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In meinen Arbeitstag schauen die Almen herein. Nicht immer natürlich, aber oft genug, daß sie mein Wandern und Mühen im Tale verheißungsvoll trösten und mir einen frohen Weitblick gönnen wie einen frischen Trunk an staubiger Straße. Oder wie etwa auch ein Flickschneider zuzeiten von seiner Stichelarbeit aufblickt nach den hohen Lindenkronen vor seinem Dachfensterlein, um sich ein Stücklein Herrgottsweite in die enge Kammer zu holen.
Und dann kommt ein Tag, von köstlicher Vorfreude begrüßt, an dem ich aufwärts steige im geheimnisvollen Morgengrauen durch kühle Waldschatten, über tauige Wiesen, langsam erst, dann immer schneller. Einen sandigen Hohlweg geht es entlang am Waldsaum. Nur eine mannshohe Erdwelle und der eisengraue Almzaun trennen mich noch von den freien Bergwiesen, darinnen die Quellen klingend sprudeln. Nun bin ich oben, und die letzten Schritte führen mich aus traulicher Erdnähe hinaus vor die leuchtende Unendlichkeit. Da liegen weitum die Almen, schenken mir das Glück ihrer Höhe auf freien, leichten Wegen, die ich stundenweit übersehen kann. Und schließen sich zum Kranze wie die schimmernden Gefilde der Seligen. Schon im Raume hoch emporgehoben über allem, was Pflügen und Graben und Roden und Schlagen braucht, was harte Arbeit fordert und sauren Schweiß und zitternde Sorge in Wettern und Hagelschlägen. Sehen herab in der lächelnden Selbstverständlichkeit der Schönheit auf das krause Furchennetz, das unser Menschenwerk im Laufe von Jahrhunderten, der Erde ins Antlitz gegraben und über dem unsicher und ruhelos das graue Gespinst unserer Sorgen webt.
Das ist ein weiches Fließen der Formen, frei und leicht, und doch durch feine Brechungen der Linie immer wieder reizvoll aufgelöst, mit sparsamsten Mitteln vor Eintönigkeit bewahrt. Und meilenweit gekrönt von flutendem Sonnenlicht und heiliger Stille. Das laute Gehaben der Industrie, der Kleinlärm werkelnder Alltäglichkeit, all die tausend Stimmen, in denen das Menschenlos zum Himmelschreit, sie sind verklungen, versunken, schon drunten in den blauen Waldgründen, die ihren Fuß umsäumen. Und nur die letzten, die größten, die Grundakkorde aus dem Leben auf Erden werden übet diese freien Borde getragen, der mächtige Orgelklang der Winde, das Rauschen der Wasser, all die Stimmen der Tiere, die frei wandeln wie an ihrem ersten Schöpfungstage. Es ist das große Gesetz der Vereinfachung, das auf unser kompliziertes Empfinden wirkt, befreiend und läuternd im künstlerischen wie im ethischen Sinne. Wo anders sonst noch stürmen die Wolken über einsame Höhen wie vor tausend Jahren, werfen Bilder in die Seele voll stiller Kraft, die nichts gemein haben mit heute und morgen, die zeitlos sind wie die ewige Natur. Der alte Hochwald im letzten Almwinkel schirmt gleichmütig bleichende Baumleichen und saftigen Jungwuchs, kein wehleidiges Menschentum fährt ihm störend in die große Linie des Werdens und Vergehens. Und die vom Anfang aller Zeiten an die freien Höhen durchstreifen, die Hirten und Jäger, sie tragen noch heute ihr Amt heroben still und wetterfest, nur statt der Felle den rauhen Loden, statt des Speers und der Armbrust die Büchse. Nur das Meer zeigt Bilder, die sich vergleichen ließen, voll einsamer Größe und ohne Beziehung zum Zeitlichen. Aber es ist heute noch das feindliche Element, das die Menschen ernst und wortkarg macht im täglichen Kampfe mit Wogen und Nebelstürmen. Das Almvolk dagegen hat klingende Lieder. Die weite Schau über die herrlich prangende Welt zu seinen Füßen hat ihm wohl die Zunge gelöst im hallenden Jauchzer. Und was sie singen, gilt immer wieder dem halb unbewußten Glück des freien Lebens heroben, der sonnigen Schönheit um sie her und der Liebe in ihrer ersten, natürlichsten Form.
Ich liege im Grase und muß die Augen schließen vor der Fülle des Lichtes, das noch purpurn durch die Lider scheint. Als ob sich's hier oben wohl gar nicht sterben ließe. Dazu ein körperliches Wohlbefinden, das durch die Glieder strömt wie starker, brausender Edelwein. Eine Hummel läutet schwingend vorüber, in leichten Wellen läuft der wehende Wind durch Gräser und Blumen und bringt einen feinen, warmen Schwall von Wohlgeruch als köstliches Destillat aus Blütenduft, Erdgeruch und Sonnengold. Ich wende leicht den Kopf und sehe über die nächsten Grasspitzen in meilenweiter Ferne winzigklein eine Kette gewaltiger Berge, blaßkupferrot die Felswände und wie in Silber genietet die Bänder der Schneerunsen: die Tauern. Zur anderen Seite dehnt sich die weite Gotteswelt in blauen Wäldern und Hügeln und blassen Tälern und ganz ferne säumt den flimmernden Äther eine feine Linie, aus der ein kantiges Hügelchen ragt, die Riegersburg, nicht weit von Ungarn.
Ein kleiner Käfer krabbelt mir ans Ohr und mahnt mich aus leuchtenden Weiten bescheiden an die Nähe. Gehorsam wende ich mich und schaue und staune in eine Welt des Kleinlebens. Da tragen die Halme und Blütenglocken ein feines Haarkleid aus steirischem Loden gegen die scharfen Schneewinde und stehen stämmig und aufrecht auf starkem Wurzelgrunde, getrost und zufrieden wie kleines Almbauernvolk. Eine wilde Biene steckt bis zur Brust in einem wiegenden Glöcklein. Von der Spitze des Halmes läßt ein stundenaltes Mücklein die schillernden Flügel spielen und kann sich vor unbewußtem Wohlbehagen kaum entschließen zum Flug ins weite, unbekannte Land. Ein kleiner schwarzer Käfer hastet durchs Urwaldmeer, so eilend und aufgeregt, daß ich schuldbewußt lächeln muß. Das kenn' ich, Kleiner! Wenige Schritte zur Seite ragt ein Felsblock aus den Almwiesen, kaum meterhoch, aber wie ich nun aufs nächste eingestellt bin, ein gewaltiger Berg durch die Wucht der Umrisse. Auf jedem Flecklein seiner firnwindzernagten Rippen trägt er wurzelstarkes Leben. Einen tiefen Spalt hinan steigt ein Fähnlein Moose, lanzenschlank, mit spitzen Sturmhütlein, wie ein Trüpplein Gewappneter, das mannhaft auszieht auf Aventiuren. Und richtig: da lauert im hintersten Höhlengrunde der gewaltige Drache, ein fingerlanges Eidechslein, braun, goldschuppig, mit fliegenden Flanken. Auch sonst begibt sich manch Unheilvolles an der Schattenseite meines Mikrokosmos. Da würgt ein schwer gepanzerter Käfer in schauerlicher, winziger Einsamkeit einen bleichen Tausendfüßler und im luftigen Raubnetz der Spinne büßt verschmachtend ein stahlgrünes Flieglein seine kurze Daseinspracht. Wie Urformen aus der Sagenzeit unseres heutigen Lebens erscheint alles, was da kreucht an Wurm-, Schlangen- und Echsengestalten. Und das spannenlange Fichtengreislein, das den Gipfel meines Liliputanerberges krönt, es ragt aus dem Urwaldgefilz der Moose und Preiselbeeren krumm und windzernagt, aber hart und zäh wie der sturmzerfegte Baumriese eines uralten Opferhains. Spielzeugklein, aber von einer Gewalt der Umrisse und Kraft der Formen ist diese kleine Welt, als ob der tausendjährige Kampf mit Sturm und Eis alles frohe Ausrecken und Verzweigen niedergezwungen hätte, den Kern aber verstählt. Immer tiefer versieht man sich in diese kleine eindringliche Welt der Wunder, fast betroffen von dem Reichtum, den man kaum geahnt, und der Gedanken auslöst, scheinbar platt und alltäglich, und doch voll innerer Beziehung zur Geschichte des Lebens heroben. Noch vor wenigen Wochen lagen die Kräutlein unter fußhohen, stahlharten Schneewuchten, und heute wiegt sie der Almwind so lind und zart, als ob jedes gröbere Zugreifen ihnen schaden könnte. Eine fast unendliche Abstufung der Kräfte ist hier am Werke, an die sich das Leben angepaßt hat, mühsam im Laufe von Jahrtausenden, unter tausendfachem Tod und wieder unter vielhundertfachem Werden, siegreich für alle kommende Zeit. So steigt hinter diesen krausen Formen ein großes Gesetz der Entwicklung auf: der Kampf ums Dasein. Bei uns drunten klingt das Wort nicht gut, ist ganz fürs Menschliche in Besitz genommen, für eigennützige Ziele und arglistige Ränke. Ein reißender Strom, der seine trüben Wellen zuzeiten auch ans ruhigste Gestade klatschen läßt und zu Wehr und Sorge zwingt. Und so kann es kommen, daß man solchen Nahblick in die freie Welt des Universums empfindet wie ein Märchenwunder, das ganz fein anklingt aus fernen, fernen Tagen. In der ersten Kindheit gab's auch eine Zeit, da die Natur so einfach und eindrucksvoll und doch voll von Geheimnissen zu uns sprach, nur in Farben und Formen, ohne Beziehungen ins Weite. Wo man lange in einen Georginenkelch starren konnte und nur das leuchtende Gelb, das flammende Rot empfand, daran das Auge vergessen trank und trank, bis es satt war. Und der goldgrüne Käfer im Herzen der Rose war ein kleines Gotteswunder, ein verstohlenes Märlein. Man bezog nicht alles auf sein eigenes Ich; die Begriffe schädlich und nützlich hatten noch keinen Raum im weiten Garten der Natur.
Ein leises Dröhnen des Bodens, ein gemütliches Schnauben läßt mich aufschauen. Ein schneeweißes Rind sieht mich aus großen guten Augen an, schüttelt das Haupt vor einer Wolke von Fliegen und schaut gedankenvoll ins Weite. Wie sich diese leuchtende Umwelt wohl auf der Netzhaut seines Auges spiegeln mag? Die Frage ist nicht so müßig, wie sie augenblicklich scheint, wenigstens nicht an einem Feiertage des Lebens, der mir so Seltenes schenkt an Zeit und Ruhe. Was bringt dieser seelenvolle Blick in blaue Fernen dem Tier ins Hirn heim? Wohl treffen die Bilder durchs klare Auge auf seelenblinden Grund, wie die schönste Gletscherlandschaft durch die Spiegelscheiben eines leeren Alpenhotels fällt. Sicher ist's nur aufs Nächste eingestellt. Hunger und – ja wenn's nicht eben ein Ochs wäre. Aber irgend ein Zustand der Zufriedenheit, ein behagliches Hindämmern ruht doch unbewußt am Grunde seiner augenblicklichen Lebensempfindung. Glücksgefühl? Das ist wohl zu stark – für einen Ochsen, der jenseits von Gut und Böse im trägen Blute die köstliche, brausende Leidenschaft nicht kennt. Mit einem feuchten, innigen Blick des Mitleids wendet er sich von mir armen grübelnden Menschlein und rupft wieder im Schreiten den würzigen Almboden. Daß ich und meinesgleichen die Krone der Schöpfung, quittiert er gelassen mit einem breiten Schlußpunkt seines friedlichen Stoffwechsels.
Im goldenen Spätnachmittage schreite ich der fernen Hütte zu. Wie von selbst fällt der Schritt in ein ruhiges Gleichmaß, das sich einfügt in den Takt des Lebens um mich her. So gehen sie auch alle, die in dieser Welt ihr Leben verbringen, die Hirten und Wurzelgräber, die Jäger und Holzknechte, wenn anders sie nicht ein Außenstehendes, ein Ziel zwingt. Das Ziel ist nicht vor uns, ist um uns, ist ein Gehen, ein Stillestehen und Schauen. So stehen die Rehe unten im Grunde, so säumen die leuchtenden Wolken überm Wald, so fällt der Quell in den Brunntrog. Alles gehört zusammen und nichts fällt zu besonderem Zwecke aus dem Rahmen. Der heimkehrende Hirte grüßt mich gleichmütig mit leichtem Nicken als etwas Selbstverständliches, beinahe Erwartetes.
So wird die Rast auf der Bank vor der Hütte im sinkenden Abendgold zum unbewußten Gottesdienst. Herrgottsfrieden! Das ist das rechte Wort für diese heilige Stille im weiten Rund. Ruhiger, in ausgleichendem Zeitmaße, gehen hier die großen Gesetze des Lebens ihren Gang. Die weiten Linien lassen freie Bahn fürs Auge wie für die Seele. An Segantini muß ich denken, der anbetend schauend sein Größtes in der schweigenden Bergwelt empfangen hat. Schweres Leid, hier sinkt es zum Grunde, zuckender Schmerz um Verlorenes, hier oben müßte er sich lösen, weich verströmen in der Unendlichkeit. Drunten tief im Arbeitsfeld unseres Lebens mahnt uns immer wieder eine schmale Gasse, ein liebes Haus, eine stille Stube an liebe Weggenossen, die wir verloren. Hier oben aber schreiten sie uns wieder zur Seite, frei und leicht, und mit all dem fröhlichen, oft absonderlichen Gehaben, das ihnen im Leben angehangen. Hier oben möchte man wohl einst begraben sein, oder bester noch, verzehrt werden in reinigenden Flammen und als leichte Asche verstreut in den wehenden Wind, daß bald kein sichtbares Teilchen unseres Körperlichen zu finden wäre, daß mir aufgelöst wären im weiten All, wiedergegeben der mütterlichen Erde. Ein Dichter hat's gesungen, aber wie viele vor ihm haben es ahnungsvoll empfunden.
Zögernd scheidet das Licht. Aber noch lange stehen die Berge klar und scharf gegen den helleren Westen, bis endlich die Nacht die reife Pracht des Tages in ihren blauen Mantel fängt und das schimmernde Sternenheer unser bewegtes Einzelschicksal für einige Stunden ruhen läßt vor den ehernen Toren der Ewigkeit –
Ich aber steige zu Tal durch den schweigenden Hochwald, froh und getrost, mit einer Welt des Erlebens zwischen gestern und heute. Und mit einer Lust zur Arbeit für all die nächsten Tage, unter der es wie ein feiner, köstlicher Durst liegt nach dem Sonnentraum auf der Höhe. Bis ein heißverdienter Ruhetag mir aufs neue ein Wandern schenkt nach oben, nach Sonne, Licht und Freiheit – auf die Alm!