Carl von Ossietzky
Sämtliche Schriften – Band IV: 1927–1928
Carl von Ossietzky

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Wiener Bastillensturm

Die Welt, einmal aufgewühlt, will nicht mehr zur Ruhe kommen. Ein Justizskandal, der bei uns nur eben Anlaß zu einem zweitägigen Zeitungsorkan gegeben hätte, hat jetzt in Österreich zu einer kleinen Julirevolution geführt.

Wer allerdings mit den österreichischen Verhältnissen vertraut ist, weiß, daß der eine Funke nicht die verheerende Wirkung gehabt hätte, wenn nicht so entsetzlich viel Explosivstoff aufgehäuft gewesen wäre. Es ging dort unten schon lange hart auf hart. Vor ganz kurzer Zeit erst hat Otto Bauer in einem Zeitungsartikel dargelegt, daß nach seiner Auffassung die Anschlußfrage nur durch eine neue revolutionäre Bewegung in Europa gelöst werden könnte. In Deutschland hielt man das entweder für die Theoretisiererei eines orthodoxen Marxisten oder für einen taktischen Versuch, die österreichischen Sozialisten, die sich für eine Vereinigung mit Deutschland sehr ins Zeug gelegt hatten, wenigstens für die Dauer der gegenwärtigen berliner Rechtsregierung vorübergehend zu desengagieren. Die Ereignisse der letzten Tage bewiesen die Irrigkeit dieser Meinung. Denn Otto Bauer hat jetzt wieder gezeigt, daß er kein trockener Schreibtisch-Dogmatiker ist, sondern eine vitale Energie, ein Politiker von Witterung für die Stimmung und die seelischen Unterströmungen der Massen. Er wußte, wie furchtbar die Erbitterung der Arbeiterschaft unter dem neuen Kabinett Seipel gewachsen war. Und rückblickend müssen auch wir Außenstehenden jetzt erkennen, daß der letzte Wahlkampf im Frühjahr schon Formen angenommen hatte, die an Bürgerkrieg grenzen, und daß der Kampf um Breitner, Wiens Finanzminister, schon einen Zustand geschaffen hatte, der eigentlich nur zwei Möglichkeiten offen ließ: entweder Revolution von unten oder Staatsstreich von oben. Denn in diesem unseligen Staatswesen, diesem Stiefkind Europas, sind zwei Mächte, die sich in Todfeindschaft gegenüberstehen, zum Zusammenleben verurteilt: die Stadt Wien, die Industriestadt, und die agrarischen und klerikalen Bundesländer. Seit Kriegsende ein zähes, fanatisches Ringen. Das Land möchte seine Stadt wie einen Fremdkörper ausstoßen, und die Stadt wieder, die große und doch so enge Stadt, möchte das Land erfassen und es ihrem Geiste Untertan machen. Denn die Stadt ist Gegenwart, bei aller Wirtschaftsmisere und allen überstandenen Hungerkrisen, doch ein Teil unsrer passionierten Gegenwart, die vom Heute zum Morgen durchdringen will, grandioser Versuch einer Synthese von europäischer Demokratie und russischer Arbeiterdiktatur; aber ringsum das Land, dies herrlich gesegnete Land, lebt im Zeichen des Posthorns beschaulich dahin, in halb bezaubernder, halb aufreizender Mittelalterlichkeit. Und in der Stadt selbst vegetiert ein einstmals herrschendes Bürgertum, das den Walzertakt seiner heitern, leichten Vergangenheit nicht vergessen kann und mit der ganzen Verständnislosigkeit eines unvermittelt auf halbe Ration gesetzten Phäakenvölkchens zusehen muß, wie ein sozialistischer Säckelmeister seine nicht grade glänzenden Profite wegsteuert, seine Luxusbedürfnisse mit Reugeldern umflort und von dem Ertrag Wohnhäuser baut, Bibliotheken, sanitäre Anstalten für die Industriemenschen, für die Arbeiterschaft.

Das ist Österreich von Heute: ein Staat an sich und in sich nicht lebensfähig. Kein Wunder, daß hier jede Idee prosperiert, die irgend einen Anschluß, irgend eine Vereinigung mit Irgendeinem verkündet. Den Bürgern dieses Staates ist er zur Last, sie möchten ihn am liebsten liquidieren, um in einer größern Gemeinschaft unterzutauchen. Und deshalb suchen sie alle: die Sozialisten bald die Internationale, bald die größere deutsche Partei, die Bürger abwechselnd Deutschland, Italien oder Ungarn. Wie sollen Die zusammenleben? Es ist kein Staat, sondern ein Interniertenlager. Und jetzt morden sie sich. Morgen wird der Blutrausch vorüber sein. Morgen werden sie gemeinsam ihre Toten begraben.

 

Natürlich wußten die ersten wiener Meldungen sofort von »kommunistischer Mache« zu erzählen. Der österreichische Kommunismus ist so schwach, daß er es bei den letzten Wahlen nicht auf ein Mandat bringen konnte. Ein paar Agitatoren sollten Hunderttausende an sich reißen? Gewiß waren Provokateure dabei. Die fehlen bei solchen Gelegenheiten nie. Aber ausschließlich Kommunisten? Man geht wohl nicht fehl, auch die aktive Teilnahme von schwarz-gelben Agenten anzunehmen, auch mögen Spitzel und Hetzer Horthys und Mussolinis dabei gewesen sein. Denn letzterer wartet schon lange auf den Anlaß, übern Brenner zu gehen, um Jugoslavien in den Rücken zu kommen, und Horthy hat sich der österreichischen Bourgeoisie schon oft als Retter empfohlen. In Wahrheit hatte der Aufruhr viel einfachere Ursache. Der Freispruch im Schattendorfer Prozeß hatte die Arbeiterschaft empört, ganz spontan bildete sich in den Morgenstunden ein Zug zum Justizpalast. Eine Demonstration wie viele. Aber aus der Demonstration wurde ein Putsch, nicht ein Arbeiterputsch, sondern einer des Polizeipräsidenten Schober, der, entgegen den strikten Weisungen seines Vorgesetzten, des Bürgermeisters und Landeshauptmanns Seitz, die Polizei scharf schießen ließ. Der Herr Polizeipräsident, großdeutsch, das heißt: reaktionär und antisemitisch von spezieller wiener Crescenz, war über die Gelegenheit entzückt, endlich, endlich turbulierende Arbeiter vor die Gewehrläufe zu bekommen. Jetzt war die heiß ersehnte Chance da, jetzt konnte endlich »Ordnung« geschaffen und jener, ach, so wohlbekannte Plan exekutiert werden, der als harmlose Polizeiaktion beginnen läßt, was als wohlgeratene Gegenrevolution aufhört. Jetzt konnte, heidi!, auf der Flucht erschossen werden, jetzt konnte wohl auch eine verirrte Kugel den verhaßten Finanzminister treffen, den selben Breitner, der an der Spitze eines Löschzuges sich verzweifelt bemühte, den Justizpalast zu retten; gewiß nicht aus Freude an der dort applizierten Gerechtigkeit, sondern aus rein ökonomischen Gründen. Man ist nun einmal Sparkommissar ...

Diese glatte Rechnung des Herrn Polizeipräsidenten und seiner Drahtzieher machte die sozialistische Partei zu schänden, indem sie an die Spitze der Bewegung trat, nicht um sie abzuwürgen, sondern um sie besser zu formieren und weiterzutreiben. Offene Erklärung der Partei: wir haben die Bewegung nicht verursacht und billigen ihre Exzesse nicht. Das erklärt die Partei offen. Aber zugleich tut sie das, was jede richtige Volkspartei tun müßte: sie bibbert nicht vor der »Straße«, zetert nicht über Eingriff in verletzte Führerprivilegien, sie widersetzt sich nicht der Stimmung der Massen, sondern sanktioniert, was in heißer Wallung des Augenblicks entstand. Sie hat den Zusammenhang mit dem Proletariat nicht verloren. Sie tut das genaue Gegenteil der deutschen Schwester, die, wenns losgeht, immer auf die andre Seite der Barrikade flüchtet und die Müller und Watter schalten und schießen läßt. Man denke sich unsre sozialdemokratische Führerschaft in solcher Lage! Schon jetzt wandeln die Obergenossen aus der Linden-Straße mit Grundeis durch den schönen Hochsommer und warnend hebt der ›Vorwärts‹ den oft geschwungenen Pädagogenfinger: »... leichten Herzens und ohne genügenden Grund beschließen erprobte alte Gewerkschaftsführer, die in Wien ebenso in der Leitung sitzen wie in Berlin, den Generalstreik nicht! Freilich sollten grade die Genossen am Klappenschrank bedenken, daß die Unterbindung des Auslandsverkehrs grade auch der Arbeitersache sehr nachteilig sein kann!« O, du herziges Blauveiglein-Gemüt! Wie da Mißbilligung zwischen den sanften Worten knurrt. Nein, ›Vorwärts › würde es den Genossen zur Pflicht machen, mit verdoppelter Treue am Klappenschrank auszuharren, und wenn der ganze Schnee verbrennt! Und ›Vorwärts‹ vergißt, daß die österreichischen Gewerkschaftler zwar alt sind und erprobt, daß sie aber trotzdem die Tuchfühlung mit Demokratie und Sozialismus nicht verloren haben, und daß die Partei Viktor Adlers in überragender Weisheit grade diejenigen Genossen, die sie für ihre eigne Front d.u. befunden, den berliner Genossen zur besondern Verwendung dediziert hat, nämlich: Hilferding und Stampfer.

 

Die österreichischen Sozialisten wußten sofort, was zu tun. Arbeiterblut war geflossen. Konnte da die Parteinahme strittig sein? Sie traten an die Spitze der Bewegung und gaben dem jähen Ausbruch durch Proklamation des Generalstreiks politische Gestalt. Damit haben sie namenloses Unheil abgewendet. Denn hallt der Schreckensruf ›Bolschewismus in Wien!‹ rund um die Welt, dann wird für die lauernden Marodeure in Budapest und Rom der ersehnte Vorwand da sein, und die reaktionären Elemente in den Provinzen werden vielleicht selbst um Intervention bitten. Diese Gefahr vor der Hand abgebogen zu haben, ist das Verdienst der österreichischen Sozialistenführer. Ein europäisches Verdienst. Denn jede ungarisch-italienische Einmischung birgt die Eventualität neuer europäischer Komplikationen.

 

Für die deutschen Republikaner aber sollten die wiener Geschehnisse ein brennendes Erlebnis sein. Freund Zeitungsleser, der sich vorwiegend an das Dickgedruckte hält, hat wahrscheinlich die paar magern Kompreßzeilen übersehen, aus denen sich ergibt, daß die Regierung Seipel zögerte, die wiener Garnison einzusetzen, weil sie deren Zuverlässigkeit bezweifelte. Heeresminister ist drüben Herr Vaugoin, ein Geßler ohne schwarze Hintergründe, doch ein ebenso verstockter Reaktionär, und in dem forschen Zugriff, unbequemen Tatsachen das Gesicht nach hinten zu drehen, dem deutschen Kollegen nahe verwandt. Aber auch dieser tüchtige Herr hat es nicht vermocht, aus der kleinen Wehrmacht ein ausschließliches Instrument der herrschenden Klassen zu machen. Mögen die Regimenter in Steiermark und Tirol inzwischen auch mit sturen Bauernjungen gefüllt sein, der republikanisch-sozialistische Grundstock der wiener Truppen mindestens ist nicht zu erschüttern gewesen und bewährt sich in dieser verhängnisvollen Stunde.

Und schließlich der Anlaß des ganzen Aufruhrs? Ein Justizskandal, ein Freispruch von Arbeitermördern, ein Verdikt wie aus reichsdeutscher Richtergesinnung. Die Wiener schlucken nicht halb so viel wie wir. Dies eine Urteil wird ihnen zur öffentlichen Sache, die jeden angeht. So ziehen sie durch die Straße, keine Parteiinstanz kann ihnen wehren, sie zerschlagen den Laden; die Akten, die kurulischen Sessel, die grünen Tücher fliegen ins Feuer, und am Abend ist von der Residenz der Gerechtigkeit nicht mehr da als ein ausgebranntes steinernes Skelett.

Pöbel! schreiben die Zeitungen wegwerfend. Pöbel? Und wäre es so, schlimm genug, daß die Zerlumpten aufstehen müssen, um den Wohlgekleideten erst das Beispiel zu geben. Ein Bastillensturm war, was in Wien geschah, und alle Bastillen der Welt sind bisher nur von der gesichtlosen Masse niedergelegt worden; eine unbekannte kleine Frau Legros ist es, die schürt und spornt, weil sie das Bollwerk der Tyrannei in ihre Träume verfolgt, weil sie der Gedanke nicht schlummern läßt, daß dies Gemäuer ein Verbrechen ist gegen menschliches Gewissen und menschliche Würde.

Dem deutschen Republikaner aber sei gesagt: Du hast dir begeistert die Bier- und Bratenreden der Anschlußbankette angehört. Jetzt ist die einzige und nicht wiederkehrende Gelegenheit da, dem oft apostrophierten Brudervolk deine großdeutsch-republikanische Gesinnung zu beweisen. Vielleicht siegt in Österreich die Partei der Freiheit; vielleicht. Denkbar ist auch das Gegenteil. Denkbar ist auch, daß bald die Standgerichte mit Füsilladen und Galgen arbeiten, und der weiße Schrecken ein neues Stück Erde erobert hat. Jetzt, Republikaner, rede dich nicht aus, daß dich das nichts angeht, daß das Ausland ist etcetera. Mag es auch nur ein kleines, grausam zur Ader gelassenes Land sein, ein um ein paar Längen neben die Weltgeschichte gefallener Staat, was dort verhandelt wird, ist deine Sache, deine Sache, deine Sache.

Die Weltbühne, 19. Juli 1927


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