Carl von Ossietzky
Sämtliche Schriften – Band IV: 1927–1928
Carl von Ossietzky

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Chronik

Das Bundesgericht von Massachusetts hat den Einspruch Saccos und Vanzettis verworfen und sie damit dem Henker überliefert, wenn nicht im letzten Augenblick noch ein Wunder geschehen sollte. Zum ersten Mal packt den mißvergnügten Bürger der deutschen Republik so etwas wie nationaler Hochmut. Das wäre wirklich in Deutschland nicht möglich. Das wäre überhaupt nirgends möglich. Es gibt keinen Staat, dessen Justiz nicht in diesen Jahren ein Mal der geschlossenen Stimmung der Welt nachgegeben hätte. Auch Horthy und Mussolini sind vor dieser Stimmung zurückgeschreckt, weil sie erkannt haben, daß der moralische Ruf kein leeres Gerede bedeutet. Auch das revolutionäre Rußland, das doch ganz abseits steht und nicht den Maßen des liberalen Demokratismus unterworfen werden darf, hat nach dem häßlichen Prozeß gegen die Sozialrevolutionäre den Angeklagten schließlich ein viel weniger herbes Schicksal bereitet, als das rote Tribunal ihnen zugedacht. Wenn Gerechtigkeit ein Volk erhöht, so stärkt Milde die Position der Machthaber und »oderint dum metuant!« sagt keiner mehr, der klug ist. Daß die Richter und Sbirren von Massachusetts nicht kapieren, was Protestmeetings in europäischen Städten gegen sie bedeuten, mag denkbar sein. Aber wie steht es mit den Gewaltigen in Washington? Weiß denn nicht Herr Kellogg, der das Auswärtige macht und jahrelang auf wichtigen diplomatischen Posten in Europa stand, was die Vereinigten Staaten in diesen letzten Wochen an Prestige verloren haben? Es sind doch nicht nur die Linksradikalen in Aufruhr: die Bewegung hat alles gepackt, was noch menschlich fühlt. Man kann nicht länger bei einer Fiktion von ›bolschewistischer Mache‹ bleiben, wo selbst Vatikan und Quirinal beunruhigt sind. Gobernator Fuller, vielleicht, weiß vom Papst ebenso viel wie eine pommersche Stallmagd vom Lebenden Buddha und von Mussolini nur, daß er früher Sozialist gewesen ist, daß man ihm also nicht übern Weg trauen darf. Aber darf Herrn Fullers verfassungsrechtlich gesicherte Stellung einen Justizmord heiligen und den ganzen Globus gegen U.S.A. aufbringen? Findet sich denn in diesem vorgeblich so unbureaukratischen Lande nicht ein Einziger, der die jämmerliche Porzellanfahrt von richterlichen Instanzenzügen mit ein paar Federstrichen beendet? So wie vor Jahresfrist Herr Hörsing, amtlich nicht ganz befugt, aber sehr tapfer, den Fall Haas den Talenten des Richters Kölling entriß. Damals atmete ganz Deutschland befreit auf. Erfolgt in diesen Tagen die Hinrichtung der beiden grenzenlos Gequälten wirklich oder wird ihr Martyrium ins Ungewisse fortgesetzt, so wird sich ein Abgrund zwischen den Vereinigten Staaten und der übrigen Welt auftun, den kein bejubelter Ozeanflieger überbrücken kann. Man wird die Repräsentanten der Regierung von Washington mit faulen Eiern begrüßen, wo sie sich künftig zeigen werden, um den Gefühlen der gemeinsamen hohen Zivilisation Ausdruck zu verleihen. Und hier in Deutschland möchte man ganz besonders Herrn Professor Schurmann, dem zitatefrohen Goethekenner, der nirgends fehlen darf, wo sich ein paar behördliche Spitzenpersonen wichtig tun, größere Zurückhaltung nahelegen.

 

Der preußische Justizminister hat dem Landtag eine Novelle zum Disziplinargesetz der Richter zugehen lassen, durch die für die richterlichen Disziplinarverhandlungen die Öffentlichkeit eingeführt werden soll. Da die Annahme ziemlich sicher ist, so werden im Laufe der Herbstmonate die Fälle Kußmann und Caspary, Hoffmann und Kölling nach der neuen Bestimmung öffentlich verhandelt werden. Das wäre die erste bedeutsame Konzession an das ungeheure Mißtrauen gegen die Justiz und zugleich ein schwerer Schlag gegen das Richterprivileg überhaupt. Eine nützliche Entwicklung zur Realität: was sonst hinter verschlossenen Türen abgehandelt wird, erscheint bloßgelegt; die Methodik von Untersuchungsverfahren, die Wurzeln von Urteilsfindungen werden sichtbar. Damit wird eine falsche Feierlichkeit zerfetzt und eine mystisch drapierte »Sendung« einfach zu einem Beruf wie andre auch, und deshalb der Kontrolle unterliegend. Es geht nicht an, daß sich eine Tischrunde von Schwarzröcken gegen das bessere Empfinden und Wissen der ganzen Welt stemmen kann, nur weil die garantierte Unantastbarkeit ihrer Amtsstellung ihnen gestattet, ein offensichtliches Unrecht bis zum Justizmord zu treiben und ein Verdikt exekutieren zu lassen, nicht, weil es nach ihrer besten Überzeugung richtig ist, sondern weil ihr amtlicher Hochmut Revisionen nicht gestattet. Auch der Richter Thayer von Debham fühlt sich nicht befangen ... Der selbe Richter Thayer, gegen dessen Urteil seit sieben Jahren die besten Juristen kämpfen und dessen Irrtümer flagrant erscheinen, fühlt sich nicht befangen! Und es gibt kein Mittel, diesem Richter, der schon lange Angeklagter geworden ist, die Akten Sacco-Vanzetti aus den Händen zu winden. Die Unabhängigkeit des Richters, ein liberales Palladium einst, ist zum Unsinn geworden. Der Fortschritt von gestern zur Plage von heute. Die Frage ist keine deutsche allein.

 

Unser Herr Reichswehrminister hat seinen gläubigen republikanischen Kindlein eine Freude bereitet: er hat was für Schwarz-Rot-Gold getan. Hat der Mann ein Glück! Nach der Vergangenheit nun plötzlich gerührte Absolution, nur, weil er seinen Offizieren untersagt hat, sich mit den Farben der Monarchisten zu zeigen! Wenn wir die Angelegenheit etwas weniger animiert betrachten als die Demoblätter, kommen wir zu nicht so erquicklichen Schlüssen. Schließlich hat Herr Geßler jetzt ein paar recht beschwerliche Sachen auf dem Buckel: nicht nur die neuen Enthüllungen über das Zusammenspiel von Reichswehr und Stahlhelm, sondern auch die Geschichte mit den Filmsubventionen durch seine republikanische Marine. Als vorsichtiger Mann bemüht er sich, die wachsende Entrüstung rechtzeitig zu dämpfen. Den Fraktionen der Linken etwas zum Fraß vorzuwerfen, ehe sie sich ausgehungert niedersetzen, um ein paar gallenbitterböse Interpellationen zu verfertigen. Und wie könnte man die grollenden Gemüter besser besänftigen als mit einem Flaggenerlaß, der nicht mehr kostet als einen kleinen Sturm in der hoffnungslos vernagelten ›Kreuzzeitung‹, über die doch jeder lacht? Es ist doch kümmerlich bestellt um die weimarer Farben. Wenn sie schon mal herausgeholt werden dürfen, dann fungieren sie totsicher nur als Kompensationsobjekt. Geßler hatte die Wahl zwischen Schwarz-Rot-Gold und weitgehenden parlamentarischen Belästigungen. Also entschied er sich für Schwarz-Rot-Gold. Wo die Sache ernst wird, hapert es natürlich mit dem neuen republikanischen Elan. Was geschieht zum Beispiel mit jenem Herrn Oberstleutnant Fritz, der bei der Verfassungsfeier von Gießen mit Mann und Musik entrüstet das Haus verließ, weil ihm der Festredner zu republikanisch war? Einstweilen hat das Ministerium ein Eingreifen abgelehnt, weil die vorliegenden Berichte es von dem »parteipolitischen« Charakter der Ausführungen des Redners überzeugt haben. Nun ist, was weniger bekannt ist, jener Herr Oberstleutnant zugleich Landeskommandant der republikanischen Streitkräfte in Hessen, also von Amts wegen zu gutem Einvernehmen mit der Landesregierung verpflichtet. In Hessen regiert eine weimarer Koalition. Warum läßt sie sich diesen auf die Nase gesetzten Landeskommandanten gefallen? Man mag sich gar nicht vorstellen, was die bayrische Regierung etwa täte, wenn der Militärchef, Herrn v. Lossows Nachfolger, plötzlich einen republikanischen Rappel bekäme. Er wäre sofort geschaßt. Die Hessen sind geduldiger, und Geßler denkt nicht, den republikanischen Fahnenmast in die Wolken wachsen zu lassen. Es kam ihm auf den Applaus der Demokraten an, und der ist erreicht. Die merken auch nicht, daß die neue republikanische Großtat in fatal hinterhältiger Form verabfolgt wurde. Gegner der Reichswehr, sagt Geßler, sind auch Feinde der Republik. Normalerweise müßte es umgekehrt sein. Praktisch wird sich das so auswirken: Gegner des Militäretats werden auch Gegner der Reichswehr und folglich auch Gegner der Republik sein. Und das ist noch die harmloseste der vielen, vielen Möglichkeiten. An Geßlers republikanischer Exegetik werden wir noch lange zu knabbern haben.

Die Weltbühne, 23. August 1927


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