Carl von Ossietzky
Sämtliche Schriften – Band IV: 1927–1928
Carl von Ossietzky

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Szenenwechsel in China und anderswo

Die chinesische Revolution hat einen traurigen Rückschlag erlitten. Das ist beklagenswert, auch wenn man nicht zur Auffassung neigt, daß Revolutionen sich wie Paraden entwickeln müssen. Die innere Gruppierung der Kuomintang in nationale Bewegungsmänner und russisch inspirierte Sozialrevolutionäre war lange offenkundig. Jetzt ist der Konflikt allzu früh, noch vor Sicherung des Endsieges, ausgebrochen. Während die Truppen Tschangtsolins erfolgreich vorrücken, verflucht das linksradikale Hauptquartier von Hankau den Generalissimus Tschiangkaischek als Konterrevolutionär, eröffnet dieser in Shanghai Jagd auf kommunistische Agitatoren. Hatten die besten Kenner Chinas die Eroberung Pekings durch die Südarmee noch für das Ende dieses Jahres vorausgesagt, so scheint dieses Ziel jetzt in weite Ferne gerückt. Kantons Vorteil gegenüber den vom Ausland bezahlten Bürgerkriegsgeneralen war, daß es eine zentrale Idee besaß und alle seine politischen und militärischen Energien in den Ring eines einheitlichen Wollens gespannt waren. Dieser Reif ist nun gesprungen. Gewiß mag die Befreiung Chinas vom fremden Imperialismus damit nur hinausgeschoben sein und vielleicht nur für kurze Frist. Aber es dürfte für die Zukunft nicht gleichgültig sein, wer sich schließlich in Peking behauptet: eine in den Massen wurzelnde Partei oder ein abenteuernder General, der sich im Wirrwarr der Parteiungen durch den längsten Atem auszeichnet.

Kantons Niederlage verleitet die englische Regierungspresse zu wilden Freudensprüngen. Das ist nicht verwunderlich, aber beachtenswert bleibt doch, daß Sir Austen Chamberlain, der Außenminister, nicht merken läßt, ob er diesen Jubel teilt. Hier mag nicht nur die unerschütterliche Haltung eines Gentleman bestimmend sein, der in jedem kleinen Lächeln schon eine höchst verwerfliche Exhibition privater Empfindungen sieht, sondern auch die Einsicht, daß Englands Suprematie im Fernen Osten faktisch beendet ist und es nur noch gilt, Zeit für eine nicht direkt blamierende Rückzugsformel zu finden. Ein Rückzug vor einer chinesischen Nationalregierung ließe sich zur Not noch ganz leidlich drapieren: Selbstbestimmungsrecht der Völker, Geist der neuen demokratischen Ära etcetera. Bei der Freigabe Irlands hat Britannien zuletzt gezeigt, wie viel es konzedieren kann, ohne an Prestige zu verlieren. So lange jedoch Rußland in China entscheidend spielt und die chinesische Revolution von Moskau nicht nur ideell subsidiert wird, so lange kann England einen Rückzug nicht wagen. Denn das hieße Moskau weichen, hieße Rußland als Patron aller Völker anerkennen, die heute noch in der Welt England untertan sind. Die Uneinigkeit im Lager des Südens hat nun der britischen Politik ganz unerwartet einen Ball zugeworfen. Sie kann jetzt die eine Partei als kleineres Übel begönnern, den weitern Lauf der Ereignisse mitbestimmen und schließlich die Tatsache verdecken, daß sie, wie die Dinge auch kommen mögen, der unterliegende Teil ist.

Was den jähen Umschwung in China bewirkt hat, läßt sich auf Grund der spärlichen Nachrichten nicht ohne weiteres beurteilen. Man möge auch nie vergessen, daß die Parallelen mit an sich naheliegenden europäischen Ereignissen zu nichts führen und China als ein kleiner Kosmos mit eignen Naturgesetzen betrachtet werden muß. Schon die Tatsache, daß chinesische Kriege ziemlich unblutig verlaufen und nicht mehr sind als strategische Manöver ohne den Endeffekt der Zerstampfung des Gegners, demonstriert den Abstand zwischen der Seelenhelle des angeblichen asiatischen Fanatismus und der stumpfsinnigen Folgerichtigkeit des europäischen Militarismus, der nicht eher ruht, bis Alles kaputt ist. Es darf als bekannt vorausgesetzt werden, daß Tschiangkaischek sich mit dem radikalen Flügel seiner Partei schon lange schlecht verträgt und ihm Diktaturgelüste nachgesagt werden. Nach der Einnahme von Shanghai hat sich seine Stellung sehr gefestet; die massenweise zum Sieger übergelaufenen Truppen des Nordens gaben ihm die Möglichkeit, sich auf eine Armee zu stützen, die nicht mehr die alte, von einem Parteigebot regierte Kantonarmee war: das inzwischen mächtig angewachsene Heer ist nicht mehr homogen; ein Vorteil für den Generalissimus, der dem Zentralkomitee inmitten einer bedenkenlosen Soldateska trotzen kann. Das linksradikale Hauptquartier von Hankau fühlt sich einstweilen mattgesetzt, und da ihm militärische Kräfte noch fehlen, sucht es den General mit den Mitteln der Propaganda zu werfen, so wie es damit die alten Machthaber aus dem Sattel gehoben hat. Der General fühlt die Gefahren der Umzingelung durch eine Armee von agitationsgewandten Zungen sehr wohl, und er antwortet mit Verhaftungen, Pressezensur und Redeverboten. Die Feindseligkeiten zwischen beiden Lagern der Revolution sind eröffnet.

Nach dem Fall Shanghais sah Tschiangkaischek die Möglichkeit nahe, mit Tschangtsolin ein Abkommen zu treffen, das diesen auf seine Mandschurei beschränkt, um dann nach Peking zu marschieren und dort die Kapitulation der schattenhaft gewordenen Nordregierung entgegenzunehmen. Japans Billigung scheint schon lange im Geheimen gesichert zu sein. Ein solcher Ausgang wäre aber nicht nach dem Geschmack jener Kräfte in der russischen Politik gewesen, die China nicht nur befreien helfen, sondern in Zukunft auch beherrschen wollen. Moskaus Verdienste um die Revolutionierung Chinas können und sollen nicht verkleinert werden. Der Pakt zwischen Sunyatsen und Moskau hat die Bewegung nicht nur geschaffen, sondern ihr auch Rasanz und Tempo gegeben. Kein verständiger Mensch verwehrt dem Täufer dieser Revolution, auch deren Nutznießer zu werden. Doch Rußland scheint auf dem besten Wege zu sein, sich selbst um seinen Gewinn zu prellen, indem es den unbestreitbaren Sieg, den seine Außenpolitik in der Mobilisierung Chinas gegen England errungen hat, zu einem Sieg der sowjetistischen Ideen, zu einem Triumph der Kommunistischen Internationale in China, über China, umbiegen möchte. Rußland hat den Chinesen den befreienden Funken geschenkt, der zur mächtigen Flamme geworden ist. Aber wenn Rußland versucht, die innern Angelegenheiten eines ganz anders gearteten Landes entscheidend zu gestalten, so enthüllt es nur seine Schwäche und gibt einer andern Nation nur das Danaergeschenk sozialer Rätsel, die es im eignen Hause nicht lösen konnte. Da, wo die Revolution aufhört offensiv zu sein und konstruktiv werden will, da werden die Grenzen des russischen Einflusses sichtbar, da kann die moskauer Doktrin der chinesischen Freiheitspartei nicht mehr geben als Das, was sie allen andern befreundeten und verbündeten Parteien bisher gegeben hat –: Bruderkampf und Spaltung, Spaltung, Spaltung!

Die Überspannung der russischen Kräfte in Ostasien ist umso bedauerlicher, als Tschitscherins Diplomatie in einer andern Zone wiederum glänzend gearbeitet hat. Diese Diplomatie bewährt sich immer aufs beste, wenn sie nüchtern und ohne Rücksicht auf propagandistische Bedürfnisse sich ausschließlich am Maßstab der Tatsachen orientiert. Die neue Annäherung an Frankreich, die Aussöhnung mit der Schweiz beweist, daß die russische Außenpolitik nicht daran denkt, sich auf Gedeih und Verderb in Asien zu engagieren, sondern daß sie wieder willens ist, in Kontinentaleuropa Fuß zu fassen. England hat sich in den Randstaaten festgesetzt, die Favorisierung Polens übernommen, Italien zur Ratifizierung des Rußland kränkenden bessarabischen Abkommens bewogen: die Isolierung schien vollendet zu sein. Da setzt die russische Diplomatie mit leichtem Sprung über die Quarantäne hinweg und erscheint in Paris. Während England allenthalben die Konterrevolution päppelt und auf dem Umweg über Mussolini den Ungarn die Licenz erteilt, sich wieder einen König anzuschaffen, wendet Rußland seine Aufmerksamkeit endlich wieder den antifascistischen Staaten zu. Gelingt die völlige Verständigung zwischen Moskau und Paris, so hat Englands augenblickliche europäische Politik einen ganz schweren Schlag erlitten, aber auch für die Superklugen der berliner Wilhelm-Straße beginnt erst dann der Ernst des Lebens. Es wäre besser gewesen, auf das Frühstück von Thoiry ein Diner folgen zu lassen. Tschitscherin, der nicht wie Stresemann stets beachten muß, ob die nationalistische Galerie applaudiert, wird nicht zögern, mit Briand ausgiebig zu speisen.

 

Prinz Max von Baden, der letzte Kanzler des Kaiserreichs, hat seine Erinnerungen erscheinen lassen. Sie geben nicht viel Neues: weder über die Persönlichkeit des Schreibers noch zur Beurteilung der Ereignisse und sind dennoch ein interessanter Beitrag zur Naturgeschichte der deutschen Republik. Wir lernen erkennen, daß sie ein Kind war, das eigentlich abortiert werden sollte und das den Eltern deshalb auch keine Freude machte, als es schließlich da war. Maxens Erinnerungen enthalten nichts so Aufregendes wie den von Herrn Groener im münchner Dolchstoßprozeß mitgeteilten Pakt zwischen Ebert und der Obersten Heeresleitung zur Niederringung der Revolution, aber sie verraten doch, daß sich der erste Präsident der Republik bis zum letzten Augenblick um die Erhaltung der Monarchie bemüht und den Prinzen aus Baden gebeten hat, die Reichsverweserschaft zu übernehmen. Das wollte Max nicht, und er schildert das letzte Zusammensein:

»An der Tür wandte ich mich noch einmal zurück: ›Herr Ebert, ich lege Ihnen das Deutsche Reich ans Herz.‹ Er antwortete: ›Ich habe zwei Söhne für dieses Reich verloren.‹«

Hier sehen wir sozusagen einen historischen Augenblick durchs Schlüsselloch. Was sich in solchen inhaltsschweren Sekunden zwischen Menschen abspielt, das erfahren wir selten in unmittelbarer Intimität, sondern stets in der Verdickung pathetisierender Historiker, im Rotfeuer melodramatischer Beleuchtung oder zu Stein gefroren auf dem Sockel eines Denkmals. Und da ist das Erstaunliche, daß sich so etwas in Wahrheit genau so geschwollen, so falsch betont und belichtet abspielt, wie das später etwa ein minimaler Historienromanschreiber schildert. Wir wollen nicht Splitterrichter sein. Mit der Attitüde berühmter Männer in entscheidenden Augenblicken ist es eine eigne Sache. Es gibt da sehr viel Angstschweiß, der auch dem privatesten Memorial nicht anvertraut wird. Der angeblich eiserne Bismarck streifte oft die Grenzen der Hysterie. Die Emanzipation vom Sensorium ist überhaupt nur einem Ludendorff gelungen, der dafür auch immer nur das Gipsmodell eines großen Mannes geblieben ist, das beim ersten Anstoß zusammenfiel. Aber was jene Beiden, der Vertreter der scheidenden, der Vertreter der kommenden Macht sich da sagten, das war weder ein steif formaler Komplimentenaustausch, noch läßt es etwas Menschliches schwingen; zwei Kriegervereinler machen historische Scene. Der Autor des ›Gneisenau‹ könnte neidisch werden, sie nicht erfunden zu haben. Welch ein Aktschluß! Auf dem Kalenderblatt der neunte November. Draußen erste Hochrufe auf die Republik. Der Vorhang fällt.

Der Vorhang hebt sich wieder. Scenenwechsel im Regierungsviertel. Draußen letzte Hochrufe auf die Republik. Im Arbeitszimmer des Herrn v. Keudell hat man die Ausmerzung der letzten hohen republikanischen Beamten beschlossen. Die Leute fliegen. Die Linkspresse zetert etwas von Krippenwirtschaft und bedrohtem Staatswohl und daß sie in den Zeiten der republikanischen Regierungen stets auf Parität gedrungen habe. Ja, das ist wahr, und wir sehen den Effekt. Man hat durch all die Jahre ohne Fundament regiert, und was geschaffen wurde, trug Episodencharakter und ist lange verweht. Die Herren Hergt und v. Keudell sind als Persönlichkeiten oder politische Intelligenzen ganz gewiß nicht weniger durchschnittlich als ihre Vorgänger von der Linken. Aber wir glauben nicht, daß sie gerührt gewesen sind, als Vater Marx sie berief, um ihnen das Deutsche Reich ans Herz zu legen. Sie haben keine larmoyanten Sentenzen geprägt: sie haben sich auf ihren Ministerstuhl gesetzt ... und los!

Die Weltbühne. 19. April 1927


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