Carl von Ossietzky
Sämtliche Schriften – Band IV: 1927–1928
Carl von Ossietzky

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Das Buch vom Russenfilm

Das schönste und erregendste Buch dieser Tage ist ein Bilderbuch, und ein ganzes Volk hat dazu Modell gestanden.

Ich liebe die Schriftsteller, die etwas von der Buntheit der Gegenwart auffangen, ich liebe das beschwingte Tempo und die minutiöse Genauigkeit, die sich nicht bestechen, nicht prellen läßt, ich liebe Sinclair Lewis und Ilja Ehrenburg ... Aber ich vergesse sie vor den 144 Tafeln des Buches ›Russische Filmkunst‹ (mit einem Vorwort von Alfred Kerr bei Ernst Pollak in Berlin erschienen).

Man könnte sagen: es ist einfach das Neue, das dich überrumpelt, Freund, und du bist ein bißchen Snob geworden, wo etwas frisch hereinbricht, da bist du enthusiasmiert und schwelgst superlativisch, um nachher langsam und unmerklich zu subtrahieren ...

Aber diese russische Filmkunst ist nicht Mode, kann es nicht werden, weil der Geist eines ganzen Volkes in den Bildern lebt, und wenn man Formen kopieren kann, Teufelsfratzen aus Insulinde ebensogut wie die hochgeschossenen Figuren des Greco, der Geist eines Volkes wird Geheimnis bleiben. Die fingerfertigen Imitatoren werden ein paar technische Kniffe adaptieren, aber das Geheimnis nicht ergründen. Seit ein paar Wintern kennen wir jetzt Russenfilme. Aber gibt es schon einen russischen Stil, der heute dernier cri ist, morgen kaum Pfennigwert hat? Es gibt keinen, wird keinen geben.

»Was ist schon großes mit dem Eisenstein?« schrieb vor Jahresfrist ein deutscher Filmregisseur, »der russische Staat gibt ihm für seine Aufnahmen die ganze Stadt Odessa mit allem lebenden Inventar, und noch ein paar Kriegsschiffe dazu. Mit den Mitteln könnten wir das auch!«

In Weiträumigkeit und Opulenz der Regiemittel sieht der deutsche Filmmann den ganzen Dreh. Alfred Kerr aber schließt sein Vorwort so: »... mancher von diesen weltfördernden Filmen wuchs, vor Jahr und Tag, inmitten von Frost und Hunger. Es gibt großes, wenn Künstler Heilige sind.«

Und darin scheint das Geheimnis des Russenfilms beschlossen zu sein.

Die Weltbühne, 23. August 1927


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