Carl von Ossietzky
Sämtliche Schriften – Band IV: 1927–1928
Carl von Ossietzky

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Lawrence

Im Oktober 1916 fand viele Meilen hinter dem arabischen Hafen Djidda am Roten Meer eine Begegnung zwischen einem Engländer und einem Araber statt, die weltgeschichtliche Folgen zeitigen sollte. Der Engländer schildert später den Araber als einen großen säulenhaft schlanken Mann in langen weißseidenen Gewändern – »... seine Lider waren gesenkt und das bleiche Gesicht mit dem schwarzen Bart wirkte wie eine Maske gegenüber der seltsamen regungslosen Wachheit seines Körpers. Die Hände hielt er vor sich über seinen Dolch gekreuzt.« Dann gehen beide in einen kleinen dämmrigen Raum, wo braune Männer sie ernst und schweigend anstarren. Der Araber eröffnet ein konventionelles Gespräch und fragt schließlich: »Und wie gefällt dir unsre Stellung im Wadi Safra?« – »Gut, aber sie ist weit von Damaskus«, antwortet der Fremde, und er notiert: »Das Wort war wie ein Schwert unter sie gefahren.«

Das scheint pittoresk genug und könnte sich ebenso zwischen dem großen Saladin und einem Boten des englischen Richard Coeur de Lion abgespielt haben. Aber es hat sich, wie gesagt, im Herbst 1916 zugetragen; der arabische Emir ist Faisal, der heutige König vom Irak, der Engländer ein Mr. T.E. Lawrence, der seine Erlebnisse in Arabien in einem sehr merkwürdigen Buch zusammengefaßt hat: »Aufstand in der Wüste«, das jetzt in deutscher Übersetzung bei Paul List in Leipzig erschienen ist. Und dieses Buch ist nicht nur eine einzigartige Geschichtsquelle, sondern auch eine ganz gewaltige Schreibleistung, die den Verfasser jenen seltenen Köpfen anreiht, die dieses schwer packbare, ungestalte Gewimmel repräsentieren dürfen, das man nach stiller Übereinkunft Menschheit nennt, weil ein parlamentarischer Ausdruck dafür noch nicht gefunden ist.

 

Jener Lawrence war achtundzwanzig Jahre alt, als er in der Wüste auftauchte und bis dahin einer jener verachteten intellektuellen Schlappiers gewesen, deren eingewurzelte Disziplinwidrigkeit den hohen Kommandostellen oft mehr Kopfschmerzen bereitet hat als ein wohlvorbereiteter feindlicher Frontalstoß. Lawrence, Student von Oxford, Archäologe und Orientalist, war für den Waffendienst untauglich befunden und ins Kriegsministerium gestopft worden, wo er sich durch Faulheit und Schnoddrigkeit unmöglich machte. Dann sielt er sich als akademisch gebildeter Schwejk zwei Jahre in den militärischen Kanzleien Kairos herum. Er ist sprachenkundig, und um ihn irgendwie zu verwenden oder auch für immer los zu werden, schickt man ihn nach Djidda, um über den Aufstand einiger Nomadenstämme gegen die Türken zu berichten. So kommt er zu Faisal, und hier wird der untaugliche Soldat etwa das, was der Genosse Borodin in Canton war: der Instrukteur einer nationalen Revolution. Wobei allerdings zu bezweifeln bleibt, ob der Genosse Borodin jemals, wie sein englischer Kollege, höchst persönlich Brücken in die Luft gesprengt hat.

 

Damaskus! »Das Wort war wie ein Schwert unter sie gefahren ...« Lawrence fand in Djidda eine höchst fragile Rebellion kleiner Wüstenkönige gegen die Türkenherrschaft vor. Im Herbst 1918 zieht die arabische Nationalarmee in Damaskus ein. Den Führern werden stürmische Ovationen bereitet, aber der lauteste Jubel gilt einem sonnenverbrannten Individuum in zerlumpter Beduinentracht, das »Urens« gerufen wird und niemand anders ist als Mr. T.E. Lawrence, der vor zwei Jahren im adretten Khakianzug in Arabien gelandet war. In diesen zwei Jahren hat der schlechte Soldat aus einer bis dahin wildwachsenden Erhebung ein wohlorganisiertes Unternehmen gemacht. Er hat das Wunder fertig gebracht, das keinem Sohn des Landes in Jahrhunderten geglückt war. Er hat aus Nomadenstämmen ohne jegliches Gemeinschaftsgefühl, die primitiv, tapfer und verlaust, in einem von Raubzügen und Blutrache ausgefüllten Dasein nicht anders als in den Tagen des Propheten dahinlebten, ein Volk gemacht, das für die Idee eines großarabischen Reiches glühte. Mit einer bizarren Leibgarde, inmitten der konfisziertesten Visagen Arabiens zieht er durch die Wüste von einem Scheikh zum andern, den einen mit guten Worten, den andern mit guten englischen Banknoten überzeugend. Er ist der Feldherr, der Staatsmann, der Propagandist, der Finanzier, der Marketender seiner schnell improvisierten braunen Armee. Der Aufstand Faisals war für die Türken zunächst wohl nur eine lokale Belästigung gewesen. Sorglos lassen sie die Flanke nach der Wüste zu offen, während sie Palästina gegen die Engländer verteidigen. Aber jetzt wird die tote Wüste lebendig. Zehntausende von einsam schweifenden Kamelreitern sammeln sich, stören die rückwärtigen Verbindungen der Türken, sprengen die Eisenbahnlinien, die Brücken – ein ungläubiger Hund, den niemand kennt, und auf dessen mysteriösen Kopf der türkische General eine abenteuerlich hohe Belohnung aussetzt, hat die Beduinen gelehrt mit Sprengstoffen umzugehen, Maschinengewehre zu bedienen und Deckung zu suchen, wenn ein Flugzeug erscheint, anstatt auf dem Platz zu bleiben und in die Hände zu klatschen, wenn die Bomben mitten unter ihnen krachen. Und diesem hellhäutigen Ungläubigen, der ihre Sprache fließend spricht, Mantel und Kopftuch trägt wie sie und bloßfüßig über Sand und Fels läuft, vertrauen sie, die sonst so mißtrauisch und abwehrend sind gegen Fremde und die trotz großen Bemühungen keiner der britischen Militärs und Propagandisten bisher an Englands Kriegswagen hatte binden können.

Die großen Feldherren der Weltgeschichte, hat Bernard Shaw einmal geschrieben, waren immer begabte Zivilisten.

 

Der Mann, der so Abenteuerliches erlebt und bewirkt hat, ist indessen gar kein Abenteurer, wie er im Buch steht. Er schreibt höchst leger und oft mit recht schlenkriger Geste. Wenn er todmüde nach endlosem Kamelritt in den Sand gesunken ist oder die türkischen Kugeln ihm um die Nase pfeiften, beginnt er zu meditieren: Was mich das alles eigentlich angeht? Am besten, ich fahre nach Kairo in die komfortable Etappe zurück, wo man sich waschen und rasieren kann, und lasse meine Vorgesetzten die Sache ausessen. – Dann wieder setzt er sich mit Hingebung für seine braunen Freunde ein. Er kämpft für sie mit der obstinaten, verständnislosen englischen Militärbureaukratie, er fährt mit der Generalität Schlitten, daß es eine Lust ist. Er, der Amateursoldat, schüttet blutigen Hohn aus über die richtigen Generale, die genau das tun, was sie auf der Kriegsakademie gelernt haben.

Aber dann kommt das Erlebnis, das ihm die zynisch-blasierte Attitüde verleidet. In den letzten Kapiteln wächst das Buch zu wirklicher Größe. Vor Damaskus trifft er wieder mit seinen Landsleuten zusammen – und sie sind ihm fremd geworden. Ja, alles an ihnen erscheint ihm fremd, komisch, widerwärtig: ihre Korrektheit, ihr Mangel an Phantasie, ihre Verständnislosigkeit für fremde Rassen, ihre Prätentionen, die Welt zu beherrschen, nur weil sie weißhäutig sind. Der politische Agent, der ahnungslosen Naturkindern im Interesse seines Vaterlandes mit der vagen Idee eines großarabischen Reiches den Kopf verkeilen sollte, wird plötzlich zum tragischen Don Quichotte – er glaubt an dies Arabien, das er erfunden, es ist seine Liebe geworden, und ihn quält bittere Reue, weil er große Hoffnungen vorgegaukelt hat, die das englische Reich keineswegs zu halten gewillt ist. Er rät Faisal, beizeiten und geordnet in die Stadt einzuziehen, keinen Anlaß zum Einschreiten zu geben und sofort eine provisorische Regierung zu bilden. Wenn die Engländer einmal da sind, gehen sie nicht mehr fort, bemerkt er verbissen. Und hier zweifelt der Leser kaum, daß er bei einem etwaigen Straßenkampf zwischen Engländern und Muselmännern auf Arabiens Seite stehen und fallen würde.

Unvergeßlich diese Schilderung der Nacht vor Damaskus. Wie er in zerlumpter Beduinentracht durch die englischen Biwaks geht. Er war in die Majestät der Wüste versunken, er hat in schlaflosen Nächten seine Seele an die Sterne des Morgenlandes verspielt, und hier ist Europa wieder, das Vaterland wieder mit seinen kleinen bösen Anmaßungen, seiner Uniformität, seiner Korrektheit. Er findet den Anschluß nicht mehr. Müde und traurig geht er zu seinen Nomaden zurück:

»Rings um die Biwaks der Soldaten lagerten die Araber in freien Schwärmen, ernst dreinblickende Männer einer andern Welt. Mein verschrobenes Pflichtgefühl hatte mich zwei Jahre lang in ihre Mitte verbannt. In dieser Nacht heute stand ich ihnen näher als den Truppen, und ich empfand das als einigermaßen beschämend. Dieser sich mir aufdrängende Kontrast, gemischt mit Heimweh, schärfte meine gereizten Sinne mehr denn je; ich sah nicht nur die Ungleichheit der Rasse, hörte die Ungleichheit der Sprache, sondern konnte auch ihre Gerüche unterscheiden – die schwere stickige, geronnene Säuerlichkeit verschwitzter Baumwolle über den arabischen Haufen, und den muffigen Brodem der englischen Soldaten: diesen warmen Pißdunst zusammengepferchter Männer in Wollkleidern, beißend und atemversetzend wie Ammoniak, einen scharfen, gärenden Naphthageruch. –«

(Sätze wie die, und es sind viele solche in dem Buch, haben nichts mehr mit Abenteuer, Krieg und Politik zu tun – sie sind ganz einfach große Literatur.)

Am andern Morgen wird von einem indischen Unteroffizier ein Weißer in arabischer Kleidung als suspekt aufgegriffen und erst auf Intervention freigelassen.

 

Er hat die londoner Politik richtig eingeschätzt, Arabien wurde zwar der türkischen Despotie ledig aber zugleich in eine Anzahl von kleinen Reichen und Mandatsgebieten zerstückelt. Verbittert zog sich Lawrence aus der Politik zurück. Mit achtundzwanzig Jahren hat er sie als Emissär und Spion betreten und mit dreißig Jahren als leidenschaftlicher Anwalt der Freiheit und des Selbstbestimmungsrechtes farbiger Menschen verlassen. Heute wissen wir, daß das koloniale Zeitalter zu Ende geht und der alte Imperialismus selbst ein hippokratisches Gesicht trägt, und wir sehen mit Erschütterung, wie diese Erkenntnis schon das Bewußtsein eines jungen Mannes zerrissen hat, dessen historische Aufgabe es gewesen ist, unter der unschuldigen Sonne Arabiens alle Furien des europäischen Krieges zu entfesseln.

Die Weltbühne, 15. November 1927


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