Carl von Ossietzky
Sämtliche Schriften – Band IV: 1927–1928
Carl von Ossietzky

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Lendemain

Was nun? Der gleichgültigste, der langweiligste und charakterloseste aller Wahlkämpfe hat sein Ende erreicht. Man sage doch nicht, daß der Stumpfsinn dieser Campagne das beglückende Zeichen für die endgültige Wiederkehr normaler Verhältnisse sei. Gewiß, im geregelten Kreislauf friedlicher Jahre erinnert auch am allgemeinen Stimmrecht wenig mehr an seinen revolutionären Ursprung. Wie die im ehelichen Pfühl gezähmte Liebe schließlich nicht mehr verrät, daß sie eigentlich von Zigeunern stammt, so tritt auch die amour sacrée de la patrie in der langen Kette von Wählern, die hübsch ordentlich anstehen, um ihre staatsbürgerliche Pflicht auszuüben, in die Phase von Reglement und Nüchternheit. So gemütlich, fast möchte man sagen: so apathisch ging es bei den Wahlen der wilhelminischen Zeit nicht zu; um die Bülowschen Blockwahlen, um den gewaltigen sozialistischen Aufschwung von 1912 wirbelten Ideen, lockten Hoffnungen. Der deutsche Geist zeigte sich zwar damals auch nicht grade zu Pferde, aber doch hinlänglich aufgekratzt. Ja, man wagte damals sogar Gedanken und Pläne zu entwickeln. Die Kandidaten beantworteten Fragen, stellten sich offen in Diskussionen, anstatt in der Unpersönlichkeit von »Kundgebungen« zu verschwinden, die mit Deklamation eröffnet und mit Musik beschlossen werden. Einzig Georg Bernhards explosives Temperament brachte an der Peripherie Berlins Leben in die allgemeine Uninteressiertheit. Hier kämpfte Einer, während die Andern sich tragen ließen. Lassen wir uns nicht dadurch irreführen, daß es an vielen Orten blutige Köpfe und sogar ein paar Tote gegeben hat. Diese traurigen Intermezzi ergeben sich nicht aus einer gradezu in der Luft liegenden Offensivlust, sondern weil sich alle Parteien eben ihre uniformierten Leibgarden halten. Diese Janitscharen, die sehr verschiedene Farben tragen und sich viel ähnlicher sehen als sie wahrhaben wollen, lieferten untereinander ihren kleinen Krieg. Doch der Bürger schaute milde und verständnislos zu. Schade um die jungen Leute, die ihren eifernden Idealismus irgendwo ausleben wollen. Man sehe sich so eine Liste von Gewählten an! Sind die Herren alle zusammen auch nur ein zertrümmertes Nasenbein wert?

Mir liegt eine Kapuzinade gegen die »deutsche Zwietracht« fern. Nicht die Überschärfe, sondern die Verwaschenheit ist das traurige Signum unsres politischen Lebens. Wo gab es in diesen Wochen Zielsetzungen, Grenzzeichen, präzise Formulierungen des Wollens? Hat zum Beispiel auch nur ein sozialdemokratischer Redner klar ausgedrückt, was die Partei im Fall eines großen Mandatszuwachses tun würde? Ein Haus weiter predigte der Demokrat die Große Koalition. Die Sozialdemokratie aber hat nicht widersprochen, sondern sich munter der allgemeinen Stimmung anvertraut, die dies Mal »Gegen rechts« war, wie sie 1914 für Westarp, 1920 für Stinnes war. Keiner der führenden Sozialdemokraten hat gegen das Gerede von der Großen Koalition gesprochen. Kein Wunder, denn die wäre auch im letzten Reichstag zu haben gewesen, wenn nur das Zentrum gewollt hätte. Und nur das Zentrum hat die Mißregierung der Deutschnationalen möglich gemacht.

Früher gab es bei jeder Wahl sehr charakteristische Niederlagen. Durch die Listenwahl sind diejenigen, mit denen ernsthaft zu reden wäre, der Abrechnung entrückt. Der Ärger der Enttäuschten trifft die Komparserie und nicht den Chorführer. Da der Ausgang von vornherein ziemlich feststeht, entbehrt das Endergebnis jeder Sensation. Viel beachtlicher ist heute die Nominierung der Kandidaten durch die Parteizentralen. Wer wird gehalten, wer fallen gelassen? Das ist viel interessanter und wichtiger als der Umstand, ob die großen festgefügten Parteien ein paar Plätze gewinnen oder verlieren. Die Art, wie Herr Doktor Wirth von seiner Partei aus zwei Wahlkreisen herausgedrängt und schließlich als Stipendiat der Zentrale in der Reichsliste untergestellt wurde, ist viel bedeutungsvoller als der endliche Wahleffekt. Denn die Brüskierung eines in allen republikanischen Parteien so angesehenen Mannes wie Wirth zeigt die künftige Politik des Zentrums an und was von dessen angeblicher Linksorientierung zu halten sei. Was die Deutschnationalen angeht, so hat ein von der demokratischen Presse wiedergegebener vertraulicher Brief Graf Westarps die Vorherrschaft Hugenbergs wieder überdeutlich enthüllt. Der Gutsherr von Roebraken ist nicht unerkenntlich, wo es sich um alte Mitverschworene handelt. So wurde der Oberfinanzrat Bang einem Wahlkreise aufgenötigt, dessen bisherige Obmänner protestierend zurücktraten. Zwar zweifelt außerhalb der ›Deutschen Zeitung‹ niemand, daß der Herr Oberfinanzrat ein sächselndes Großmaul von erschütternder Niveaulosigkeit ist; unvergessen die Suada, die er im Jagowprozeß entwickelte. Aber Hugenberg regiert die Partei, und das bedeutet unbedingte Radikalisierung.

Am Montag früh liegen noch wenig Resultate vor. Die Sozialdemokratie hat stark gewonnen, die Rechte gehörig verloren. Auf die republikanischen Parteien wird jetzt eine ungeheure Last fallen. Sie haben viel versprochen und wenig Pläne entwickelt, sie sind nur die selbstverständlichen Profiteure einer Volksstimmung, die, oft irregeführt, jetzt abwechselungshalber nach der andern Seite pendelt. Ihre Aufgabe wird schwer sein, selbst wenn sie stärkere Köpfe und Prinzipien einzusetzen hätten. Denn Opposition von rechts, das ist besonderer Wuchs. Denn deren Mittel sind nicht durchweg parlamentarische. Ganz davon abgesehen, daß auf der Seite der Reaktion die großen Wirtschaftsmächte sind, wenn die Linksregierung die ersten Gehversuche macht, dann werden wieder Geister lebendig werden, die man für ewig ausgetrieben dachte. Die Diktatur wird wieder umgehen, geängstigte Kapitalisten werden den Wehrverbänden wieder Geld zukommen lassen, kurz, es wird alles wiederkehren, was wir schon oft erlebt und für immer begraben wähnten. Schon wird in Hugenbergs Montagsblatt ausgerechnet, daß Sozialdemokraten und Kommunisten möglicherweise Zweidrittelmehrheit erlangen könnten, und Herr Doktor Kriegk schreibt dazu bedenklich, daß ein solches Parlament »im Sinne des politischen Ordnungsstaates kaum aktionsfähig« zu nennen sei. Fern rauscht der Artikel 48 ... Die Mittelparteien allerdings haben eine sehr spekulative Idee, um alle Unzufriedenheiten wirtschaftlicher Art in Zukunft zu erledigen. Es soll deshalb sehr bald eine sogenannte Wirtschafts- oder Ständekammer geschaffen werden, in der Vertreter aller deutschen Wirtschaftsgruppen sitzen werden, Arbeitgeber, Arbeitnehmer, alles. Dadurch entsteht natürlich ein neues Parlament, das auch bei bestimmten Wirtschaftsfragen Mitbestimmungsrecht haben soll. Das mag für Demokraten und Volkspartei, die immer unter der Konkurrenz kleinbürgerlicher Jammerparteien stöhnen, eine Lösung sein. Aber die Sozialdemokratie? Die Sozialdemokratie, die mit der Tatsache des Mitregierens auch nicht den Klassenstaat weghexen kann, wird zum ersten Mal seit lange wieder die Gegensätze im Innern spüren. Die Zeit der Opposition hat sie einschlummern lassen. Die mitregierende und mitverantwortende Sozialdemokratie wird bald die Beute schärfster Auseinandersetzungen werden, die sich aus der wirtschaftlichen Not unsrer Arbeiterschaft ergeben und nicht mit den Sprüchelchen aus dem republikanischen Wahlkatechismus zu beenden sind.

Ich prophezeie nicht gern, und tue es hier nur, um den ganzen Ernst einer Entscheidung deutlich zu machen: geht die Sozialdemokratie in die Große Koalition, wird sie in mindestens zwei Jahren gespalten sein.

Es ist nicht grade populär, Skepsis zu äußern, wenn rundum die Hörner zum Victoriablasen gestimmt werden. Aber morgen schon wird die Ernüchterung der Gewählten da sein, morgen schon wird der Kuhhandel beginnen, der dies Mal nicht weniger Zeit füllen wird als sonst. Übermorgen werden auch die Wähler wieder nüchtern werden. Und dann?

 

Im Reichsmarineamt erscheint Herr Dillenz mit einem ausländischen Rechtsanwalt ...

Vor ein paar Tagen hat sich im Reichsmarineamt, bisher unbekannt und von allen Beteiligten peinlichst vor der Öffentlichkeit verschwiegen, ein Vorfall ereignet, der in seinen Konsequenzen die Möglichkeiten einer europäischen Sensation trägt. Ein früherer Geheimagent des in der ›Weltbühne‹ wiederholt genannten Korvettenkapitäns Canaris ist in Begleitung eines ausländischen Rechtsanwalts bei dem Nachfolger des Kapitäns Lohmann im Reichsmarineamt erschienen und hat diesem Amt eine Rechnung von nicht weniger als 20 Millionen Goldmark präsentiert, die auf Grund von Verträgen gefordert werden, die die »Severa«, die bekannte Gründung Lohmanns, mit der ausländischen, und zwar hauptsächlich mit der schwedischen, aber auch mit der englischen Rüstungsindustrie geschlossen hat. Diese Rechnung ist dem Kapitän zur See Lahs vorgelegt worden, der angeblich von der Existenz dieser Verpflichtung nichts wußte und dem der Besuch so ungelegen kam, daß er die Absicht hatte, die beiden Unterhändler durch die politische Polizei hoppnehmen zu lassen. Die Unterhaltung verlief ergebnislos; der ausländische Rechtsanwalt begab sich wieder zu seinem Auftraggeber und wird nunmehr die Klage gegen das Deutsche Reich auf Anerkennung einer Schuld aus den Lohmannverträgen von, wie gesagt, nicht weniger als zwanzig Millionen Goldmark einleiten. Wie aus zuverlässiger Quelle verlautet, ist dieser Vorgang dem Reichswehrminister Groener verschwiegen worden.

Die Vorgeschichte dieser Affäre ist etwas kompliziert, und man tut am besten, wieder bei Herrn Canaris zu beginnen, der bei dem Skandal um das Reichsmarineamt mit der Gelenkigkeit seiner hellenischen Vorfahren hinter dem geduldigen Rücken des Kameraden Lohmann verschwunden und leider auch nicht genügend gesucht worden ist. Wir haben uns hier wiederholt mit Herrn Canaris befaßt, und zwar mit jener Vorsicht, die durch außenpolitische Rücksichten bedingt war, immerhin haben wir deutlich zu machen versucht, daß sich dieser unternehmungslustige Marineoffizier in Spanien vielfältig engagiert hat. Um das Monopol für den spanischen Luftverkehr bewerben sich zur Zeit zwei Fluggesellschaften, von denen die eine der Deutschen Lufthansa und dem Reichswehrministerium nahesteht. Die andre wurde von der »Severa« gegründet und hat ihren finanziellen Rückhalt am Reichsmarineamt – sie steht in engster Verbindung mit den Junkerswerken. Diese Gesellschaft ist durch Vermittlung des Herrn Canaris geschaffen worden. Solange Herr Lohmann noch das Scheckbuch betreute, flossen ihr die Gelder reichlich zu. Doch nun hat der Segensstrom aufgehört, und die andre Fluggesellschaft hat die besten Chancen, recht bald das spanische Monopol zu erwerben.

Aber Herr Canaris hat nicht nur in Spanien Interessen, sondern auch in Schweden. Das ist sehr anstrengend, denn man kann nicht alles allein machen. Den Kurierdienst zwischen Skandinavien und Hispanien versah ein Herr Dillenz, der Gatte jener wiener Schauspielerin Frau Lilly Dillenz, die sich augenblicklich eifrig bemüht, die Mittel zu einem Transozeanflug zusammenzubringen. Herr Dillenz, ein früherer österreichischer Offizier, gänzlich verarmt und eine etwas abenteuerliche Existenz, fuhr zwischen Spanien und Lintham in Schweden hin und her, allwo sich eine »Actiebolaget for Flygtindustrie« befindet. Diese Gesellschaft ist zwar schwedischen Ursprungs, in Wirklichkeit jedoch eine Junkers-Gesellschaft, und wird von einer Konzern-Firma kontrolliert, der der frühere Junkersdirektor Sachsenberg vorsteht und die den eigenartigen Namen »Vermögensanteil Professor Junkers« führt und ebenfalls in Schweden domiziliert ist. Das ist die Gesellschaft, an die die »Severa« einen großen Teil der obenerwähnten Millionenaufträge gegeben hat. Was in Schweden und England alles für diese Riesensummen bestellt worden ist, entzieht sich in Einzelheiten noch der Kenntnis. Doch man kann sicher sein, daß es sich dabei um Dinge handelt, die weit eher in das eigentliche Ressort des Reichsmarineamts fallen als zum Beispiel die Herstellung von Filmen. In der ›Weltbühne‹ hat vor Monaten einmal das »Märchen von den Canarischen Inseln« gestanden, die seltsame Geschichte von den geheimnisvollen Schiffen des Herrn Canaris in Spanien. Wichtig ist jetzt festzustellen, daß Herr Dillenz auch weiterhin die Verbindung mit vier deutschen Marineoffizieren aufrechterhalten hatte, die in – Teneriffa noch heute sitzen. Dieser Art sind also die Auslandsaufträge der »Severa«.

Als der Lohmann-Skandal die bekannten ansehnlichen Dimensionen annahm, ging der frühere Chef der sogenannten »See-Transport-Abteilung«, der geistige Vater aller dieser Unternehmungen, Herr Canaris, auf Reisen. Zur Zeit ist sein Ziel Südamerika. Brüsk brach er alle kompromittierenden Verbindungen ab, so daß Herr Dillenz plötzlich in der Luft schwebte. Aber die »Severa« sicherte sich sofort diesen Vielwissenden, und da es der sehnlichste Wunsch der Frau Lilly Dillenz ist, einmal etwas über den Ozean zu fliegen und dabei Ehre und hohe Gagen einzukassieren, so schenkte ihm die generöse Firma zunächst ein Flugzeug, das aber inzwischen etwas verbogen wurde und nunmehr untauglich ist. Für die »Severa« war es nun von höchstem Interesse, daß die Auslandsaufträge weiter bezahlt und infolgedessen auch geliefert wurden, da diese Firma im Grunde nichts weiter als eine Art Handelszentrale für solche und ähnliche Geschäfte ist. Um diese Absicht zu erreichen, unternahm sie nun einen wahrhaft phantastischen Coup. Herr Dillenz wurde nämlich ins Vertrauen gezogen und veranlaßt, sich mit dem oben erwähnten englischen Rechtsanwalt zu treffen. Dillenz übernahm die Führung, und so fanden sie sich bei dem Kapitän Lahs ein, der jetzt für die bessern Sachen zuständig ist. Der Engländer war des Deutschen kaum mächtig, desto mehr aber Herr Dillenz, der immer dringender wurde. Um die Herren loszuwerden, verabredete der Kapitän eine neue Unterredung, zu der aber weder Herr Dillenz noch der Advokat erschienen. Dillenz, weil ihm hinterbracht worden war, daß man ihn verhaften wollte, der fremde Rechtsgelehrte, weil er sich von einer gerichtlichen Austragung mehr versprach.

Seitdem irrt der Gatte der scharmanten Ozeanfliegerin enttäuscht umher. Seine Hoffnungen auf eine lohnende Notlandung sind hin ... Die Sanierung war so gedacht: dem englischen Anwalt waren für die Einbringung der Forderungen zehn Prozent Provision versprochen worden, wovon Herr Dillenz den vierten Teil erhalten sollte. Nachdem den beteiligten Firmen der Überrumpelungsversuch mißglückt ist, wollen sie nunmehr die schwere Artillerie des Zivilprozesses einsetzen.

 

... und da hätte eigentlich der neue Reichstag gleich etwas zu tun!

Die Weltbühne, 22. Mai 1928


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