Carl von Ossietzky
Sämtliche Schriften – Band IV: 1927–1928
Carl von Ossietzky

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Noskes Schatten

In diesen völlig unrevolutionären März fällt mit Recht das Jubiläum einer völlig unrevolutionären Partei. Vor sechzig Jahren ist aus einer Sezession der alten Fortschrittler die Nationalliberale Partei entstanden. Das war gewiß ein Anlaß, den Humpen zu bekränzen. Da der verehrte Führer, der Reichsaußenminister, zur Zeit jedoch ernstere Sorgen hat, hielt sich das befürchtete Sängerfest in glimpflichen Formen, und es wurde nicht mehr Eichenlaub mit Donnerhall und Wogenprall verabfolgt als bei solchen Gelegenheiten unbedingt erforderlich. Dabei hätte grade diese Partei, die sich heute unter dem Künstlernamen Deutsche Volkspartei nur mühsam verbirgt, allen Grund zu triumphieren. Denn wenn sie auch ebensowenig gesiegt hat wie irgend eine andre liberal-demokratische Partei, so hat ihr Geist doch das gesamte politische Leben der Nation erfaßt und durchsäuert. Wohin man auch blicken mag, überall stößt man auf das, was seit Jahrzehnten zur Vermeidung unhöflicherer Bezeichnungen nationalliberal genannt wird. Auch die radikalsten Parteien haben unter der Rostra, von der ihre Tribunen zum Volke schmettern, ganz geheim jene Drehvorrichtung, die bei der ehrwürdigen Jubilarin längst in aller Öffentlichkeit angekurbelt wird.

 

Die Sozialdemokratie hat sich jetzt nach Äußerungen namhafter Führer endgültig entschlossen, nicht gegen die Reichswehr, sondern um die Reichswehr zu kämpfen. Die Genossen im Lande finden das rabulistisch und murren. Besonders beunruhigt ist das westfälische Industrierevier, wo starke Strömungen vorhanden sind, die prinzipiellere Militärkritik und überhaupt Ablehnung des Etats für Reichswehr und Marine verlangen. So veranstaltete das Patriarchat in der Linden-Straße also eine Rednertournée notabler Genossen, um es zunächst mit der pénétration pacifique zu versuchen. Es muß zugegeben werden, daß die dazu auserkornen Genossen Hermann Müller und Severing, ihrer Art gemäß, sehr koulant auftraten und die Irrlehren der antimilitaristischen Schwärmer in milder Form zu widerlegen trachteten. Was sie sachlich auszuführen hatten, war allerdings recht spärlich. Immer wieder betonten sie, es sei geschäftsordnungsmäßig nicht möglich, den Militäretat abzulehnen, ohne den Gesamtetat zu verweigern. Aber, meine Herren, ist denn das eine so grausame Zumutung für die repräsentative Oppositionspartei? Sind Sie denn für das Wohlergehn der Regierung Marx-Keudell-Hergt verantwortlich? Da das Budgetrecht des Reichstags ohnehin durch die Manipulationen des Reichswehrministeriums fast illusorisch gemacht worden ist, wäre hier nicht nur Ablehnung, sondern – horribile dictu! – Obstruktion am Platz. Doch da die Herren beschlossen haben, nicht gegen die Reichswehr, sondern um deren Seele zu kämpfen, so ist wohl die Frage erlaubt, welches ihre Gedanken und Pläne sind. Wie wir erinnern, hat Herr Heye selbst Loebes zahme Propositionen zur Reform der Rekrutierung entschieden abgelehnt. Und seitdem ist es ganz still.

 

Auch der Genosse Stücklen pilgert alljährlich ins Ruhrrevier, um den Kumpels zu erzählen, daß wir eine Reichswehr brauchen, weil die verdammten Polen noch immer keine Ruhe geben wollen. Geht Hermann Müller versöhnlich wie ein innrer Missionar vor, so gleicht der Genosse Stücklen mehr jenen eifernden Heidenpredigern, die mit dem Ochsenziemer nachhelfen, wenn das Glauben nicht fix genug geht. Genosse Stücklen, seit über fünfzehn Jahren militärischer Expert der sozialdemokratischen Fraktion, hat kürzlich in Elberfeld über die Reichswehr gesprochen und die günstige Gelegenheit benutzt, nicht um gegen die Reichswehr, sondern um gegen die ›Weltbühne‹ offensiv zu werden. Nach sozialdemokratischen Blättern führte er aus: »Im übrigen solle man sich hüten, seine Informationen über Reichswehr und Reichswehretat aus der ›Weltbühne‹ zu holen, da die Leute, die diese Zeitung herstellen, sich keine Mühe gäben, den Etat zu studieren und – wie der Redner kurz nachwies – nicht vergleichbare Größen gegenübergestellt hätten.« Ach, wenn man diesen Nachweis nur in extenso hätte; aber auch diese schlichte Abkürzung hat ihre Schönheiten. Der Genosse Stücklen ist seiner Zeit in einen unverdient guten Ruf gekommen, als er am 10. Dezember vorigen Jahres im Reichstag flagrante Verletzungen des Etatsrechtes durch das Reichswehrministerium festgestellt hat. Um irgendwelchen optimistischen Schlüssen entgegenzutreten, sucht sich der Genosse jetzt durch eine plumpe und unwahrhaftige Attacke gegen die ›Weltbühne‹ zu salvieren. Das ist das Bonzentum, wie wir es jetzt seit Jahren erleben. Das fühlt sich in seiner Würde gekränkt, weil irgendwo außerhalb des Parteiclans ein paar Menschen, ein Blatt, treiben und spornen; das sieht sein kümmerliches Monopol ins Wackeln geraten und seine Parteisergeantenknöpfe bedroht, weil die Arbeiter im Lande, vielleicht unter Berufung auf ebendies Blatt, das Tempo der Fraktion allzu gemächlich finden und unbequeme Fragen stellen. Solche Frechheit muß gezüchtigt werden, und lieber stellt sich der Genosse schirmend vor Geßlers Offiziere, als daß er den Unbotmäßigen auch nur ein Fingerbreit nachgäbe. Daß der Genosse Stücklen die allein richtige Exegese des Militäretats für sich in Anspruch nimmt, ist ein Stück fachmännischer Überheblichkeit, das wir ihm gern nachsehen wollen, wenngleich es, höflich gesagt, eine bedauerliche Überspannung von Konkurrenzgefühlen bedeutete, wenn er mit seiner unwirschen Bemerkung etwa auf Konrad Widerholds mit höchster Akribie und glänzender Sachkenntnis durchgeführte Etatskritik in Nummer 4 der ›Weltbühne‹ angespielt hätte. Der Fluch des Genossen Stücklen ist uns ebenso gleichgültig wie sein Segen. Es geht um die politische Wirkung. Und wir fragen die Stücklen aller republikanischen Parteien: Was hat eure superkluge Katzbuckelei bisher erreicht? Ihr habt eine Position nach der andern verloren und seid überall auf dem Rückzug. Es hat sich alles um euch gewandelt, nur geruhtet ihr nicht, die Tatsachen zu sehen, und vielleicht ist der Tag nicht mehr fern, wo die Tatsachen euch nicht mehr sehen werden.

 

Fast kalendermäßig mit dem Scheiden Herrn Doktor Friedensburgs von Berlin fiel das Wiederaufleben ungewohnt gewordener Straßenkrawalle zusammen. Hakenkreuzler eröffneten in einem Vorortsbahnhof gegen eine Minorität von Roten Frontkämpfern eine Schlacht und zogen dann johlend und Passanten mißhandelnd durch den ganzen Westen ihrem klassischen Kampfplatz an der Gedächtniskirche zu, wobei ein paar Ausländer niedergeschlagen und gefleddert wurden. Die Polizei zeichnete sich durch bemerkenswerte Selbstbeherrschung aus. Weniger am nächsten Abend in Charlottenburg, wo eine vorübergehende Verwirrung in einem kommunistischen Demonstrationszug erst mit Schreckschüssen und dann mit forschem Dreinschlagen behandelt wurde. Man mußte an solchen politisch erhitzten Tagen Herrn Doktor Friedensburg gesehen haben, wie er selbst an den bedrohten Stellen war und durch seine bloße Anwesenheit Beruhigung verbreitete. Soll jetzt die Zuchtlosigkeit der Ära Richter wieder einreißen? Friedensburgs Nachfolger, Herr Doktor Weiß, hat sich bei seiner Ernennung ausdrücklich ausbedungen, mit der Schutzpolizei nichts zu tun zu haben, da er von früher her keine glücklichen Erfahrungen hat; sein Interesse gehört der Kriminalpolizei und der Abteilung IA. Da Herr Zörgiebel, der oberste Chef, auf die Herren Offiziere nicht den geringsten Eindruck macht, so ist die Berliner Schutzpolizei tatsächlich ohne rechte Leitung, und nichts hindert sie, ihren vor randalierenden Stahlhelmern heroisch domptierten Amtseifer an Linksradikalen desto freier ausleben zu lassen. Es ist katastrophal, daß die Rede des Ministers Grzesinski vor dem Landtag diesem Zustand die gesetzlichen Weihen verschafft hat. Das war gewiß nicht beabsichtigt, aber die Wirkung ist so. Seltsam, daß diese sozialistischen Staatshüter immer noch Noske kopieren müssen, wenn sie mit der äußersten Linken zanken. Immer dies Drohen, dies Trumpfen auf die blanke Plempe der überparteilichen Staatsautorität, von der jedes Kind weiß, daß sie in praxi immer nur nach einer bestimmten Seite zu fallen pflegt. Wann findet endlich ein sozialdemokratischer Minister für die Kommunisten einen neuen, freien, nicht von Erinnerung an jahrelangen Bruderzwist durchtränkten Ton? Die republikanische Presse applaudiert dem Minister, aber er möge sich nicht täuschen: seine ohne Grund einseitig gegen die Kommunisten zugespitzte Rede hat keine andren Wirkungen, als diese neu zu erbittern und in haßvolle Isolierung zurückzutreiben. Dabei ist Herr Grzesinski ein Mann von vielen Qualitäten: gewissenhaft und selbständig; kein Platzhalter, sondern ein Eigner. Doch diese Rede ist politisch verderblich; in einigen schneidig trompeteten Sätzen wird ein politisches Kapital verschleudert. Noskes Schatten über Grzesinski? Schade, schade.

Die Weltbühne. 29. März 1927


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