Carl von Ossietzky
Sämtliche Schriften – Band IV: 1927–1928
Carl von Ossietzky

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Dostojewski ohne Gott

Wäre Ilja Ehrenburg ein Allegoriker, er hätte dem Roman von Michael Lykow etwa den Untertitel gegeben: Die Plagen des Lebens. Denn in diesem starken Band (im Malik-Verlag deutsch erschienen) geht es nur um die Widerwärtigkeiten des Lebens, um Krieg und Pestilenz, Straßenkampf, Hunger, Füsilierung und immer wieder Felonie. Ein schauerlich exaktes Bild von der Auflösung einer Gesellschaft, ein rigoroser Naturalismus, neben dem der alte Zola zum milden Märchenonkel wird. Im Mittelpunkt ein kleiner Schieber, Michael Lykow, von seinem Autor bis zur Zärtlichkeit gehaßt, ein kleiner Profiteur des werdenden Sowjetsystems, das seinerseits von der Pfiffigkeit und der desperaten Courage solcher und ähnlicher Lykows profitiert, bis es ihnen schließlich als räudigen Schafen kaltblütig das Fell abzieht. Ehrenburg, der Pathoslose, ist auch in diesem schnell heruntergeschriebenen Buch unter allen Satirikern der Zeit Swift und Voltaire am nächsten. Diese jagende, pausenlose Häufung von Unglücksfällen, das ist die Technik des unsterblichen ›Candide‹. Ein paar Sätze nur – es handelt sich um eine Besserungsanstalt für minderjährige Verbrecher und Prostituierte, wo sich der Lebenskater der Aufseherschaft in Philanthropie umsetzt und es statt Brot und Kleidern Dekrete gibt: »Des Nachts ließen sich die kleinen Mädchen an einem Strick hinabgleiten und liefen mit dem Schrei: ›Onkelchen, wir können schon!‹ zu den Rotarmisten. Die ›Onkelchens‹ belohnten diese Wunderkinder aus Dankbarkeit für ihre in diesen Kriegszeiten notwendigen Dienste mit Krautsuppe, Wurst und Syphilis. Die Knaben hingegen entwischten vornehmlich zu allerhand Bandenführern. Die weniger Unternehmungslustigen überfraßen sich vor Hunger an Futterrüben und gingen an Dysentrie zugrunde.« Das ist der Stil eines Buches von über 500 Seiten, schrecklich rasant; ein Zynismus, der nicht mehr Männer und Institutionen bewitzelt, sondern nach dem Leben selbst sticht, sich selbst streitsuchend am Leben wetzt und wundwetzt. Über den Qualen Dostojewskis thront ein Gott. Bei dem Russen dieser Tage ist Gott delogiert und der Mensch allein. Das Umschlagbild zeigt Ehrenburgs schmales, zerfurchtes Gesicht mit großen, bitter suchenden Augen, die ahnen lassen, daß auch hinter den Verwünschungen dieses neuen Thersites die ewige Klage von Indras Tochter zittert: Es ist schade um die Menschen!

Die Weltbühne, 27. März 1928


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