Carl von Ossietzky
Sämtliche Schriften – Band IV: 1927–1928
Carl von Ossietzky

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Die Stillen im Lande

In Brüssel findet zurzeit ein internationaler Kongreß der sozialdemokratischen Parteien statt. Die Zweite Internationale hält Musterung, das noch immer größte Parteigefüge des Erdkreises. Das müßte eigentlich ein Ereignis sein. Doch die große Nachrichtenpresse starrt unverwandt nach Olympia, und die rekordhungrigen Ellenbogen und Kniekehlen von Fräulein Soundso sind ihr viel wichtiger als die versammelten sozialistischen Denkerprofile von Brüssel. Früher konnte ein Sozialistenkongreß die Welt tagelang in Erregung halten, heute nimmt man tagelang überhaupt keine Notiz davon. Selbst in der Berichterstattung der gewissenhaftesten Blätter klaffen ganz große Lücken, man bekommt überhaupt kein Bild von dem, was in Brüssel geredet wird, wie die Kräfteverteilung in den verschiedenen Gruppen ist. Nur daß Herr Vandervelde sich jetzt bezüglich der Rheinlandräumung den französischen Sozialisten angeschlossen hat, wird rot unterstrichen. Aber es handelt sich hier auch um eine akute Frage, die ganz Europa angeht, und Herr Vandervelde ist ein bekannter Mann, der nicht des Sozialistenkongresses als Hintergrund bedarf, um mit Aufmerksamkeit gehört zu werden. In Deutschland, in Frankreich etcetera achtete man wohl auf das, was zu einzelnen Dingen gesagt wurde, weil einzelne der Herren Regierungen nahestehen oder ihnen bald wieder angehören werden. Aber niemand kümmerte sich darum, daß es Sozialisten sind, die da zusammenkamen, und daß sie die Sprecher von millionenstarken Arbeiterparteien sind. Das fiel ganz untern Tisch, und was die Herren etwa an wirtschaftlichen Erleuchtungen zu vermelden hatten, wurde kaum erwähnt. In diesem Unterlassen liegt die schärfste Kritik der Veranstaltung und der Veranstalter, eine schärfere als die der kommunistischen Gegner, die jetzt mit Marxkommentaren bewaffnet den Nachweis beginnen werden, daß die in Brüssel gehaltenen Reden und die entsprechenden Beschlüsse nicht dogmentreu sind, sondern reformistisch und opportunistisch. Überflüssiges Bemühen. Denn diese Parteien haben sich alle mit einem Zustand ausgesöhnt, den sie die Wirklichkeit nennen. Dadurch wird einiges Gute geschaffen, weil Personen und Schichten in die vordere Reihe kommen, die früher als revolutionär ausgeschlossen waren. Aber den Profit davon hat die bürgerliche Gesellschaft, denn an die Stelle welkender Traditionalisten treten Unverbrauchte. Aber zugleich bedeutet der Friedenspakt mit den Sozialisten eine gründliche Vertagung aller Radikalitäten, und namentlich sozialer. Niemals ist der Kapitalismus besser geborgen als in den Zeiten, wo Sozialisten am Ruder sitzen. Denn deren Bemühen richtet sich immer vornehmlich darauf, ihre Wähler, die sich einbilden, jetzt wo ihre Leute oben sitzen, käme die Ernte, gut in Disziplin zu halten. Und wenn die Regierung dann endlich ihre Reformvorlagen ankündigt, muß sie schon wieder gehen. Man hat diesen Turnus jetzt in verschiedenen Ländern hinreichend kennen gelernt. So werden voraussichtlich die englischen Konservativen bald die Regierung neidlos an die Labourists abtreten. Die dürfen dann die üble Rußlandpolitik liquidieren, an den Wirtschaftsnöten hilflos herumdoktern und müssen sich dafür Verräter und Dilettanten schelten lassen, um schließlich diesen Vorwürfen zu erliegen. Deshalb kann für die Sozialisten ein Wahlsieg verhängnisvoller werden als für die Andern eine Niederlage. Die sozialistischen Arbeiterparteien haben in bezug auf Lautstärke und Entfaltung vitaler Energien lange nicht mehr das Prae. Es gibt stark konservative Gruppen, die sie an Lebendigkeit weit übertrumpfen. Bauernführer, wie Maniu oder Raditsch, haben noch vor Kurzem eine Sprache geführt und eine Stoßkraft entwickelt, wie sie mächtige Gewerkschaftspräsidenten in ihren rötesten Träumen schaudernd ablehnen würden. Die sozialistischen Parteien sind überall wie automatisch an den Platz der alten Liberalen getreten, wobei nur fatal ist, daß sie nicht die stürmische Jugend und die kraftvolle, bewußte Mannheit ihrer Erblasser zur Nachahmung reizt, sondern daß sie überganglos deren sanfte Altersreife fortsetzen.

 

Was würde zum Beispiel Eugen Richter zu Hermann Müller sagen, der sich jetzt von den Koalitionsgenossen in Volkspartei und Zentrum doch noch zum Bau des Panzerkreuzers A drängen läßt ...? Als Erklärung wird auf die frühern Beschlüsse dieser Parteien verwiesen, keine Rolle spielt jetzt mehr die scharfe Gegnerschaft, die dieser Bauplan noch vor ein paar Monaten im Reichsrat gefunden hat, und zwar unter Preußens Führung. Die Versicherungen, daß dafür an andern Positionen im Wehretat gespart werden soll, wollen wir mit jener wachsamen Nüchternheit aufnehmen, die bei der Ankündigung okkulter Überraschungen am Platze ist. Die Sozialisten haben sich jedenfalls breitschlagen lassen, und in der nächsten Zeit werden wir wohl einiges hören über die tiefe Tragik einer republikanischen Regierung, die so gern so vieles möchte und die doch gezwungen ist, auszuführen, was ihre böse Vorgängerin beschlossen. Die Tragik der Kontinuität ... Daß die Herren vom Zentrum und der Deutschen Volkspartei an ihren alten Beschlüssen festhalten, ist gewiß recht prinzipienfest. Aber die Sozialdemokraten, die sich davon imponieren lassen, sollten nicht verkennen, daß diese beiden Parteien eben deswegen im Wahlkampf so schlecht weggekommen sind. In der Tat spielte dies vom Kabinett Marx erfundene Panzerschiff im Wahlkampf eine große Rolle, man sah darin nur einen Prestigewunsch des grade durch den Lohmannskandal so übel mitgenommenen Marinismus. Soll die Linksregierung jetzt das ausführen, was die Rechtsregierung zum Straucheln brachte? Dann war doch der ganze Aufwand gar nicht nötig! Dann müßte man doch ohne Aufschub realisieren, was die Regierung Marx-Keudell sonst noch als Material hinterlassen hat! Die Republikaner sind sehr still. Namentlich in der sozialistischen Presse herrscht jenes pietätvolle Schweigen, das immer ausbricht, wenn die Partei zu regieren beginnt.

 

Ein Mal im Jahre werden die Stillen laut. Das ist am 11. August. Da freut man sich unbändig, wie gut man mit der Beschwörungsformel von Weimar das Chaos gebändigt hat. Die Herren sehen an, was sie gemacht haben und finden es gut. Es sei. Die repräsentative Festrede war dies Mal Herrn Professor Radbruch anvertraut worden, dem man, auch wenn man wenig von dem unterschreibt, was er sagte, gern bestätigt, daß seine Rede die klingendste und wirkungsvollste und ganz gewiß die interessanteste war, die bisher auf einer Verfassungsfeier gehalten wurde. Herr Professor Radbruch hat sorgfältig die Plattheiten, den Sedanfeierstil gemieden, der bisher republikanische Feten oft verunschönt hat. Es muß gewiß berücksichtigt werden, daß er zu einem überparteilichen Auditorium sprach. Aber war es wirklich notwendig, die sozialistische Herkunft so zu verleugnen und sich auf einen freundlichen schwyzer Bürgerliberalismus zurückzuziehen mit einem Minimum von Beziehungen zu dem, was ist? Es gehört ein so ausgezeichneter Redner wie Radbruch dazu, um in solchen Partien glücklich um die blanke Trivialität herumzukommen. Die Devotion vor Herrn von Hindenburg macht der Höflichkeit seines Herzens alle Ehre, ist aber geeignet, in seiner eignen Partei Verwirrung anzurichten. Der Herr Reichspräsident ist eine Institution, die nur schmähen wird, wer für diese Institution eine andre wünscht: wer also kein Republikaner ist. Eine besondere Liebe zu der Zufälligkeit der Person braucht damit nicht verknüpft zu sein. Herr Professor Radbruch hat zum Preise Hindenburgs einen breit dahin wallenden Vers von Stefan George zitiert. Andre werden mit weniger gewähltem Geschmack deklamieren, und wir sind dann wieder mitten in Kaisergeburtstagslyrik und Byzantinertum. Vestigia terrent. Würde in Frankreich wohl ein Redner auf die Idee kommen, Herrn Doumergue eine Strophe von Paul Valéry zu dedizieren? Ein besonderer Teil von Herrn Radbruchs Rede war einer Art republikanischer Seelsorge für die vom Parteitreiben Verärgerten gewidmet, und manches erinnert da in der Klangfärbung etwas an eine Philippika, die der Herr Redner vor einiger Zeit gegen den »Weltbühnenradikalismus« gehalten hat. So nannte er eine bestimmte kritische Haltung gegen unser Parteiwesen. Ich möchte keine Unklarheit aufkommen lassen: wir denken gar nicht daran, den Leuten ihre Parteien verekeln zu wollen, aber was wir wünschen ist, daß sie besser funktionieren sollen. Daß sie ihren Begabungen den rechten Platz geben, das Werdende nicht niederdrücken, als Regierung halten, was sie als Opposition versprochen. Bei dem Kampf um die Justizreform, zum Beispiel, stößt man überall auf gefährliche Hemmungen, die nicht etwa unter einem reaktionären Justizminister wie Herrn Hergt oder Herrn Emminger geschaffen worden sind, sondern unter der Ära eines auch Herrn Radbruch bekannten aufgeklärten Rechtsgelehrten, den das linke Deutschland seiner Zeit mit den freudigsten Hoffnungen begrüßt hat ... Solche und ähnliche Kritik sollte man nicht als beklagenswerten Fanatismus verabscheuen, nicht der ohnehin mehr zu Tode geredeten als zu Tode gedolchten »deutschen Zwietracht« aufs Konto schreiben. Wenn man in unsern Parteien mehr Verwaschenheit als Gefühl für notwendige Distanzierungen findet, wenn parlamentarische Koalitionen, die sachlich wohl zu rechtfertigen sind, in der Praxis auf ein Verhältnis frère et cochon hinauslaufen – wenn man das ankreidet, so ist das nur pflichtbewußte demokratische Kontrolle und nicht Schürerei von Zwietracht. Auch das »Kriegserlebnis« hat Herr Radbruch wieder aufleben lassen. Es gibt Erlebnisse, von denen am besten nicht gesprochen wird. Es wird kein Einzelmensch erzählen: Dann und dann kam ich ins Tollhaus. Auch als Volk sollte man nicht mit solchen Daten renommieren. Wenn das Kriegserlebnis schon für unerläßlich gehalten wird, dann sollte man lieber erinnern, wie man belogen und betrogen wurde, und wie selbst, grade vor zehn Jahren jetzt, als die Niederlage kaum mehr zu vertuschen war, die öffentliche Meinung noch immer auf Sieg geschminkt wurde. Und es hätte auch nichts geschadet, an diesem Verfassungstag an den von 1923 zu erinnern, wo Herr Cuno käseweiß und fahrig herumlief. Berlin stand im Streik, der Verkehr war stillgelegt, Zeitungen erschienen nicht, in den Arbeitervierteln ballten sich die Massen – es war wieder wie 1919. Zwei Tage später demissionierte das Inflationskabinett. Das ist erst ein Jahrfünft her, und wer denkt heute noch daran. Und doch wäre das ein trefflicher Text für eine Verfassungspredigt, wohin die Republik kommt, wenn sie sich von einem nationalistischen Gaukelspiel ködern läßt. Aber die mise-en-scène verträgt keine ernsten Farben. Nun ist das Fest absolviert, das Feuerwerk verbrannt. Die schöne Freiheitskulisse hat ihren Dienst getan und wandert wieder auf den Schnürboden. Bis zum nächsten 11. August. Die Wand verabschiedet sich:

Ich, Wand, hab meinen Part tragiert,
drum Wand sich jetzt empfiehlt und abmarschiert ...

Die Weltbühne, 14. August 1928


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