik kommt schon um deswillen nicht in Frage, weil es sich nicht um Äußerungen handelt, die öffentlich oder in einer Versammlung getan sind.

gez. Hepke.«

Den Gegnern »Sand in die Augen zu streuen« gilt als eine höchst anerkennenswerte Handlung, ja, als höchstes Ziel der Außenpolitik überhaupt. Wir leben jetzt mindestens seit 1924 im Zeichen der Verständigungspolitik, aber was man sich im Lande darunter vorstellt, zeigt ein Dokument wie dies. Der Nationalismus ist gegen früher maßvoller geworden, vielleicht auch besonnener, wenigstens exponiert er sich weniger. Aber der neue Kurs wird nicht geistig verarbeitet, sondern nur eben toleriert und nur unter der Voraussetzung, daß er nur zur Maskierung der eigentlichen Absichten dient. Herr Stresemann hat oft pazifistisch gehandelt, aber wenn er zu seinem Volke redete, es immer geleugnet, um seiner Partei ihre nationalistische Anhängerschaft zu erhalten. Es wird schwer, an die Dauer dieses amtlichen Pazifismus zu glauben. Man kann den Krieg heimlich vorbereiten, aber nicht den Frieden. Der Pazifismus kann nicht, wie Herr Stresemann möchte, durch eine Art von Krümpersystem durchgeschmuggelt werden.

Die Weltbühne. 21. Juni 1927


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