Carl von Ossietzky
Sämtliche Schriften – Band IV: 1927–1928
Carl von Ossietzky

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Wankende Despotien

Preußischer Polizeiskandal

Vor zwei Wochen hat der Herr stellvertretende Polizeipräsident von Berlin in einem fachlich versierten Zeitungsartikel den alten Brauch der Kopfprämien gegen den polizeitechnischen Laien Bernard Shaw verteidigt. Daß die Beamten auch ohne den Anreiz der Prämie ihre Pflicht tun, dürften sie ein paar Tage später bewiesen haben, als Herr Doktor Weiß bei dem Tumult an der Frankfurter Allee selbst unter den Punktroller geriet. Denn es ist doch nicht anzunehmen, daß irgend eine Stelle dafür eine Belohnung ausgesetzt hatte. Die kalmierende Verlautbarung des Herrn Zörgiebel kann nicht verhindern, daß die Wahrheit durchsickert. Herr Zörgiebel deckt in einem Manifest von beschämendem Deutsch die Roheiten seiner Leute. Obgleich sein Vizechef dabei selbst blau geprügelt wurde, bleibt der Herr Polizeipräsident sehr gelassen. Am Unglück unsrer Mitmenschen, bemerkte schon Larochefoucauld, mißfällt uns immer etwas nicht ganz. Herr Zörgiebel ist hauptsächlich besorgt, bei den Beamten nicht das Gefühl aufkommen zu lassen, »es würden ihnen durch einengende Bestimmungen bei diesen Zusammenstößen die Hände gebunden« oder sie fänden in Fällen, »in welchen sich der Gebrauch der Waffe nicht vermeiden läßt«, bei ihm nicht den erforderlichen Schutz. Wie bisher, so will Herr Zörgiebel auch in Zukunft für seine Beamten »voll und ganz« eintreten. Ausgezeichnet. Bei seinem Vize langte es kaum für halb und halb. Von Augenzeugen wird versichert, daß Herr Weiß nicht nur einen milden Ritterschlag abbekam, sondern wie andre Tumultuanten auch zu Boden geschlagen wurde. Er wandte sich an Herrn Oberst Hellriegel, den Lenker dieses Frontabschnitts, der seine Klagen überhörte und stürmisch ausrief: »Jetzt werde ich schießen lassen!« – Darauf Herr Weiß wütend: »Wollen Sie sofort wegfahren!« – »Warum?« – Herr Weiß erregt zum Chauffeur: »Fahren Sie den Herrn Oberstwachtmeister fort!« – So wurde der Straßenkampfstratege vom Schlachtfeld entfernt.

Was waren Herrn Zörgiebels nächste Erwägungen? Er plante, den Minister noch in gleicher Nacht um das Verbot von Rotfront anzugehen. Chef und Unterchef sprachen nicht miteinander. Am Sonntag abend fuhr Herr Weiß nach Köln, um dem Minister Grzesinski zu berichten. Ob er die Absetzung seines Vorgesetzten verlangt hat, kann nicht bewiesen werden. Doch sagt man so. Die Position des Herrn Weiß ist recht unangenehm. Da die Attacke gegen die Kommunisten ging, finden die sozialdemokratischen ebenso wie die meisten bürgerlichen Blätter den Vorfall nicht zur Weiterbehandlung geeignet. Da man den Kommunisten keinen Triumph gönnt, wird nach Möglichkeit gedämpft und vertuscht. Kommt noch hinzu, daß Herrn Zörgiebels Machtstellung stärker geworden ist. Bis vor kurzem hat man sich im Präsidium seinetwegen kein Bein ausgerissen. Der sozialdemokratische Wahlsieg hat ihn über Nacht zur gewichtigen Person gemacht, zum Exponenten der größten Partei an hervorragendem Platz. Herr Weiß ist Demokrat, gehört also zu einer zurzeit sehr kleinlauten Partei. Wenn die Sozialdemokraten schon mal imponieren wollen, tun sies gewöhnlich an falschem Ort.

Der Minister täte richtig, die preußische Polizeipolitik wieder einer gehörigen Revision zu unterziehen. Wie ist es möglich, daß jener Polizeioffizier, der sich während der letzten Kurfürstendammkrawalle neutral erklärte, als Lehrer an die Polizeischule versetzt wird? Und, ist etwas Wahres daran, daß Herr Tenholt, der unvergeßliche Sherlock Holmes von Magdeburg, als erster Kommissar in eine große westfälische Stadt versetzt worden ist? Im berliner Polizeipräsidium herrscht Desorganisation und tiefe Unzufriedenheit. Beamte, die in den vergangenen stürmischen Jahren oft für die Republik gehandelt, man darf ohne Übertreibung sagen, sie mehr als ein Mal gerettet haben, fühlen sich zurückgesetzt und über die Achsel angesehen. Es wird auch geklagt, daß Herrn Zörgiebels Energie sich ausschließlich in rustikalen Umgangsformen erschöpft, die auf seine Untergebenen verletzend wirken. Herrn von Jagow nahm man ein bißchen Schnauzerei nicht übel. Er war in seinem Rayon ein tüchtiger und humorvoller Kerl. Wer ist Herr Zörgiebel?

Man muß den in hohen Staatsstellungen befindlichen Sozialdemokraten immer wieder bedeuten, daß die Ausrottung der Kommunisten nicht ihre einzige Aufgabe ist. Daß die Kommunisten sich in die gleichen Nebelschwaden von Gehässigkeit verbiestert haben, ist keine Entschuldigung. Dafür bekleiden sie auch keine wichtigen Staatsämter. Die Oberleitung der berliner Polizei hat ihren Leuten den Rotkoller eingeimpft, und dies System hat jetzt zu einer Blamage geführt, die evident ist, auch wenn Herr Zörgiebel die Beamten »voll und ganz« deckt und den Vorgang »menschlich durchaus verständlich« findet. Was für eine Katastrophe muß eigentlich eintreten, um Herrn Zörgiebel endlich ad absurdum zu führen?

Tschangtsolin

Noch am 3. Juni meldete eine Telegraphenagentur: »Der Marschall hat Peking heute morgen ... mit einem Spezialzug verlassen ... Er winkte seinen Truppen mit lächelnder Miene zu, als er seinen Salonwagen bestieg.« Das liest sich so urgemütlich, daß man eher an einen andern Marschall denkt. Am nächsten Tag stieß der Spezialzug im nahen Umkreis des siebenfach gepanzerten Mukden auf eine Höllenmaschine, und seitdem weiß man nichts mehr von Tschangtsolin. Verwundet oder tot? Während die Generale um Peking Wettlaufen, ist der Hauptspieler der letzten zehn Jahre plötzlich ins Dunkel gestürzt.

Er ist für Jung-China das Plakatscheusal. Das konterrevolutionäre Prinzip. Der Trabant Japans und Schildhalter des fremden Imperialismus – Inbegriff alles Hassenswerten. Der Verräter, Bandit und Blutsäufer. Nun, auch die Andern sind keine Engel. Die Provinzgouverneure, die sich Generale nennen und nur Geschäftsleute in Menschenfleisch sind. Oder Feng, das Reklamestück amerikanischer Missionstätigkeit, der skrupellos von einer Partei zur andern wechselt. Oder die politisierenden Generale des Südens mit den Allüren europäischer Generalstabsoffiziere, die nicht, wie der mandschurische Barbar durch Henkershände erwürgen lassen, sondern die demokratische Methode der Standgerichte vorziehen. Übrigens gab es selbst zwischen Sunyatsen und Tschangtsolin ein Mal Berührung, fast Bündnis. Das war Ende 1924, als Feng mit seinem bekannten Handstreich Wupeifu und den korrupten Reichsverweser Tsaokun davongejagt hatte. Damals kam der sterbenskranke Doktor Sun zu Verhandlungen nach Peking, und sein Tod nur verhinderte den Abschluß.

Vor vierzig Jahren war Tschangtsolin nur ein kleiner Strauchdieb, dem nicht einmal sein Name gehörte. Gustav Amann erzählt in seinem aufschlußreichen Buch »Sunyatsens Vermächtnis«, daß Träger des Namens ein Räuberhauptmann war, der sich einen kleinen Jungen als Schreiber hielt. Da dem Banditen sonst nicht beizukommen war, zog man ihn zum Militär ein. Da ihm aber das Geschäft zu unsicher erschien, stattete er den Schreiberknaben mit seinem Namen aus und schickte ihn zu Soldaten. So begann diese malerische Karriere ... Die Macht in der Mandschurei verdankt Tschangtsolin noch Jüanschikai, dem ersten Präsidenten der chinesischen Republik. Äußerlich hat er in die von ihm beherrschten rückständigen, noch ganz im Feudalismus vegetierenden nördlichen Provinzen Bewegung und Prosperität gebracht. Dennoch war sein System im ganzen nicht mehr als sorgfältig organisierte Plünderung des wehrlosen Volkes. Mukden blühte zu einer Capitale der internationalen Spekulation auf. Hier war Japans Einflußsphäre, hier wimmelte es von russischen Emigranten, von Jobbern aller Welt, Spezialisten für Waffenhandel und Valutageschichten. Gelegentlich wurde zur bessern ökonomischen Säfteregulierung ein Rudel allzu waghalsiger Geschäftsleute hingerichtet.

Ende 1925 erlebte Tschangtsolin seine schlimmsten Tage. Sein Vertrauter, General Kuosunglin war plötzlich abgefallen und nahte sich Mukden in Eilmärschen. Der Diktator hatte nur ein paar Kavallerie-Detachements zur Verfügung. Doch die Japaner besetzten Mukden; der verdutzte Kuo hielt inne, zauderte, witterte Verrat; Tschangtsolins Sohn kam als Unterhändler – da fegte der Marschall mit einer rasanten Flankenattacke den zehnfach stärkern Gegner hinweg. Am nächsten Tag wurden in Mukden die blutigen Häupter Kuos und seiner Frau auf Pfählen herumgetragen. 1926, nach Fengs Rückzug, ziehen die gutgedrillten mandschurischen Divisionen in Peking ein. Eine Schreckenszeit beginnt für die Riesenstadt, die eben die Propaganda der Kuomintang aufgewühlt hat. Der Mann aus Mukden kennt keinen Pardon. Er vertritt den starrsten Feudalismus, der aus Eignem nicht mehr leben kann, und sich den fremden Mächten, den Bedrückern und Ausbeutern Chinas verschrieben hat. Jetzt soll mit Feuer ausgebrannt werden, was das Eisen nicht schlagen konnte. So muß Alba über Flandern gekommen sein.

Vor zwei Jahren hat Jules Sauerwein den Marschall aufgesucht, und wie er den Mann zeichnet – zischend, wutspeiend, häufig mit der Hand die Bewegung des Kopfabhackens machend – das entspricht doch zu sehr den Vorstellungen, die man sich von ihm in Berlin oder Paris macht, um nicht ohne Übertreibungen zu sein. Pittoresk, aber durch Schlichtheit überzeugend, ist ein Bericht von Pierre Daye, einem jungen französischen Publizisten, der gleichfalls 1926 in Mukden war. Pierre Daye schildert zunächst den Empfangsraum: viel kostbare alte Seidenstoffe und edle Möbel, mit Perlmutter und Schildkrot inkrustiert, daneben ein paar unsagbare europäische Bazarfauteuils, vier vergoldete Pendulen und ein riesiges, grell bemaltes Orchestrion, wie man es sonst nur in den Hafenkneipen von Neapel zu finden pflegt. Herein tritt ein kleiner zartgliedriger Herr von einigen fünfzig Jahren, in eine Robe von lichtblauer Seide gekleidet, darüber eine kurze schwarze Kasacke, auf dem Kopf ein schwarzes Käppchen mit scharlachrotem Knopf. Nichts an dieser Erscheinung wirkt brutal. Der Blick ist lebhaft, die Gesten sind knapp. Seine Sprechweise ist gewählt, nicht ohne Feierlichkeit und erinnert mehr an einen Stubengelehrten als an einen Militär. Er unterhält seinen Gast sehr liebenswürdig, aber das Interview will nicht recht steigen, denn der Interviewer selbst ist der Ausgefragte. Endlich will er zum Thema kommen, aber der Marschall fragt ihn – nach dem Stande der Frankenstützung. Er hat selbst grade eine neue Order gegen die Spekulation herausgebracht, am nächsten Tage werden zwölf Bankiers und der Direktor einer Zeitung wegen Zuwiderhandlung erschossen werden, und da möchte er gern wissen, wie man in Europa mit solchen Leuten fertig wird. Er dürfte nicht viel gelernt haben ... Zum Abschied erzählt Daye, daß er über Rußland zurückfahren wolle. Es kommt kein Verwünschungshagel über die Bolschewiken, nur ein kleines ironisches Lächeln: »Seien Sie klug in diesem Lande!«

So sah ein Europäer den letzten starken Vertreter einer alten Zeit. Den Letzten einer verrotteten, schon gar nicht mehr lebenden Sache. Ist er wirklich dahin, hat Jung-China eine Bataille gewonnen. Doch bewahrheiten sich die Gerüchte von Tod oder hoffnungsloser Verstümmelung nicht, dann ist auch nicht zu zweifeln, daß dieser oft Niedergeworfene, doch immer Wiedererstandene noch einen neuen Gang wagen wird. Man kann sich diesen zierlichen, höflichen Willensmenschen, diesen rettungslos dem kalten Machtdelirium Verfallenen nicht friedlich pensioniert im Bett sterbend vorstellen. Viel eher in einer letzten Phantasie von Sieg und Rache hinsinkend wie der artverwandte Cesare Borgia bei Gobineau: »Solange ich einen Atemzug im Leibe habe, ist es ein Atem des Hasses und des Begehrens ...«

Die Weltbühne, 12. Juni 1928


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