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Aus der Sommerfrische

Da gibt's einen köstlichen Winkel.

Ein alter Gasthof an der Reichsstraße, knapp bevor sie aus dem Talschluß zur Almhöhe klimmt. Und ihm gegenüber zu Füßen der moosigen Kirchhofmauer ein paar weißgedeckte Tische, von Kastanien überschattet, kühl, beschaulich, ein bedeutsamer Platz. So hat man Leben und Sterben fast armweit zur Seite, trauliches Küchengeklapper und stillen Kirchhoffrieden, und sieht, behaglich ans Jenseits gelehnt, dem freundlichen Diesseits entgegen. Starrt aus schattigem Nest still und geruhsam die flimmernde Dorfstraße entlang mit ihrem bedächtigen Leben und Regen. Freie Vormittagsstunden – ein rares Geschenk nach Jahren der Studien und der Arbeit, wenn der junge Tag zu goldener Vollkraft reift und alle Hantierung des harten Lebens in einen leuchtenden Rahmen fängt.

Und zuzeiten schlägt ein leichter Almwind das Blätterdach zur Seite. Dann steigt ganz nahe der uralte gotische Kirchturm in lichtem Quadergrau in den klaren Himmel, von Schwalben umspielt. Von der Turmuhr aber lösen sich langsam die Stunden in zitterndem alten Erzklang und teilen den langen goldenen Hochsommertag in köstliche Weilchen des Lebens.

Und doch ist es kein Traum, wenn die alte deutsche Posthornweise aufschwingt aus dem rauchblauen Waldgrund. Denn bald krabbelt es schwarzgelb die Straße heran und bringt Briefe und Zeitungen, ein lärmendes Mahnen an die hastende Alltagswelt draußen. Die Marokko- und andere »brennende« Tagesfragen? – Hier gibt es nur eine heute: Ob der Zehnerhirsch, der gestern im Abenddunkel im Zwölmerschlag gefallen, auch gefunden wird. Parlament, Streiks, Hitzewelle, Fleischeinfuhr – sie dämmern gerade noch undeutlich auf, wenn das Nachmittagsschläfchen droben in der großen kühlen Stube die sonnenmüden Lider zufallen läßt.

Nach dem Kaffee ein gemächliches Nesteln am Jagdzeug für den Pirschgang am Abend. Dann geht es dem rauschenden Forellenbach entgegen, auf weißer Straße, über steile Bergwiesen, durch lichten Lärchenwald zum Ansitz. Im Winkel des Hochwaldes steigt ein ungeheurer Waldschlag auf voll wucherndem Lattich, mannshohem Germer, Erlenböden und langen Frattenbändern bis auf die Schneide, wo über weißen Steintrümmern ein paar fahle Baumleichen in die Luft greifen. Die Sonne ist gesunken. Doch noch leuchtet tiefblau der Äther über dem weiten Kessel. Hoch zu Häupten kreist ruhig ein Geier wie ein Ritter vom Stegreif überm weißen Felsgemäuer. Sein Schrei wie der eines kleinen Kindes mahnt an ein altes Greisengesicht voll Geiz, Gewalt und ruchloser Mordlust. Zur anderen Seite steht alter Hochwald, ernst und finster. Kein schwellender Moosteppich, von Blumen durchwirkt, wie ihn die Dichter besingen. Fußtiefer schwarzer Holzmoder, von Trümmern durchsetzt, von dürrem Geäst übersät, ein Leichenfeld aus dem Kampfe ums Dasein, das noch den toten Jungwuchs im Gewirr der Äste aufrecht hält in Wehr und Waffen der starren Zweige. Tief hinten im finsteren Grunde aber hockt das Märchengrauen der Kinderzeit und manch alte Sage. Graf Haug von Montfort schreitet wieder wie vor fünfhundert Jahren durch seinen alten Forst, im Elenkoller, den Jagdspieß zu Händen. Aber über dieser toten Welt schießen gewaltige Stämme in schwindelnde Höhe und wiegen als starke Sieger hoch droben über Tod und Verwesung die grünen Kronen im leuchtenden Abendgold.

Eine reiche, geweihte Stunde im langen Leben. – Vom Talgrunde rauschen die Wasser, aus sonnigen Weiten klümpern die Herdenglocken, ein Wagen rattert auf der tiefen Straße, Hundegebell. Im weiten Himmelsrund schwimmt noch der Habicht. Und nun steht plötzlich, wie durch Zauberei, ein Reh auf dem Schlag, goldbraun, rupft am Brombeerlaub, steigt durchs Erlengestrüpp, schüttelt das Haupt vor den Fliegen, verhofft und äst wieder. Dann knackt es leise oben am Waldrand, eine Geiß mit zwei Kitzlein. Die bocken sorglos um die Alte, springen hin und her über ein Wässerlein wie richtige Buben und verhoffen dann mit wichtigem Ernst wie kluge alte Leute. Wie unbewußt suche ich wieder die erste Geiß. Die ist nicht allein geblieben in diesen Tagen der Brunft. Ein kapitaler Kreuzbock, dem die Krickel hoch über die Lauscher ragen, treibt sie durchs Gezweig. Wieder stehen beide regungslos, minutenlang. Dann ziehen sie knapp hintereinander dahin. Bald stürmischer, in raschen Sprüngen, verfolgt der Herr die spröde Schöne, die geschickt, wie kokett, seinem Ungestüm ausweicht. Und bald geht es in toller Jagd kreuz und quer über den weiten Schlag, hinauf und hinunter, immer unbesorgter, heißer, wilder, bis Instinkt und Ermatten im sinkenden Abend sich einen nach ewigem Gesetz.

»Hiaz san ma'n los«, brummt der Jagahias an meiner Seite. Richtig, da habe ich ja ein wirkliches Schießgewehr über den Knien, und aus dem weiten leuchtenden All fallen die Gedanken wie bestürzt nieder zum kleinen Menschenziel. Es hat einige Mühe, den guten Hias zu trösten. Ganz gelingt es erst im Dorf drunten, beim schäumenden Abendkrug, wenn ein Pirschgang geplant wird.

Vor dem Schlafengehen ein Gang durchs Dörflein. Da flimmern die Sterne in der blauen Nacht, überm Kirchturm steht der Mond, und von den Hängen kommt süßer Heumahdduft. Stärker rauschen die Wasser in den Gräben und rauschen noch lange hinein in einen stillen Traum voll Waldeskühle und Sommerpracht und Almfrieden. Allerdings – nicht immer.

Da kam ein Samstagabend, an dem die Holzknechte Zahltag hatten. Das war dann ein Singen und Jodeln in der großen Wirtsstube unter meinem Bett, ein rasches Anrufen und Gesundheittrinken rundum, daß ich die Chronika der Herren von Zimmern still zur Seite legte. Jubelnd begrüßt, erschien ein Harmonikaspieler auf dem Plane. Und nun ging der Tanz an. Ein Drehen und Schleifen, ein Dröhnen, Treten und Jauchzen, zügig und taktfest, in ehernem Rhythmus, stundenlang. Ich begann gemach etwas kühl zu denken über Volkskunde und Heimatkunst. Dann fielen mir die Augen zu. Plötzlich nach Mitternacht ein höllischer Lärm. Ich kannte die Stimme meines treuen Hias. Der schrie dringend, wer ihm die Spielhahnfeder vom Hut gerissen, und lud männiglich und dann summarisch die ganze ehrenfeste Korona zu einem Tun nach Götz von Berlichingen. Der Lärm schwoll darauf zum wahren Hexensabbath an. Man suchte offenbar einen hinter dem Tische hervorzuziehen, der sich mannhaft dagegen »spallte«. Dann wurde jemand einige Male in den Gläserkasten geworfen. So diagnostizierte ich. Dazwischen gellten Weiberstimmen und endlich wälzte sich mit Rumpeln und Krachen ein Knäuel Kämpfender durch die fürsorglich geöffnete Haustür. Mein Favorit war unterlegen und bald trat Ruhe ein. Am Morgen war die Wirtsstube wieder blitzblank, am Gläserkasten schnitt ein durchziehender Hausierer neue Scheiben ein. Auf meine Frage nach den Opfern der nächtlichen Schlacht meinte die Kellnerin, es sei eigentlich nichts gewesen, nur der Hias habe etwas »raffen wölln«, man habe ihn aber »beguatet«, und so sei alles friedlich abgegangen. Eine Auffassung von ergreifender Milde, die alle Teilnehmer später bestätigten.

Und wieder kamen Tage voll Hochsommerglanz und Almwindwehen, köstlich und kühl, während die weite Welt in sengender Hitze schmachtete.

Am nächsten Sonntag ward das Hochamt in der kleinen Dorfkirche zu Ehren eines Heiligen »musikalisch«, das heißt mit Instrumentalmusik, gehalten. Und die wenigen, die sich da zusammenfinden an Künstlern im Tal, sie rahmen die heilige Handlung ein mit wundersamen alten Weisen, die noch aus der Knabenzeit im Ohre schlummern. Im Tantum ergo ein Klarinettsolo, innig gemütlich, »mozartesk«. Vorsichtig geblasen, erreicht es wie auf schwankem Steg glücklich das jenseitige Ufer der Melodie, von Geigen und Hörnern behäbig empfangen. Und aus blauen Weihrauchwolken hebt sich in edler Linie ein Benedictus, getränkt in den naiven Arienwohllaut der glücklichen Großvaterzeit. Vor mehr als fünfzig Jahren hat es eine herrliche Altstimme gesungen, voll unschuldiger, üppiger Sinnlichkeit, und scheue Knabenträume woben beim Blasbalg hinterm Orgelstuhl ein güldenes Krönlein ums feine, blonde Haupt der kleinen Bäckerstochter im Heimatorte. Dann wagt beim Genitori die Klarinette wieder glücklich ihr Gänglein, und bald treten wir aus der Kirche in die Pracht des Tages.

Und so reiht sich ein goldener Tag an den anderen zur leichten Kette. Harzduft und Sonnenglanz, die weite Ruhe im leuchtenden All, sie legen sich wohlig an die Brust. Als erschlössen sich lange verriegelte Tore, so werden geheime Kräfte der Seele frei, daß sie wieder die Schwingen regt wie in glücklicher Jugendzeit. Vom hohen Waldrand schweift der Blick weit hinaus über blauende Hügel ins schimmernde Flachland; das zittert weit in der heißen Luft. Und das Hasten und Jagen der großen Welt, es erscheint wie das zuckende, zappelnde Großstadtleben im Bilde eines Kinematographen. Weit über Raum und Zeit spinnen sich die Gedanken. Wer etwa nach hundert Jahren mit all der Ruhe und dem Weitblick, den ein langer Zeitabschnitt dem Urteil erlaubt, wie aus Herrgottsperspektive herabsehen könnte auf unsere Zeit mit ihrem leidenschaftlichen, mitleidlosen Ringen, und wer es inne würde, wie die kargen Erfüllungen von heute kaum als erlaubte Raststunden empfunden werden im Weiterstürmen nach den neuen lockenden Zielen von morgen, bis die kleinen ruhelosen Wellen des Einzellebens im Zeitenstrom verrinnen, unbemerkt und verloren – dem müßte ein heißes Gefühl des Erbarmens aufquellen mit der Tragik unserer reichen und doch so schönheitsarmen Tage und ihren nimmermüden Streitern. Wer rüstig seiner Zeit genügen will, der fürchtet mit Recht nichts so sehr wie den Quietismus, das sorgenlose Selbstgenügen, den selbstgefälligen Optimismus des Philisters. Aber eine sonnige Pause im harten Arbeitsjahr, ein wunschloses Treiben im Strome des Lebens, es sollte allen Arbeitenden nicht versagt sein.

Darum denke ich an mein grünes Asyl mit dankbarer Liebe und der kommende Alltag soll mir seine frischen Farben nicht allzu bald verstauben.


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