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Dahin führt ein langer Weg, durchs Leben zurück, durch laute Tage und Nächte voll Lust und Sorge und mündet vier Wochen vor Weihnachten. Fast wie im Märchen. »Rorate« steht am Eingang. Das tönt rostig knarrend, wie befehlend – in lateinischer Zunge. Aber »tauet Himmel den Gerechten«, das klingt gelinde, und wie im leichten Flockenfallen sinkt das alte Weihnachtslied herab auf den dunklen Wintermorgen und schwebt traulich über der erwachenden Arbeit im Dorfe wie schwingender Glockenklang über behaglichem Frühstücksduft.
Was war das vor vielen, vielen Jahren für eine köstliche, geheimnisvolle Zeit gewesen. Schon beim ersten Erwachen, wenn das knatternde Feuer im Ofen sein Flackerlicht warf über die dunkle Stube. Welch behagliches Nachträumen im warmen Bette von kommenden Weihnachtsfreuden! Dann ging es rasch in die Kleider und hinunter über die finstere Stiege, vorbei an der alten Küche, aus der das Herdfeuer glühte, hinaus ins Freie. Noch stand der Mond am Himmel in der sternklaren Winternacht. Und im ergrauenden Morgen, der geheimnisvoll war schon wegen der ungewohnten Stunde, trug die Luft mancherlei Gerüche zu, aus Nachbars Küche und von Nagelschmieds Werkstatt herüber, der in aller Herrgottsfrühe schon klingend hämmerte, dann wieder frische Schneeluft vom fernen Gebirge. Ein mächtiger Kobelwagen knarrte die Straße herunter, vierspännig. Der Fuhrmann im blauen Kittel knallte gleichmütig mit der Peitsche, daß es scharf durch die frostige Morgenluft klang. Ich wußte, er kam von weit her, aus dem Drautale, und fuhr nach Leibnitz zur uralten Heerstraße. Durch eine ganze Welt schien er von mir getrennt aus meinem warmen Heimatnest heraus, der Mann, der so aufrecht und unbekümmert in die weite Welt fuhr zu solch hochheiliger Zeit. Da läutete es vom Kirchturm. Hoch im Schallfenster schwankte ein Lichtlein. Mußte ein beherzter Mann sein, der so früh die Glocke zog, allein im finstern Turm. Und schon stiegen über die nahen Hügel rote Lichtlein herab, da und dort, immer mehr, immer näher, brennende Kienspäne, mit denen frühe Kirchgänger über die vereisten Steige suchten, zur Frühmesse, zur Rorate. Mein Gewissen als Ministrant ward rege. In der Sakristei zuckten die Kerzen trübe ums Braun der Schränke. Beim Ankleiden roch es nach alten Kleidern, nach Weihrauch, nach Wachs. Hell strahlten die Lichter am Altar und warfen ungewissen Schein hoch hinauf über die mächtigen Voluten, glänzten hell auf im Goldsaum eines Engelkleides und ertranken im hohen Dunkel. »Tauet Himmel den Gerechten«, klang es unsichtbar vom Chor in die finstere Kirche herab, aus Frauenstimmen, und füllte die düsternde Kälte mit warmem, erwachendem Leben. Rein, wie voll sinnfälliger Plastik im aufsteigenden Dreiklang, schmiegte sich das alte Lied dann nieder zu inniger Andacht, schwebte klangvoll durch den Raum wie eine Stimme der Verheißung, daß das frohe, lauschende Bubenherz sich immer wieder zum wechselnden Dienste am Altar aufraffen mußte. Dann wartete die liebe alte Großmutter vor der Sakristeitüre. Es war heller Morgen geworden mit all seinen frischen Bildern, über denen noch kaum merklich der Kirchendienst lag wie ein gutes Gewissen vor einem Tag voll Arbeit.
In der Wohnstube roch es herrlich nach frischem Brot; durch die Ritzen des gewaltigen Kachelofens konnte man die gelben, züngelnden Flammen sehen. An die Jünglinge im Feuerofen mußte ich flüchtig denken und wandte mich beruhigt dem Frühstück zu. Vor den Fenstern aber begannen die Flocken zu fallen, groß und weich, immer dichter, immer schneller, als ob sie den ganzen Ort in drohendem Wirbel verschütten wollten. Das rief ins Freie. Da zirpte das Bubenvolk wie ein Schwarm Spatzen in unmöglichstem Diskant. Die Schlitten schlenkerten am Strick hinterher und bald sausten wir den alten Steinweg hinunter, daß der alte Invalide Pechtl, als Medaillenveteran bedeutsam, aber als Schnapsbruder verächtlich, immer wieder drohend den Stock hob. Wer hat je einen richtigen Buben eingefangen?
Das Schneien wurde immer ärger. Man sammelte sich, die brennroten Hände in den Taschen, zu etwas Philosophie beim Kastanienbrater an der Gartenecke. Der alte Ratleitner hatte ein scharfes rotes Vogelgesicht, wie nach innen gezogen, an der spitzen blauen Nase ein kristallhelles Tröpfchen. »Schnapsbrennen.« Das Wort schien uns zutreffend. Zuweilen schwang er mit der Fuchspelzmütze vor dem Feuer, daß es knackend aufsprühte. »Tupp«, sagte eine Kastanie und sprang platzend in die Höhe und mir beinahe ins offene Maul, daß ich nur ganz wenig mit den Händen nachhelfen mußte, denn das war Strandgut. Und so klang es immer, dann und wann, als ob man ein kleines Stückgeschütz gelöst hätte. Der alte Kastanienbrater mochte uns Kinder offenbar leiden, wenn er auch fast nie mit uns sprach; aber ein Kreis begehrlicher Rotznasen gehörte zu seiner gesellschaftlichen Stellung, war ein gewohnter Staat für ihn. Ich stand ihm etwas näher oder wußte mehr von ihm; denn wenn das Flockengewirbel in ein graues Schneetreiben überging, daß man den Himmel nicht mehr sah und der Verkehr für Stunden stockte, dann warf er sein Feuer aus und erschien in Großmutters Stube. Die lag zu ebener Erde, war niedrig und gewölbt und trug vor dem Fenster ein Gitterwerk von schwarzen Baumzweigen des Obstgartens, die mählich sich mit weichen Schneelasten füllten, so daß das Auge bald durch ein Gewirr schimmernder Zweige lief, in den richtigen Märchenwald. Ratleitner aber, als alter Schulkamerad der Großmutter, saß schlicht an der Wand, holte hie und da unbefangen mit einem blauen Fürtuch den Schnapstropfen von der Nase ein und erzählte, sparsam, wie alte Leute reden, was es gerade Neues gab in der alten Heimat der beiden in St. Peter im Sulmtale. Dabei kam man auch auf alte Geschichten, die zuweilen gar seltsam klangen. Vom Bauerbuben, der den letzten Bären auf der Schwanberger Alm erschossen, der heute im Joanneum steht, oder wie vorzeiten berauschte Bauernburschen einmal vielleicht bei Florian – der Ton lag auf der letzten Silbe – einen Hausierer zu Tode sekkiert. Das hatte Ratleitner durchs offene Fenster gesehen und wäre bald selbst erschlagen worden, weil er es verhindern wollte. Das klang alles so gruselig und rätselhaft, wie ich es am liebsten hatte.
Und so verging ein kurzer Wintertag wie im Fluge, bis der späte Nachmittag in Großmutters Stube rief, wo das Spinnrad so traulich surrte. Die Großmutter, ein schwarzes Band im feingescheitelten Haare, das wenig grau war trotz der siebzig Jahre, war eine stille Frau mit klaren braunen Augen im blassen Matronengesicht, das deutlich noch den schwachen Glanz ehemaliger Schönheit trug. So schien es wenigstens mir, wenn ich, wie Kinder tun, beim Zuhören all den feinen Fältchen folgte, die ums Gesicht der Erzählenden spielten. Da waren Geschichten aus der Bibel und fromme Legenden, von denen sie sprach wie von Selbsterlebtem. Von Herodes berichtete sie einmal und vom Kindermord zu Bethlehem, saß auf einem Schemel und hatte einen Korb vor sich, in den sie einen Kapaun rupfte. Und der Name Herodes ist in meiner Erinnerung dauernd verknüpft mit einem rostbraunen oder roten Hühnerhals, von dem alte Hände die Federn streifen. Dann sang sie mit leiser, sicherer Stimme ein altes Krippenlied von Hirten, die sich urwüchsig die Botschaft von der Geburt des Herrn zuriefen.
Ich stahl mich leise davon. Der Brunnen war für mich voraussichtlich erschöpft und gab morgen doch wieder neuen Trunk, wenn ich wollte. Weihnachtsstimmung, das war es, in die ich unbewußt geraten war. Doch von sentimentalem Empfinden wußte ich nichts. Aber über Hof und Garten war frühe Dämmerung gefallen. Aus der Stalltür fiel ein breiter Streifen warmen gelben Lichtes in den blauvereisten Hof. Das war doch ein richtiges Krippenbild. Und dazu sang die alte Nani beim Melken ein Weihnachtslied, laut und hell, und den Kühen schien es zu gefallen, daß sie willig Milch gaben.
Dann gab es noch vor dem Abendessen an der Hand der Mutter einen späten Gang. Der führte den Bach entlang ins nächste Dorf hinunter, zum Weber. Taghell lagen die frostfunkelnden Schneeflächen im blauen Mondlicht bis zum schwarzen Waldrand weit drüben. Wölfe? Alte Leute hatten uns erzählt davon. Doch das war vor langer, langer Zeit gewesen. Und zudem ging ich an warmer Mutterhand. So gut und furchtlos, so gescheit, froh und milde war niemand auf der ganzen Welt wie die Mutter. Wie in vertrauter Ehrfurcht grüßten die Knechte neben den klingelnden Schlitten, die uns entgegen kamen. Und im warmen Holzstüberl glitt der wortkarge Weber gleich willig von der Bank, wenn wir eintraten. Der hatte mächtige runde Brillengläser vor der Nase, die ehrfurchtgebietend über seinem alten Faltengesicht wachten. Und war überhaupt die Verkörperung von Recht und Gesetz, von Richtung und Maß, wenn er den breiten Rahmen klappte und das glatte Schifflein durch die Fäden jagte. Das führte zu manch sinnenden Fragen auf dem Heimgang. Dann lagen wieder weitum die Felder im harten Mondlicht der sternübersäten hohen Winternacht, nur um den nahen Heimatort wob der Laternenschein einen goldenen, engtraulichen Schimmer. Und da kam es wie von selbst zur vertrauten Zwiesprache mit der Mutter, vom Christkindl und was es alles bringen sollte. Da spannen sich die Wünsche im arglosen Kindersinn, zweifelnd erst, dann immer weiter und sorgloser. Was merkte ich damals, daß mir zur Seite die Liebe ging, grenzenlos und über alles Maß, stark und still, und ihre verhaltene Jubelstunde hielt am Geplauder des Buben. Das war meine Mutter …
Und als wir die Straße hinauf zu unserem Hause kamen, da huschten wahrhaftig blitzende Lichter über die Scheiben der dunklen Stube im oberen Stockwerk. War es Laternenschimmer gewesen von der Straße her oder war das Christkind grüßend durch das Fenster geflogen?
Ich weiß es heute noch nicht.