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50.

Des alten Seemanns Heimkehr.

»Neufelde, aussteigen!« wandte sich der Schaffner ganz besonders an einen Mann, welcher im Coupé zweiter Klasse saß.

»Das hier soll Neufelde sein? Nicht möglich!« entgegnete erstaunt eine Baßstimme.

»Zeigen Sie Ihr Billett. Ja, bis Neufelde. Wollten Sie weiter?«

»Nein, aber das ist doch nicht Neufelde!«

»Steigen Sie aus, steigen Sie aus!« drängte der Schaffner. »Der Zug setzt sich schon wieder in Bewegung. Hier ist Ihr Schirm.«

Er schob den Mann aus dem Coupé, ein Pfiff, und der Zug brauste davon.

Als wäre er ein Kind, das auf der Reise die Eltern verloren, so stand der vollbärtige, hünenhafte Mann mit dem braunen Gesicht auf dem von vielen Lichtern erhellten Perron und schaute verwundert um sich. Die ausgestiegenen Passagiere stießen ihn, Kofferträger schoben ihn zur Seite, und ein Postkarren fuhr ihm fast über die Füße, aber noch immer stand der Mann da und schaute sich in der großen Bahnhalle um.

Dann schüttelte er den grauhaarigen Kopf.

»Nein, da bin ich einen falschen Kurs gesegelt,« murmelte er. »Wenn das Neufelde ist, dann will ich noch heute nacht selig werden.«

Der Bahnvorsteher hatte den einsamen Mann beobachtet, die letzten Worte vernommen und trat jetzt auf ihn zu.

»Wohin wollen Sie?«

»Nach Neufelde.«

»Dies ist der Bahnhof von Neufelde.«

»Sie wollen mich wohl foppen?«

»Dies ist Neufelde,« lächelte der joviale Beamte, der mit beschränkten Leuten oftmals ähnliche Szenen erlebte.

»Giebt es denn zwei Neufelde?«

»Nein, dies wird schon das richtige sein. Warum glauben Sie, daß Sie an einem falschen Orte sind?«

»Weil Neufelde ganz anders getakelt ist.«

»Sie sind Seemann?«

»Ja.«

»Kennen Sie Neufelde von früher?«

»Es ist mein Heimatsort.«

»Seit wann haben Sie ihn nicht wiedergesehen?«

»Nun, so ein Stücker 25 Jahre mögen wohl darüber vergangen sein.«

»Ja, dann läßt sich das wohl erklären,« lachte der Stationsvorsteher. »Damals war Neufelde noch ein Dorf.«

»Freilich, ein richtiges Kuhdorf.«

»Nun aber ist es eine ganz beträchtliche Stadt.«

»Donnerwetter, wie ist denn das so schnell gekommen? Habe auch manche Städte fix aus dem Boden aufschießen sehen, aber doch nicht in Deutschland.«

»Das macht das Wasser.«

Der Beamte wurde abgerufen.

»Das Wasser, das Wasser?« murmelte der Seemann. »Da werde ein anderer klug daraus.«

Er wandte sich dem Ausgange zu, ohne sein Gepäck zu fordern, und als er den freien Platz betrat, schimmerten ihm zahllose Lichter entgegen – die Gasflammen einer ansehnlichen Stadt.

Der Mann stützte sich auf seinen Regenschirm – Seeleute tragen merkwürdigerweise an Land meist Regenschirme, um zu erklären, warum, müßte man eine ganze Geschichte schreiben – und blickte auf das Getriebe der vom Abenddunkel bedeckten Stadt.

»Gott bewahre mich, das soll Neufelde sein! Und das Wasser hat diese Veränderung bewirkt? Mir unbegreiflich. Was für Wasser? Regenwasser? Salzwasser? Oder vielleicht gebranntes Wasser, welches man auch Schnaps nennt? Früher ein Dorf, dessen Hütten und Häuser man von hier oben aus zählen konnte, und jetzt eine Stadt, und was für eine Stadt! Diese Häuser sind ja die reinen Paläste, die alten Hütten scheinen gar nicht mehr vorhanden zu sein. Dort, wo das mächtige Gebäude steht, lag die Mühle, der Fluß fließt noch, aber seine Ufer sind gemauert, eine schöne Brücke führt darüber. Dort, wo der große Eichbaum ist, war früher ein Teich, jetzt ein Platz mit Anlagen, und dort hinten, dort hinten, wohin ich nicht mehr sehen kann, ja, dort, dort – ach!«

Seufzend fuhr der Mann mit der schwieligen Hand über die Augen, Tränen rollten über die gebräunten Wangen.

Er wurde bald aus seinen Träumen geweckt.

»Droschke gefällig, mein Herr – Gepäck zu tragen – Fremdenführer – Hotelwagen?«

Der Mann sah auf, er war von Schreiern umringt, die ihn für einen Fremden hielten. Und er war ja auch jetzt ein solcher, obgleich er in seiner Heimat weilte.

»Hotelwagen?«

»Hier, hier – Hotel zur goldenen Sonne – Hotel zum weißen Hirsch – Hotel zu den vier Jahreszeiten,« erscholl es durcheinander.

»Wo ist der Wagen für das Hotel zur blauen Nase?«

Keine Antwort, überall grinsende Gesichter.

»Nun, wer fährt zur blauen Nase?«

»Der ist noch aus dem vorigen Jahrhundert,« murmelte ein alter Kerl in Dienstmannskleidung und trat vor.

»Ich bringe Sie in die blaue Nase.«

»Wo ist Euer Wagen?«

»Ich habe keinen, ich bin Dienstmann.«

»Wollt Ihr mich in die blaue Nase bringen?«

»Ja, ich kenne sie. Wo ist Ihr Gepäck?«

»Das bleibt liegen.«

»Ich will es holen.«

»Brauche es nicht.«

»Geben Sie mir etwas zu verdienen.«

»Dann tragt meinen Regenschirm. So. Und Ihr kennt die blaue Nase?«

»Natürlich, ich führe Sie; folgen Sie mir nur!«

Die beiden marschierten ab, die Zurückbleibenden sahen ihnen spöttisch nach.

»Reingefallen; Hotel zur blauen Nase gibt es gar nicht. Wäre übrigens ein guter Name für eine Destillation.«

Der Fremde schritt langsam durch die hellerleuchteten Straßen. Er bewunderte nicht die prächtigen Schaufenster, nicht die palastähnlichen Villen, dagegen konnte er manchmal lange sinnend vor irgend einem unansehnlichen Häuschen stehen, welches bald einzufallen schien.

Dann wendete er sich stets an seinen Begleiter mit einer Frage:

»Wohnt hier der Bäckermeister Fritsch?«

»Nein, der ist schon lange tot. Das Haus wird nächstens abgerissen werden.«

Oder:

»Hier war früher eine Schmiede.«

»Ja, jetzt ist's die Niederlage eines Kaufmanns. Wird auch bald abgebrochen werden.«

Der Fremde seufzte und schritt weiter. Der Führer wurde gesprächiger.

»Sie sind hier geboren?«

»Nein,« war die kurze Antwort des Mannes, der jetzt anders sprach als vorhin.

»Sie sind aber einmal hier gewesen?«

»Ja.«

»Das ist gewiß schon lange her?«

»Ja.«

»Wie lange wohl?«

»Ich weiß nicht.«

Der Fremde schritt träumend weiter. Der Dienstmann fragte nicht mehr, musterte den Fremden aber oft verstohlen von der Seite.

Dann hielt er vor einem prächtigen, glänzend erleuchteten Hause, vor dem Türhüter standen.

»Das ist das Hotel zur blauen Nase.«

Der Fremde blickte verwundert auf und fuhr dann den Begleiter ärgerlich an.

»Ihr wollt mich wohl aufziehen? Da steht ja groß: ›Hotel zum deutschen Reich‹. Das Gasthaus zur blauen Nase war nur ein erbärmliches Häuschen, das immer einzufallen drohte. Mir ist einmal die ganze Stubendecke auf den Kopf gefallen, als sie oben tanzten.«

»Darum ist es auch weggerissen worden. An diesem Platze, wo jetzt das Hotel steht, stand einst das Gasthaus zur blauen Nase. 18 Jahre ist das nun her.«

Der Fremde besah das Haus, die erleuchteten, mit Gardinen geschmückten Fenster, die großen Laternen, die Portiers und Kellner, die ein- und ausgehenden Gäste, die vor dem Tore haltenden Equipagen, dann blickte er um sich, er musterte den Platz mit den Springbrunnen und Anlagen, die umliegenden Häuser und lüftete dann die Schiffermütze.

»Das Gasthaus zur blauen Nase, es stimmt,« sagte er mit einem Anfluge von Feierlichkeit. »Kommt, Maat, wir wollen prüfen, ob wenigstens das Bier dasselbe geblieben ist, oder ob es unter der Dekoration gelitten hat.«

Der Packträger zögerte, der Fremde wollte ihn in die Restauration ziehen.

»Das ist nichts für uns.«

»Nichts für uns?« herrschte ihn der Fremde förmlich an. »Bei Gottes Tod, den möchte ich sehen, der mir hier den Eintritt verweigern will, weil ich keine Handschuhe trage.«

Sie traten ein.

Die dem Eingange Zunächstsitzenden blickten auf, als die beiden den eleganten Salon betraten und an einem Marmortische Platz nahmen. Sie paßten auch wirklich schlecht unter die geputzten Herren und Damen, der Seemann in seinem einfachen, blauen Anzuge, der Dienstmann in seiner abgeschabten Uniform.

Die Kellner zischelten. Keiner wollte das Paar bedienen, aber man durfte ihnen den Aufenthalt nicht verwehren, so lange sie sich anständig benahmen.

Der Seemann rief einen Kellner und bestellte zwei Glas Bier. Der Kellner hielt nicht für nötig, erst zu fragen, was für eine Sorte. Während er es holte, musterte der Seemann den Saal, die Marmortische, die Gesellschaft, die Bilder an den Wänden und das mit Delikatessen besetzte Büffet.

Wieder seufzte er tief auf, schüttelte dann lächelnd den Kopf und griff nach dem vollen Glase.

»Prost, Freund. Wir wollen sehen, ob dieses Bier noch so gut ist, wie seinerzeit in der blauen Nase. Hm,« er wischte sich den Mund, »es war damals süffiger.«

»Kannten Sie das Gasthaus zur blauen Nase?« fragte bescheiden der Packträger, der sich hier unbehaglich fühlte.

»Hoho, und ob ich es kannte. Ich war nahe daran, mir in ihm eine blaue Nase zu holen, und auf seinem Tanzboden habe ich manches Paar Sohlen abgetanzt.«

»Ja, damals waren schöne Zeiten.«

»Wie lange seid Ihr hier?«

»Ich bin hier geboren.«

»Wie heißt Ihr?«

»Gustav Eichert. Ich war früher Fährmann, seitdem die Brücken gebaut sind, ist es damit natürlich aus. Jetzt bin ich ein erbärmlicher Packträger.«

Ueber das verwitterte Gesicht des Seemanns zuckte es wie Freudenschimmer, doch er beherrschte sich.

»Dann könnt Ihr mir auch erzählen, wie das gekommen ist, daß Neufelde so schnell groß geworden ist.«

»Das Wasser ...«

»Potz Tausend, was ist das nur für ein Wasser, das diese Eigenschaft besitzt?«

»Neufelde ist ein Kurort.«

»Was für ein Ort?«

»Ein Badeort.«

»In anderen Städten badet man sich auch.«

»Aber das Wasser hier besitzt eine heilkräftige Wirkung, man badet sich darin und trinkt es.«

»So.«

»Vor etwa zwanzig Jahren fand man, daß die Brunnen von Neufelde sehr eisenhaltig sind und auch noch anderes Zeug enthalten, Magnesium und, Gott weiß, wie das alles heißt. Gleich kamen von allen Seiten Kranke herbeigeeilt, Dicke, Magere, Bleichsüchtige Schiefe, Krumme, Lahme, Bucklige und so weiter, um das Wasser zu trinken.«

»Und davon gesund zu werden,« lachte der Seemann.

»Ja, weil das Wasser Eisen und Magnesium enthält.«

»Hopfen und Malz sind mir lieber darin.«

Der Seemann trank aus und bestellte neues Bier. Sein anfangs düsteres, schwermütiges Gesicht hatte sich aufgeheitert.

»Die Kranken müssen ordentlich bezahlen,« fuhr der Packträger fort, »daher wurden die hiesigen Einwohner wohlhabend; es entstanden Hotels, Villen, Kurhäuser und so weiter, aus dem Dorfe wurde eine Stadt, die mit Blitzesschnelle wuchs.«

»Ich kenne das, in den Goldminen kann man noch etwas anderes erleben. Aber mein Neufelde – nein.«

»Sie waren ehedem hier gut bekannt?«

»O ja – stehen denn gar keine alten Häuser mehr?«

»Einige doch. Sie erkannten diese ja selbst.«

»Und die Bewohner?«

»Sie sind gestorben, ihre Kinder sind jetzt reich, sie kennen unsereins nicht mehr. Ich bin der letzte vom alten Schlag.«

»Steht die alte Kirche noch?«

»Die ist abgebrannt, jetzt ist dort ein Tanzsalon. Aber neue Kirchen ...«

»Das ist mir gleichgültig. Und die Schule?«

»Das ist jetzt ein mächtiges Ding geworden.«

»Ging man daran vorüber, die Landstraße weiter, so kam man an einigen Häusern vorbei.«

»Ja, die Landstraße ist erhalten geblieben, sie liegt noch außerhalb der Stadt, und auch die Häuser stehen noch dort.«

»Sie stehen noch dort?« rief der Seemann und fuhr fast vom Stuhle auf.

»Natürlich sind es neue, schöne, nicht mehr die Meiereien. Jetzt sind es feine Villen, hinten daran Gärten.«

»Ach so,« murmelte der Seemann und sank zurück, »Wie hieß doch gleich der Besitzer des ersten Hofes?«

»Schröder.«

»Und der zweite?«

»Bergmann.«

»Und was für eine Haus kam dann?«

Es klang eine so große Spannung aus den Fragen des Seemanns, er hatte sich über den Tisch gebeugt, seine Augen hingen am Munde des Packträgers. Diesem fiel das Benehmen seines Gegenübers nicht auf, er beschäftigte sich mit der ihm geschenkten Zigarre.

»Und was für ein Haus kam dann?«

»Dann hörten die Häuser auf. Das ist ein vortreffliches Kraut, wo haben Sie die gekauft?«

»In Havanna. Doch, dann kam noch ein Haus.«

»Daß ich nicht wüßte.«

»Besinnt Euch, es war ein ganz kleines.«

»Ach so, richtig. Einige hundert Schritte weiter, da, wo der Teich war und noch jetzt ist, stand eine Hütte.«

»Ja, ja,« hauchte der Seemann.

»Es war ein ganz elendes Ding.«

»Ja. Wer wohnte darin?«

Jetzt wurde der Mann aufmerksam, er fixierte den neugierigen Frager.

»Der Schäfer des Dorfes, Thomas Vollmer,« entgegnete er dann, »er stand in keinem besonderen Rufe und braute Salben und Mixturen. Man wich ihm immer aus, aber nachts wurde er doch viel besucht. Er sollte alle möglichen Krankheiten heilen, die Zukunft wahrsagen, Hexen vertreiben und so weiter können, wenn aber eine Kuh schlechte Milch gab, so war er auch wieder daran schuld. Der arme Mann hat viel an Verfolgungen zu leiden gehabt.«

Der Sprecher blickte nachdenklich den Rauchwölkchen seiner Zigarre nach.

»Besaß er nicht eine Tochter?« fragte nach langer Pause der Seemann mit gedrückter Stimme.

»Die Susanne? Das war ein bildschönes Mädchen, mit goldenen Zöpfen, die ihr fast bis auf die Erde hingen. Das arme Kind! Sie besaß kaum die notdürftigste Kleidung, nicht einmal Strümpfe und Schuhe, denn der Vater war geizig. Deshalb ging sie nie zur Kirche, sie schämte sich, aber die Leute verschrieen sie darum als ein Hexe. Alltags und Sonntags hütete sie am Teiche neben ihrer Hütte die Dorfgänse. Sie wurde gemieden von jedermann, obgleich sich mancher junge Bursche gern mit dem goldhaarigen Mädchen eingelassen hätte. Doch die Weiber des Dorfes machten es unmöglich. Susanne wurde in den Bann getan, nicht weil sie eine Hexe, weil sie arm, sondern weil sie schöner als alle übrigen Mädchen war. Dies konnte die Eifersucht nicht ertragen.«

Der Seemann seufzte tief auf.

»Nur einer machte eine Ausnahme,« fuhr der Erzähler fort, »das war ein hiesiger, junger Bursche, der zur See fuhr.«

»Wie hieß der?«

»Karl Hübner. Ein großer, baumstarker Kerl, wild wie der Teufel, dann wieder sanft wie ein Kind. Der vernarrte sich in die Susanne, allem Geschrei zum Trotz. Eine Zeitlang hielten die beiden ihre Liebschaft geheim, bis Hübner offen damit herauskam. Hier, im Gasthaus zur blauen Nase war es, wo Hübner die Susanne als seine Braut erklärte. Erst rissen die Burschen die Mäuler auf, dann, angestachelt von ihren Mädchen, wurden spöttische Worte laut, aber diese verstummten gar schnell, denn Hübner – ich sehe ihn noch vor mir – zog seinen Rock aus, stellte sich mitten in den Saal und forderte jeden auf, dem seine Verlobung nicht passe oder sie lächerlich finde, zu ihm zu kommen. Gleich darauf flog der Sohn des protzigen Schulzen mit einem kräftigen Schwunge durchs Fenster, und seitdem hatten die beiden Ruhe.«

Der Packträger stärkte sich mit einem Schluck und sah dabei den Seemann eigentümlich an.

»Wenn Sie 25 Jahre jünger wären, ich glaube, Sie müßten Karl Hübner, so wie ich ihn damals kannte, sehr ähnlich sehen. Sie haben ganz genau dieselbe Figur, dieselben Augen, denselben Mund.«

Der Seemann wich dem Blicke aus und schüttelte abwehrend den Kopf.

»Ich kenne ihn nicht.«

»Nun ja, Hübner war auch etwas schlanker, als Sie, sein Gesicht war voller und freundlicher.«

»Heirateten sich beide?«

»Nein. Hübner ging zur See, um seine letzte Reise zu machen. Während seiner Abwesenheit wurde hier die Heilkraft des Wassers entdeckt, Kranke kamen, darunter auch ein steinreicher, alter Herr, der zur Gesellschaft seinen Sohn mitbrachte. Dieser sah Susanne und war sofort bis über die Ohren in sie verliebt. Der alte Herr starb hier, der junge heiratete Susanne.«

»Obgleich sie mit Hübner verlobt war?«

»Denken Sie nicht schlecht von dem Mädchen. Es ist ihr hart zugesetzt worden. Ihr geiziger Vater hat sie bis aufs Blut gepeinigt, endlich, bis zum Tode erschöpft, gab sie nach – sie heiratete den Herrn.«

»Und Hübner?«

»Der kam bald nach der Hochzeit, als sich beide jungen Eheleute gerade hier befanden. Er schritt stumm vorüber mit dem Gesicht eines Toten, Susanne wurde ohnmächtig nach Hause getragen, nur durch ein Wunder blieb sie dem Leben erhalten. Doch besser war's, sie wäre gleich gestorben.«

»Warum?« fragte der Seemann schweratmend. Er hatte die Hand aufs Herz gelegt und die Lippen fest aufeinandergepreßt.

»Ihr Mann war ein Spieler, ein Trinker, und das schlimmste für Susanne, ein brutaler Geselle. Nach fünf Jahren war's alle, er hängte sich. Für Susanne blieb kein roter Pfennig übrig, sie wurde aus dem verschuldeten Hause gejagt und soll dann bald darauf, wie ich erfahren habe, im Armenhospital einer fernen Stadt gestorben sein. Die arme Susanne!«

Eine lange, lange Pause trat ein, der Seemann saß da, die erloschene Zigarre zwischen den Fingern, und blickte starr ins Weite.

»Steht die Hütte noch?« fragte er dann leise.

»Wie sollte sie? Die würde sich komisch zwischen den eleganten Häusern ausnehmen. Sie müssen wissen, die frühere Chaussee ist eine Straße geworden, mit Häusern an beiden Seiten, und zieht sich weit, weit hinaus. Es ist das feinste Viertel von Neufelde, nur reiche Leute haben dort ihre Sommerwohnungen.«

»So ist ein anderes Haus dort gebaut worden?«

»Ja, es ist erst seit kurzem fertig. Den bis vor einem halben Jahre leerstehenden Bauplatz wollte niemand kaufen, und daran war der kleine Teich schuld, der nicht trocken gelegt werden konnte. Die Quelle brach immer wieder durch. Da Sie hier bekannt sind, wissen Sie ja auch, wie dort die Verhältnisse sind. Alles knorrige Bäume mit beindicken Wurzeln, starkes Unterholz, Schilf und so weiter, kurz und gut, ehe man dort einen Garten schaffen könnte, wäre eine Heidenarbeit nötig, der Teich ist im Wege, und da hier jeder unbedingt einen hübschen Garten haben will, so blieb der Bauplatz liegen.«

»Und wie ist das jetzt?«

»Ja, das ist eine eigentümliche Sache. Vor einem halben Jahre begann man mit dem Bau eines Hauses, es wurde wunderschön, eine Villa, wie es hier keine zweite gibt. Wie man dann erfuhr, war der Entwurf dazu auf ein Preisausschreiben eingegangen, und der Baumeister ist wohl aus der Schweiz extra dazu herübergekommen. Jetzt ist die Villa fertig, sie wird sogar schon bewohnt, aber von einem Garten ist keine Spur zu sehen. Alles ist noch ganz genau so geblieben, wie es früher war; der mit den Linsen bedeckte Teich, darum das Schilf, das Stückchen Wald, das Unterholz, das Heidekraut, alles, alles ist stehen gelassen worden, kein Ast durfte abgeschnitten werden, und noch jetzt betritt kein Gärtner dieses Stückchen Land. Es ist eine vollkommene Wildnis.«

Des Seemanns Augen leuchteten auf, das eben Gehörte schien ihm zu gefallen.

»Wer wohnt darin?«

»Eine ganze Familie. Dabei ist übrigens auch etwas Merkwürdiges.«

»Wieso?«

»Vor kaum vierzehn Tagen kamen sie an, ohne jede Einrichtung, sie kauften alles erst hier ganz neu. Nun müßte man doch glauben, das wären reiche, vornehme Leute, aber dem Aussehen nach sind sie's nicht. Ein alter Mann mit harten Arbeitshänden, ein junger Mann, ganz braun gebrannt, dann zwei alte Weiber und einige Kinder, die gar keinen feinen Eindruck machen. Die beste davon scheint noch die Frau des jungen Mannes zu sein, ein sehr schönes Weib, das nächstens ins Kindbett kommen wird. Ich glaube, die jungen Leute sind gar keine Deutschen, sie sprechen eine andere Sprache, wenigstens manchmal.«

»Was für eine?«

»Ja, Herr, das kann ich wirklich nicht verraten. Nur so viel habe ich wegbekommen, daß sie statt nein manchmal no sagen.«

»Dann sprechen sie Englisch oder Italienisch. Wie sehen sie aus?«

»Sehr braun.«

»Auch die Dame?«

»Ja.«

»So sind es Italiener.«

Nach einer Pause begann der vertraulicher gewordene Dienstmann das Gespräch wieder:

»Sie wollen hier Kurbäder benutzen?«

»Ich? Unsinn!«

»Nur einmal sich die alten Plätze besehen? Nicht?«

»Ja, hm. Kennt Ihr hier eine Witwe Müller?«

»Wohnt sie hier, oder ist sie nur ein Kurgast?«

»Weiß ich nicht.«

»Es gibt hier sehr viele Müllers. Wenn Sie mir irgend einen Anhalt geben, so kann ich ja Nachforschungen anstellen.«

»Ist nicht nötig, morgen werde ich es auf dem Gericht erfahren.«

»Auf dem Gericht?«

»Ja; diese Müller ist eine Tante von mir und hat mich zum Erben eingesetzt. Sonst wäre ich wohl nicht wieder nach Neufelde gekommen.«

»Aha, eine reiche Tante!«

»Nun, sie hat mir ein ganz nettes Sümmchen vermacht.«

Der Seemann bezahlte, sein Gegenüber sah einen von Gold strotzenden Beutel. Dieser Mann war also wohlhabend, und nun machte er auch noch eine reiche Erbschaft!

»Wie heißt die Straße jetzt, wo früher die Hütte stand?« fragte der Seemann.

»Sie hat einen ganz vertrackten Namen bekommen, ich glaube, es ist Französisch.«

»Wie denn?«

»Er klingt ungefähr wie – wie – Affenvieh.«

»Affenvieh,« lachte der Fremde, »das ist ja seltsam. Ach so, wohl Avenue?«

»Richtig – Avenue.«

»Ihr könnt mir den Weg nach dort zeigen, ich finde mich in dem Straßengewirr doch nicht mehr zurecht. Es hat sich alles zu sehr verändert, und zu fragen liebe ich nicht.«

Die beiden verließen das Lokal. Nach Passieren einiger Straßen bemerkte der Packträger, daß der Seemann keinen Regenschirm bei sich hatte.

»Sie haben Ihren Regenschirm stehen lassen,« rief er erschrocken.

»So, habe ich ihn? Dann ist es ungefähr der zehnte bis zwölfte, den ich stehen gelassen, seitdem ich am Lande bin.«

»Ich will ihn holen.«

»Unsinn, die Kellner wollen auch eine Freude haben.«

»Aber der schöne Schirm!«

»Ich kaufe mir einfach einen anderen, die Läden sind ja noch offen.«

Der Seemann wurde wieder schweigsam, er versank in tiefes Nachdenken.

»Hier ist die Avenue,« sagte der Dienstmann.

Eine mit Bäumen bepflanzte Häuserstraße zog sich vor ihnen entlang.

»Ach, das sind noch die alten Bäume!«

»Sie sind stehen geblieben. Soll ich Sie nach der Villa führen?«

»Nein, ich finde die Hütte – das Haus jetzt allein.«

»Es ist Nummer –«

»Schon gut. Hier Euren Lohn! Gute Nacht, Gustav Eichert.«

Der Seemann ging mit gesenktem Kopfe weiter, der andere sah ihm lange nach.

»Und ich kann doch schwören, daß es Karl Hübner ist,« murmelte er, ehe er den Rückweg antrat. »Der Mann hat in der Welt sein Glück gemacht – und doch, er ist zu bedauern. Ich möchte nicht in seiner Haut stecken.«

Der Schiffer schritt weiter, er beachtete nicht die Häuser links und rechts, er sah nicht auf die von den Gaslaternen beschienenen Nummern, er wußte sein Ziel, auch ohne sie zu beachten.

Bald stand er vor einem zierlichen, in schweizerischem Stile erbauten, wunderschönen Häuschen! In der Mitte die Haustür, rechts ein Gittertor, durch welches man die Bäume stehen sehen konnte, welche den ganzen hinteren Teil des Platzes bedeckten. Die übrigen Häuser besaßen wohlgepflegte Gärten, hier schien alles wild zu sein.

Die Vorhänge vor den Fenstern waren zugezogen. Kein Licht, kein Laut verriet die Anwesenheit von Bewohnern, nur die Bäume rauschten.

Mit gekreuzten Armen und trüben Augen stand der Seemann vor der Villa.

»Die Hütte ist verschwunden, Susanne ist tot. Auf Erden geht alles zugrunde, aber aus dem Schutt, aus den sterblichen Resten, soll es in Herrlichkeit wieder auferstehen. ›Behalte mich in gutem Andenken, bis wir uns wiedersehen!‹ So schriebst du mir vor zwanzig Jahren von deinem Sterbebett. Ach, wann endlich wird diese Zeit kommen? Bald? Möchte sie kommen! Dann, Susanne, dann werden wir uns wiedersehen, und du weißt es, ich bin dir treu geblieben, wir werden uns dort vereinigen, wo es keine Trennung mehr gibt.«

Er sah sich um. Alles war still, kein Passant, kein Wächter kam vorüber. Die Leute waren in der Stadt.

Schnell trat er an das Gittertor, es war hoch, und die Stäbe waren spitz, doch ein Seemann ist ein Turner von Profession. Wie ein in dergleichen Dingen gewandter Schulbube schwang sich der alte Mann in die Höhe und stand im Nu drüben.

Leise durchschritt er das Unterholz, welches hier ganz wild wuchs, er erreichte die Bäume.

Jetzt entdeckte er, daß die Bewohner des Hauses doch noch munter waren; an der Hinterfront war im Parterre ein Zimmer erleuchtet, die Fenster standen offen.

Doch der Seemann kümmerte sich nicht darum, es war ihm auch gleichgültig, wenn man ihn als Eindringling fände. Seine Gedanken beschäftigten sich nur mit diesem grünen Platze, jeder Baum, jeder Busch erweckte Erinnerungen.

Ein mit Blattlinsen bedeckter Teich lag vor ihm; dichtes Schilf umrahmte ihn, an einer Seite stand ein Entenhäuschen – gerade so hatte alles vor fünfundzwanzig Jahren ausgesehen.

Es war eine wunderschöne Sommernacht, Am Himmel funkelte Stern an Stern, die Luft war warm und still. Nur die Blätter rauschten leise. Ab und zu quakte ein Frosch.

In der Villa wurden jetzt auf einem Klavier harmonische Akkorde angeschlagen.

Der große, starke, alte Mann lag in dem Schilfe, das Gesicht in beide Hände gelegt, und weinte und schluchzte wie ein Kind.

Gerade solch eine Nacht wie diese war es gewesen, im Sommer vor fünfundzwanzig Jahren, da war er mit Susanne zum ersten Male nicht zufällig zusammengekommen, eben hier am Teiche, sie hatte ihm ein Stelldichein erlaubt, da hatte er sie zum ersten Male in seine Arme geschlossen und ihr ins Ohr geflüstert, wie sehr er sie liebe, da hatten sie sich zum ersten Male geküßt, da hatte das arme, barfüßige Mädchen den armen Matrosen zum reichsten Menschen auf Gottes Erde gemacht, da –

»Aus der Jugendzeit, aus der Jugendzeit
Klingt ein Lied mir immerdar;
O wie liegt so weit, o wie liegt so weit,
Was mein, was mein einst war!«

drang eine jugendliche, süße Frauenstimme aus dem Hause ans Ohr des im Schilfe Liegenden.

Neue Tränen entstürzten seinen Augen. Wie gut paßte das Lied für ihn!

»Was mein, was mein einst war,« jammerte er leise.

Die Frauenstimme sang weiter, das wunderschöne, Rückertsche Lied mit der herzergreifenden Melodie.

»Was die Schwalbe sang, was die Schwalbe sang.«

Der Weinende hob den Kopf. Himmel, diese Stimme! Sie sang Deutsch, ein reines Deutsch, aber mit einem fremdländischen Akzent. Woher kannte er diese Stimme? Es sind ja Italiener – nein, sie sind es nicht. Diese Stimme!

Wie ein Magnet zog ihn das erleuchtete Fenster an, vorsichtig schlich er sich näher, und hell erklang es:

»O du Heimatflur, o du Heimatflur,
Laß zu deinem heil'gen Raum
Mich noch einmal nur, mich noch einmal nur
Entflieh'n im Traum!«

Der Seemann war in der Heimat, er träumte auch, aber von etwas anderem. Er war auf dem Meere, auf dem Schiffe und hörte diese Stimme von der Kommandobrücke herab ihm Befehle zurufen.

Unter dem Fenster stand eine Bank, wenn er hinaufstieg, konnte er ins Zimmer sehen – eine geheime Gewalt trieb ihn, es zu tun, und wenn es ihn das Leben kostete.

»Als ich Abschied nahm, als ich Abschied nahm,
War die Welt mir voll zu sehr;
Als ich wiederkam, als ich wiederkam,
War alles leer.«

Ein paar blaue, scharfe Augen blickten starr ins Zimmer, aber noch niemand bemerkte den Eindringling. An dem großen Tische saß ein junger Mann mit dunkelbraunem Gesicht und setzte eben das Modell eines Segelschiffes zusammen, hier und da noch etwas schnitzend oder knüpfend. Einige Kinder blickten freudestrahlend auf das Kunstwerk, das unter seiner Hand entstand, während ein alter Mann mit andächtig gefalteten Händen auf den jungen Künstler sah. Daneben saßen zwei alte Frauen, von denen die eine, mit prächtigem, schneeweißem Haar, die Hände vor das Gesicht hielt und weinte.

Am Klavier saß eine junge, schöne Frau, sang und spielte, hörte aber jetzt auf den Zuruf des jüngeren Mannes plötzlich auf.

»Singe nicht weiter, ich bitte dich!« sagte er, einen Blick auf die weinende Frau werfend. »Das Lied greift sie zu sehr an. Mach' wieder gut, was du angerichtet hast!«

Die junge Frau sprang auf und eilte zu der Alten, sie mit einem Arme umschlingend.

»O, das wollte ich nicht,« rief sie bedauernd. »Warum bist du so traurig? Du hast doch allen Grund, gerade jetzt fröhlich zu sein.«

Der Eindringling sah jetzt die Sängerin. Bei ihrem Anblicke hatte es in den Augen des jungen Mannes wunderbar aufgeblitzt, aber er beachtete sie jetzt nicht mehr, seine Blicke hingen vielmehr wie gebannt an der alten Frau mit den weißen Haaren.

»Er wird kommen, sicherlich,« fuhr die junge Frau fort.

»Natürlich kommt er, das ist doch so klar wie Kloßbrühe,« sagte der Mann. »Morgen früh gehe ich gleich wieder aufs Gericht und frage nach ihm. Herrgott, das soll aber ein Fest geben!«

»Zu morgen haben sich ja auch Freiherr von Schwarzburg, mein einstiger Nebenbuhler, und Eugenie angemeldet. Kinder, dann wollen wir einmal alle Minen springen lassen; das Schiffchen soll hinten auf dem Ententeiche seine erste Reise machen und auf den Namen ›Hoffnung‹ getauft werden. Mutterchen, besieh's dir doch einmal.«

Die weinende Frau entfernte die Hände von den Augen, es war ein runzliges, aber noch immer hübsches Gesicht, das einst sehr schön gewesen sein mußte.

»Ob wohl Karl ...«

Sie kam nicht weiter, alles sprang erschrocken auf.

Durch das Fenster war eine Gestalt hereingesprungen, lag vor den Füßen der Alten und hielt sie umschlungen.

Durch das Fenster war eine Gestalt gesprungen, lag vor den Füßen der Alten und hielt sie umschlungen.

»Susanne!«

»Karl!«

Das war ein Wiedersehen nach fünfundzwanzig Jahren, aber nicht im Himmel, sondern noch auf Erden!

Die Ruhe war wiederhergestellt, der erste Schrecken hatte sich gelegt. Der Bootsmann achtete nur wenig auf die ihn Umdrängenden, auf Hannes Vogel, seinen Kapitän, auf Hope, auf die neugierigen Geschwister, er hielt die einstige Geliebte im Arm und tat, als träfe er sie noch als junges, schönes Mädchen. Er hatte keine Ohren für Fragen, er hörte nur auf Susanne, die ihre Leidensgeschichte erzählte, und die übrigen schwiegen bald.

Susanne war nicht gestorben, sie hatte sich wieder erholt, und nun begann für sie ein mühseliges Dasein, welches völlig freudenlos gewesen wäre, wenn sie nicht auf den einstigen Geliebten gewartet hätte. Auch diese Hoffnung schwand, Karls Schiff ging in der spanischen See unter, er blieb seitdem verschollen, war tot.

Sie schleppte sich mit ihrer Hände Arbeit durch ein Leben voller Dornen. Keine Rose stand mehr an ihrem Wege, doch ein gefühlvolles Herz, und noch dazu ein Frauenherz, kann auch auf dem undankbarsten Boden Rosen ziehen, an denen es sich ergötzt. Mitleid und Liebe sind die Gärtner, Unglück und Schmerz der harte Boden, Dankbarkeit und Gegenliebe die entspringenden Rosen. Der Händedruck eines Sterbenden, das Lächeln eines bleichen Kinderantlitzes, ein nur einmaliges Augenaufblitzen belohnt gute Taten manchmal mehr als stummes, totes Geld.

Vor einem halben Jahre war eine Aenderung in den Verhältnissen Susannes eingetreten.

Man suchte sie, sie stellte sich der Behörde, wurde freundlich aufgenommen und vorläufig aufs beste verpflegt. Das war auf Hannes' Anordnung geschehen, welcher nach Auffindung des alten Briefes von Karl auf den Gedanken gekommen war, nach Susannes Verbleib zu forschen.

Sie war nicht gestorben, sie lebte.

Dann holten Hannes und Hope sie ab und bezogen das unterdes gebaute Haus.

Karl begrüßte die Geschwister und Eltern von Hannes. Sein Gesicht strahlte vor Freude, doch lange dauerte diese Begrüßung nicht, dann saß er wieder neben Susanne.

»Teufelskerl,« sagte Hannes, »hast du uns einen Schrecken eingejagt! Weißt du, daß du mir einen Spaß verdorben?«

»Das täte mir sehr leid.«

»Ja. Daß du dich hier auf dem Gericht wegen der Erbschaft von 20 000 Talern melden solltest, war nämlich nur ein Schwindelchen von mir. Ich hatte die Herren auf dem Gericht vorbereitet, dich zu empfangen. Man sollte dich nach deinen Legitimationspapieren fragen, und da die bei dir natürlich niemals, in Ordnung sind, dich einsperren. Ich hätte dich spucken und schnauben sehen mögen. Ich wäre sofort benachrichtigt worden, mit Susanne oder mit der verwitweten Frau Müller hingeeilt, und dann hätte dich deine einstige Geliebte aus dem Kerker befreit.«

»Das wäre herrlich gewesen!« rief Hope entzückt.

»So ist es aber auch ganz hübsch, Kapitän,« schmunzelte der Bootsmann.

»Ach was, ich bin jetzt kein Kapitän mehr, viel eher Passagier.«

Karl lachte.

»Du verstehst mich nicht?«

»Nein.«

»Dein Passagier bin ich.«

»Wie denn?«

»Nun: Hope, meine Eltern, Geschwister und ich sind hier nur Mieter, dieses Haus gehört dir.«

Karl glaubte falsch verstanden zu haben, Susanne dagegen lächelte glücklich.

»Ihr spaßt wohl nur?«

»Durchaus nicht, dies Haus gehört dir, oder, wenn du das lieber hörst, Susanne. Doch das bleibt sich wohl gleich. Wollt ihr euch eigentlich heiraten oder nur zusammen leben?«

Jetzt begriff Karl endlich. Er war glücklich, fand aber keinen Ausdruck für seine Dankbarkeit. Er begnügte sich, die Hand von Hannes zu schütteln.

»Na, mit dem Heiraten – das weiß ich noch nicht,« stammelte er verlegen und blickte Susanne an, welche errötete und lächelnd den Kopf schüttelte.

»Aber, aber,« Karl kratzte sich in den Haaren, »aber das geht doch nicht.«

»Was geht nicht?«

»Das mit dem Hause.«

»Es geht alles, Karl. Hier hat Susannens Hütte gestanden, hier hast du sie wiedergefunden, hier sollt ihr beiden Leutchen bis an euer seliges Ende leben bleiben – damit basta, kein Wort des Dankes mehr! Wir sind Kurgäste, und da erlaubt ihr wohl, daß ich so lange mit meiner Familie hier wohnen bleibe. Im Herbst ziehen wir wieder wie die Schwalben fort und suchen uns ein warmes Nest für den Winter.«

Der Bootsmann konnte nicht widersprechen; in seiner dankbaren Verlegenheit brachte er andere Fragen hervor.

»Kurgast seid Ihr, Kapitän? Um Gottes willen, dann trinkt Ihr wohl auch gar das Wasser mit dem Eisen und dem anderen Dings da?«

»Freilich trinken wir es,« lachte Hope.

»Reines, pures Wasser?« wandte sich Karl erstaunt an Hannes.

»Ach, geht weg!«

»Ja, ja; reines, pures Wasser mit Magnesium und Eisen. Natürlich mische ich zur Hälfte Rum hinein.«

»Und ich Rotwein,« fügte Hope hinzu.

»Bekommt uns großartig.«

Alle lachten, auch Karl und Susanne, und damit war der Bann gebrochen.

Natürlicherweise kam das Gespräch bald auf die Besatzungen der ›Vesta‹ und des ›Amor‹. Karl wußte noch gar nicht, daß der ›Amor‹ untergegangen war, er erfuhr erst jetzt der Engländer Rettung durch den ›Blitz‹, die Ankunft der ›Vesta‹ in New-York und alles andere.

Hope brachte Briefe herbei, die vor einigen Tagen erst aus New-York angekommen waren.

»Und was wird denn nun weiter?«

»Jetzt verkaufen die Damen ihren ganzen Kram in Amerika und fahren mit den Herren nach England,« erklärte Hannes.

»Und dann?«

»Und dann? Komische Frage. Heiraten tun sie sich dann natürlich.«

»Hm, aber ...«

»Was aber?«

»Da müssen einige Damen zwei Männer bekommen.«

»Ach so! Ja, Karl, da hast du recht. Es sind nur 22 Mädels – nein, 21 nur, denn Miß Chalmers geht nicht mit – und 26 Herren. Nun, sehr einfach, die 5 übrigbleibenden Herren werden wohl als Brautführer dienen und dann die Brautjungfern heiraten.«

»Einige werden in England schon sehnsüchtig erwartet,« meinte Hope, »also nur keine Angst ihretwegen.«

»Nun noch andere Mitteilungen, Karl, die dich interessieren werden,« fuhr Hannes fort. »In nächster Zeit wird in einer Holzkiste mit Luftlöchern der kleine Kasegorus hier ankommen. Ich habe Williams gebeten, ihn mir zum Andenken zu schenken, hier seine telegraphische Antwort.«

Er zog ein Telegramm aus der Tasche und las:

»Kasegorus geht heute als Muster ohne Wert von hier ab.

Ihr gehorsamer Diener Williams.«

»Noch eine andere Neuigkeit, Karl,« nahm jetzt Hope das Wort, »ich habe Euch doch von dem Andachtsklub der jungen Damen erzählt, von denen sich jene – jene Abenteurer immer Nachrichten über unser Wohlbefinden holten!«

»Ja, ich entsinne mich sehr gut der frommen Mädchen,« lachte Karl, »ihre Präsidentin hieß Emmy. Habe manchmal darüber gelacht, wenn Ihr davon erzähltet.«

»Die sind jetzt vollständig übergeschnappt,« sagte Hannes.

»Nicht vorgreifen,« rief Hope. »Ja, die haben jetzt einen anderen Klub gegründet, das Beten wurde ihnen zu langweilig. Sie nennen ihren neuen Klub ›Emanzipation‹, kleiden sich wie Herren, tragen Beinkleider, Vorhemdchen, Stöcke, fahren, turnen, fechten, reiten wie Herren, spielen Fußball, Billard und rauchen auf der Straße. Emmy schrieb mir, ihr Ruhm würde bald den der Vestalinnen noch übertreffen, jetzt sind sie dabei, ein weibliches Regiment zu bilden, weibliche Soldaten wären noch bewunderungswürdiger als weibliche Seeleute.«

»Seemädchen,« sagte Hannes.

»Meinetwegen Seejungfern. Was denkt Ihr dazu, Karl?«

»Hm – gar nichts.«

»Ich will sagen, was Karl denkt,« meinte Hannes. »Er denkt: ein Narr macht viele Narren, oder 25 verrückte Mädchen können 25 000 andere verrückt machen.«

»Aber, Hannes, das ist eine Beleidigung!« rief Hope.

»Kann ich denn etwas dafür, wenn Karl das denkt?«

»Ich habe so etwas gar nicht gedacht,« verteidigte sich dieser.«

»Das tut mir leid, daß du es nicht gedacht hast, hättest es aber leicht denken können. Na, Hope, sei einmal offen. Ganz richtig waret ihr vor drei Jahren doch nicht im Oberstübchen, und so viel steht fest, Heiraten ist für überspannte Mädchen die beste Medizin.«

Alle lachten, auch Hope stimmte herzlich mit ein.

»Wir sind wenigstens konsequent geblieben,« sagte dann letztere, »die Vestalinnen sind von jeher emanzipiert gewesen, jene frommen Mädchen dagegen – na, darüber braucht man nichts mehr zu sagen.«

»Konsequent? Ich möchte nur wissen, inwiefern. Eigentlich müßten die Vestalinnen samt und sonders zu Tode geprügelt werden, denn so lauten die Gesetze der ›Vesta‹.«

»Die ›Vesta‹ hat aufgehört zu existieren, somit erlöschen auch die Gesetze.«

»Was machen sie denn mit der Vesta?« fragte Karl.

»Ah so, das hatten wir vergessen, Euch zu erzählen. Die ›Vesta‹ ist bereits für eine enorme Summe an einen pfiffigen Yankee verkauft worden. Der Spekulant zeigt das Schiff erst als Sehenswürdigkeit, dann läßt er aus dem Holz Reliquien anfertigen, nach denen in Amerika eine wahre Jagd veranstaltet wird. Die amerikanischen Dandys machen schon jetzt Bestellungen auf Boote, Stühle, Schränke ...«

»Federhalter, Schnupftabaksdosen, Lineale und so weiter,« fuhr Hannes fort, »ja, sogar Hosenknöpfe werden aus den Planken der ›Vesta‹ gefertigt. Das Geld übergeben die Damen einem Institut für Schiffbrüchige.«

»Wie ist es denn nun eigentlich mit der Wette zwischen den Herren und Damen geworden?«

»Darüber hört man nichts, daran wird wohl nicht mehr gedacht. Eigentlich haben die Damen gewonnen, denn die Engländer haben die ›Vesta‹ in der Tat dreißig Tage lang nicht gesehen – als sie in Südamerika waren – doch die Herren sind in Wirklichkeit Sieger geblieben.«

»Wieso denn?« fragte Hope unschuldig.

»Weil die Engländer die Mädchen geheiratet haben. Nun sind sie ihre Herren.«

»Im Gegenteil, durch die Heirat sind die Damen Siegerinnen geblieben. Sie sind die Herrinnen.«

»Nanu, das ist eine starke Behauptung! Im Namen der ganzen männlichen Bevölkerung der Erde verlange ich Beweise.«

»Die sollst du haben, und zwar unwiderlegbare.« »Karl, steh mir bei, meine Frau zu widerlegen!«

»Der Schein trügt, wenn man glaubt, der Mann sei der Herr der Erde,« begann Hope, »nicht der Mann, das Weib ist es.«

»Redensarten!«

»Laß mich aussprechen! Die Gründer unserer christlichen Religion wußten dies schon sie versuchten die Herrschaft des Weibes zu unterdrücken, indem sie sagten: er soll dein Herr sein. Allein vergebens, es ist ihnen nicht gelungen, das Weib herrscht noch und wird stets herrschen, so lange es nicht durch sklavische Behandlung zum Tier herabsinkt. Doch diese Zeiten sind vorüber. Der Mann hat die Herrschaft nur scheinbar, das Weib in Wirklichkeit in Händen.«

»Aber Beweise.«

»Nur einen! Wenn ich zu dir sage: Hannes, ich befehle dir, gib mir das Buch dort! Was würdest du antworten?«

»Hol's dir selber.«

»Gut. Wenn ich nun sage: Hannes, wir wollen heute abend noch abreisen. Was dann?«

»Ich würde Gründe fordern und erwägen.«

»Schön. Wenn ich aber sage: Mein lieber, guter Hannes, wir wollen heute abend abreisen, frage nicht warum, ich bitte dich aber sehr darum. Würdest du es mir abschlagen?«

Hannes schwieg.

»Hm, ich würde dir allerdings nachgeben,« sagte er dann, »aber bedenke, daß es in anderen Ehen anders zugeht. Es gibt Männer, welche nicht auf die Bitten ihrer Frauen hören, und wenn sie ihnen zu Füßen liegen.«

»O, dann gibt es noch tausend andere diplomatische Mittel, um sie zum Nachgeben zu zwingen. Den einen fängt man durch Schmollen, den anderen durch Tränen dem dritten brennt man das Essen an und so weiter. Ich spreche natürlich nur von klugen Frauen; eine Frau welche durch herrisches Auftreten die Oberhand gewinnen will, ist töricht, sie wird zuletzt doch stets unterliegen. Demut, Gehorsam und List sind die Waffen, mit denen wir kämpfen und siegen werden, und die List – ich spreche nicht von Hinterlist – des Weibes steht unerreichbar da, sie übertrifft die Klugheit des Mannes. Das Weib ist übrigens von der Natur aus bestimmt, zu herrschen, nicht der Mann, und ohne das Weib würde die Welt aufhören zu existieren. So sagen die größten Männer aller Zeiten und Länder, Inder, Chinesen, Araber bis herauf zu uns, begeisterte Dichter singen es, nüchterne, scharfsinnige Philosophen beweisen es. Ein hervorragender deutscher Dichter sagt: ›Die Gunst des Weibes ist die Achse, um welche sich das Weltenrad dreht. Um ihretwillen hat sich die Natur mit ihren leuchtenden Farben geschmückt, um ihretwillen ertönt die Stimme aller Lebendigen in holden Harmonien, und um ihretwillen ist der Riesenkampf entbrannt, der erst erlöschen wird, wenn die Welt zur Ruhe des Eises erstarrt.‹ Dasselbe beweisen Darwin und Häckel, zwei weltberühmte Gelehrte.

»Du selbst kannst dich davon überzeugen. Nimm die Weltgeschichte zur Hand und blättere darin, du wirst finden, daß nicht Männer, sondern Weiber regiert haben. Wo es nicht deutlich ausgedrückt ist, ist es zwischen den Zeilen zu lesen, von der ältesten Geschichte an bis herauf zu den französischen Maitressen, welche Könige am Gängelbande führen, Kriege anzetteln, Gesetze geben.«

»Aber heute ist dies nicht mehr so.«

»Doch. Denke an die französische Kaiserin Eugenie, nannte sie nicht den letzten Krieg ihren kleinen Krieg? Sie wußte, warum sie das offen sagen durfte. Ich verstehe nicht viel von Politik, aber ich bin fest überzeugt, daß die ganze Politik nicht in den Händen von ehrwürdigen Staatsmännern, sondern in denen ihrer klugen Frauen liegt. Ich denke mir das ungefähr so, um nur ein Beispiel anzuführen: Es soll ein neues Gesetz in Vorschlag gebracht werden. ›Das sage ich dir gleich,‹ sagt die Frau zu dem Minister, dessen weisen Worten man immer mit Bewunderung lauscht, ›das neue Gesetz darf nicht durchkommen, denn dann ist die Karriere unseres Sohnes futsch.‹ ›Das neue Gesetz ist aber gut für Volk und Staat.‹ ›Ach was, Volk und Staat, du wirst doch nicht ein Rabenvater sein wollen – erst kommen deine Kinder, dann die übrigen.‹ Das Gesetz fällt durch. Oder der Herr Professor X. soll seiner Verdienste wegen zum Regierungsrat ernannt werden. ›Was?‹ ruft die Frau Minister, ›Professor X.? Das geht nicht, die Frau Professor ist schon so stolz, wie soll es erst werden, wenn sie Regierungsrätin ist?‹ ›Liebe Frau, der Professor hat es verdient, seine Frau kommt dabei nicht in Betracht.‹ ›So, da will ich dir etwas anderes erzählen. Neulich war auf dem Markte nur ein einziges Bund Spargel aufzutreiben, ich stürzte darauf zu, aber Frau Professor X. kam mir zuvor. Frau Professor, rief ich, überlassen Sie mir den Spargel, ich bitte Sie inständigst, mein Mann ißt den Spargel für sein Leben gern. Weißt du, was das Weib mir darauf erwiderte? Mein Mann ißt ihn aber noch lieber.‹ Der edle Gemahl zieht die Stirn kraus und geht – Professor X. erhält nur einen Orden. Und so geht es weiter. Die kommenden Jahrhunderte werden aufdecken, daß unsere heutige Geschichte auch nur von Weibern gelenkt wurde, daß Weiber über Krieg und Frieden entschieden haben. Nun, Hannes, gibst du zu, daß wir Weiber die eigentlichen Herren sind?«

Hannes schüttelte den Kopf und lachte.

»Ich kann mich noch nicht ergeben.«

»Gut, noch einen Beweis. Sieh da unseren alten Bootsmann Karl. Den habe ich nur immer als so einen richtigen Eisenfresser kennen gelernt, als einen Mann, dem es nie zu toll werden konnte. Und nun sitzt er neben seiner Susanne wie ein Turteltäubchen und läßt sich in den Haaren kraulen. Das Weib hat ihn besiegt. Erkennst du nun unsere Herrschaft über euch Männer an?«

»Nein, ich ergebe mich nicht,« lachte Hannes, »aber ich will unterhandeln. Wir wollen uns in die Herrschaft teilen, Hope, wir wollen gleiche Rechte besitzen, wir wollen uns gegenseitig unterstützen, einer auf des anderen Rat hören, kurz, Hand in Hand gehen.«

»So ist es recht,« rief Hope erfreut, »so sollten alle sprechen, dann wäre die Frauenfrage gelöst. Nun noch ein Wort über die Vestalinnen! Ihr Männer sucht uns Weiber durch die Behauptung zu unterdrücken, daß wir euch in jeder Hinsicht nachstehen, an Kraft und Geist, wir besäßen nicht die Fähigkeiten wie ihr, ihr nennt uns das schwache Geschlecht. Oho, ich kenne Frauen, die mit ihren Männern Fangball spielen können; geh nur in den Zirkus, da kannst du Athletinnen sehen, Akrobatinnen und so weiter. Und gibt es nicht etwa Frauen, welche in Wissenschaft und Kunst, in Gelehrsamkeit, in Musik, Malerei, Skulptur, Poesie den Männern den Rang streitig machen? Daß sie nicht so häufig sind, kommt einfach daher, weil das weibliche Geschlecht noch keine Gelegenheit hat, sich vollständig zu entwickeln, und deswegen werden die kommenden Jahrhunderte über die Blindheit der jetzigen Männer lachen. Die Frauen müssen sich durch Emanzipation selbst aus dieser Knechtschaft befreien, sie müssen zeigen, daß sie dasselbe leisten können wie die Männer, und deswegen begrüße ich jedes Weib, welches aus dem Hintergrunde hervortritt und sich der Menge zeigt, gleichgültig, ob es auf dem Seile tanzt, Zentnergewichte hebt, sich auf dem Klavier produziert oder neue chemische Formeln berechnet. Es sind Vorkämpferinnen unseres Geschlechtes, und wir Vestalinnen haben uns ihnen angeschlossen, wir haben gezeigt, daß wir ebenso befähigt sind, ein Schiff übers Meer zu lenken, wie die Männer, und deshalb sind wir nicht in einen Topf zusammenzuwerfen mit jenen albernen Mädchen, welche, nur um die Blicke auf sich zu ziehen, den Männern das Benehmen nachäffen. Das sind unsere größten Feindinnen, sie helfen uns nicht, die Freiheit zu erreichen, sie hindern uns daran, denn sie machen uns lächerlich. Das war alles, was ich zu sagen hatte.«

»Dann sich mal nach, daß die Abendsuppe nicht anbrennt.«

Hope verschloß den Mund des Spötters mit einem Kuß.

Das Abendbrot stand auf dein Tische. Hannes ließ den Pfropfen einer Champagnerflasche zur Decke springen und füllte die spitzen Gläser mit dem schäumenden Wein. Er stand auf und erhob das seine.

»Wollte ich heute abend auf das Wohl jedes einzelnen, dessen wir zu gedenken haben, ein Glas trinken, so würde ich bald unterm Tische liegen, und da dies bei einem Ehemanne nicht mehr vorkommen darf – höchstens wenn die Frau einmal verreist ist – so fasse ich meine Trinksprüche bei dem ersten Glase kurz zusammen. So wollen wir denn anstoßen auf das Wohl der Besatzungen der ›Vesta‹ und des ›Amor‹, mögen sie England gesund erreichen und dort das gesuchte Glück finden! Wir wollen auf das Wohlergehen unseres Freundes Karl und seiner Susanne anstoßen, die sich nach langer Trennung vereint haben, auf das meiner Eltern und Geschwister, und, Hope, auf unser eigenes. Ich gedenke aller derer in Dankbarkeit, die uns auf der Weltreise in Liebe begegnet sind, ob sie weiß oder schwarz, gelb oder braun waren, ich gedenke auch ganz besonders zweier Toten – der Missis Congrave, der ich meine jetzige Stellung verdanke, und des edlen John Davids. Nie soll meine dankbare Erinnerung an sie schwinden. Und schließlich wollen wir anstoßen auf das Wohl aller Menschen, welche ein Herz, keinen Stein, in der Brust tragen, mögen sie Christen oder Juden, Mohammedaner oder Buddhisten, Sonnen- oder Feueranbeter heißen. Prosit!«

»Prosit!« schallte es nach.

»Vorsichtig anstoßen,« warnte Karl, »wir Seeleute sind abergläubisch.«

»Wir Seemädchen nicht,« entgegnete Hope und stieß kräftig an – doch es zerbrach kein Glas.


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