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der hebt, wie billig, an mit Kirche und Schulhaus über der Brücke im Tal und steigt an sonniger Lehne breit und behaglich hügelan zum obersten Platz, wo die Linden stehen und unterm Tor der Gasthöfe die dicken Fleischerhunde in der Sonne schlafen.
Und halbwegs am Hange, gerade noch nahe genug dem Rauschen des Wehres drunten und dem Lohgeruch vom wassernahen Gerberanger, steht ein Haus mit Blumen am Zaun und Hof und Stall und Garten dahinter. Wer da eintritt ins steinkühle Vorhaus, den grüßen zwei liebe braune Augen und ehe er sich's versehen, sitzt er im Polsterstuhl vor gelbem Maisbrot und goldklarem Birnmost und sieht geruhig durchs Fenster auf die heiße Straße, darauf der Werktag gemächlich seiner Wege geht.
Wer aber dies Haus von der Wiege aus entdeckt und erlebt hat an traulicher Mutterhand, unterm stahlblauen Schwabenblick des Vaters, dem lebt's noch heute in Herz und Sinn, mit der leise knarrenden Küchentür und den an der Wichsleinwand klebenden Gläsern auf der Kommode.
Da saß man vergnüglich zwischen zwei Welten. Vor dem Ziergärtlein die Straße mit Fuhrwerk und fahrendem Volk, und nach hinten hinaus der Kuhstall mit dem glitschenden Saugkalb und im engen Gang die Schweine in ewiger Dunkelhaft. Und Heuboden und Streuhütte und Wagenschupfen und die Zeugkammer mit hundert Geräten zu Zweck und Ziel im Jahrlauf der Arbeit, daß man zu schauen und zu versuchen nicht müde ward.
Wie köstlich lang ist solch ein Kindertag! Und randvoll von farbigen Bildern und kleinen Erlebnissen, an deren Statt wir später zwischen verbrauchten Begriffen und verstaubten Gedankenhecken dahinstolpern.
Kaum hatten die Novembernebel die letzten Hirtenfeuer gelöscht, so lag die Welt eines Morgens in schimmerndem Weiß vor den Fenstern. Und immer noch fielen die Flocken, still und schwer, daß Zaun und Garten darunter zu versinken drohten. Immer höher schichtete sich die weiße Last, aus der die Häuser und der ferne Wald so seltsam scharf und nahe standen.
Und eines trüben Wintermorgens kam er herangepflügt, der sagenhafte, ungeheure Schneepflug, von zwölf dampfenden Hengsten gezogen, mit Klingelpracht und scharfem Peitschenknall, gesteuert von einem Trupp Heroen, dem schwarzen Mothes, einem Nickelmann mit bleckender Hasenscharte, dem windischen Greger, dem langen Vierspanner. Gut zwei Schuh hoch waren die schweren Bohlenwände und ein paar Klafter weit spannte er die Flügel. Zu hohen Wogen schob er den Schnee zur Seite, gleichmütig und stumm wie das Schicksal. In seinem Bug saßen auf den Querspanten pelzmützige Schneemänner mit Schaufel und Krampen, und wer noch sonst gerade Zeit und Lust hatte, wie der alte Medaillenveteran Pechtl im verschlissenen Soldatenmantel von anno neunundfünfzig. Und dahinter, wie die Schwalben am Telegraphendraht, die Kufen entlang die Jugend des Marktes. Und aus jedem Hause ward die Fracht um ein Bubengewichtlein schwerer, bis der Kampf ums Dasein wieder ein paar allzu Unbescheidene abgedrängt.
Damit war der Winter eingezogen und glitt auf blanken Schlittenkufen durch die Wochen, vom Weihnachtsabend und seinem stillen Lichterschein überglänzt.
Dann lag nach pfauchenden Taunächten eines Morgens die Welt wieder blitzblank im spiegelnden Sonnenschein, und ehe man's gewahrt, war Ostern da mit den düster glühenden Gruftbogen des Heiligen Grabes, im Posaunenprunk und Goldbrokat der Auferstehung, im Stuckgeschütz der Pöller und den roten Osterfeuern ringsum durch die schwarze Frühlingsnacht. Und immer wieder darauf der köstliche Werktag mit hundert Aufgaben und sinnvoller Hantierung in Hof und Stall und Feld und Wald und Wiese.
Doch zuzeiten tat sich im Garten froher Genügsamkeit ein Törlein auf und die weite Welt fuhr durch den Markt. Eine »Menascherie« ward hügelan gefahren in streng verschlossenen Wagen, baute ihr langes Zelt ins Lindengrün des Platzes und lud mit großartiger Geste zum Besuche. Zwei Kreuzer mußten wir jedes in die Schule bringen und zogen dann paarweise vom unteren Markt den Wundern einer fremden Welt entgegen ins geheimnisvolle Dämmer des Plachenzeltes. Da roch's vorerst wohl übel nach Hyänendreck und Fuchsharn. Und allerlei Getier war zu sehen, Außenseiter des bürgerlichen Lebens, »dritte Garnitur«, wie unsere originelle Zeit heute sagen würde. Ein ruheloses Gleiten und Wandern, ein ewiges Aus-der-Ecke-springen, ein Pfauchen und Jaulen der geschändeten Freiheit. Übellaunig kauerte eine schwarze Katze im Hintergrund einer finsteren Kiste, »der Silberlöwe oder Puma aus Westindien«. Eine blinde Hyäne – oder hatten sie alle so gekochte Augen? – hatte sich im ewigen Winden das Haupt am Gitter kahl gescheuert. Ein fahlzottiger Bär bettelte mit klappernden Tatzen aufrecht um Brot und Zucker. In einer Kiste lag unter Decken vergraben das Gliederknäuel einer mäßigen Riesenschlange. Und als ob er's ihr zur Wahl gestellt, versicherte der Mann im Fez mit dem spanischen Staberl – das einzige, das wir bisher aus dem Morgenlande kennengelernt – sie sei lieber ein Jahr lang ohne Nahrung als einen Tag ohne Wärme. Der sprach überhaupt so knapp und sicher vom Sündenregister all der fremden Tiere, als ob er sie selbst gefangen hätte. Uns schauderte gelinde die Haut. Noch heute ist seither die »Berberei« ein lieber gemiedenes Dorado aller reißenden Bestien. Doch all der heimliche Respekt fand vor dem Affenkäfig seine fröhliche Lösung. Wie scharfäugig und flink waren sie in ihrer geschäftigen Würdelosigkeit, wie schwerlos in Schwung und Sprung – und wie schamlos. Denn als einer dem gaffenden Hubmann-Pepperl den Filzkegel vom Strohkopf zog und ihn, übel besudelt, gelassen wieder durchs Gitter reichte, da gab's helles Gelächter im Kreise und haltloses Weinen des Geschändeten.
Doch noch war's des Geheimnisvollen nicht genug. Denn nachmittags um vier Uhr, »nach der Fütterung der Raubtiere«, sollte ein »Wilder« vor den Augen des geehrten Publikums eine lebendige Taube verzehren. Und das war ihm zuzutrauen. Denn es ging das Gerücht: daheim, weiß Gott wo, sollte er Abgötterei und Menschenfraß getrieben haben. Da durften und wollten wir nicht dabei sein. Aber unsere Kinderfinger streiften in scheuer Andacht vorsichtig die schokoladebraune Gänsehaut des Südseeinsulaners.
Wieder folgten auf die Schauer der Wildnis Wochen goldenen Erntesegens um Rain und Feld.
Und eines Morgens stand ein »Panorama« am Platze, von einer schmucküberladenen Matrone unter glitzernden Perlenkörbchen hoheitsvoll gehütet. Schon der umfassende Name lockte, und aus der kreischenden Drehorgel brach's immer wie »Panorama, Panorama«. – Es war über die Maßen großartig. Und was gab's drinnen erst zu trinken für durstige Kinderaugen! Da erschlossen die blanken Linsenpaare in den Gradlwänden uns zum erstenmal das stereoskopische Sehen, so leuchtend, so tief körperhaft, daß man sich nur zögernd verdrängen ließ. »Das Gastmahl der Toten« war ein schauerliches Bankett von Gerippen, die in stummer Bewegung aus giftgrünen und glutroten Augenhöhlen unter nackten Schädeln entgegengrinsten. »Die Christenverfolgung in Konstantinopel« zeigte einen ungeheuren Platz, von Moscheen und Palästen umsäumt, darüber tiefblau den wolkenlosen Himmel des Orients. Und über den weiten Platz hin die fliehenden Christen, von grimmigen Muselmanen eingeholt und niedergesäbelt. Schon lagen ihrer viele dahingestreckt, unter jedem gewissenhaft seine Blutlache. Und dazu dudelte das Werkel so flötenmild den alten, köstlichen italienischen Walzer » Il Bacio« (»Der Kuß«), der so gut zum wolkenlosen Firmament und so wenig zu den blutigen Szenen stimmte. Und heute noch, wenn mir der Frühling die alte Werkelmelodie ans Ohr weht, seh' ich den weiten Platz mit den bösen Türken und den, ach, so frommen Christen. –
Und wieder kamen Wochen und Monate sorgloser Freiheit und traulicher Erdnähe. Der Austrieb zur Weide, frühmorgens, wenn die Hasen aus dem taufrischen Klee sprangen, die Hirtenfeuerlein am Rain, darin Erdäpfel und Birnen brieten, bis zum stillen Apfelfall im aufziehenden Mond.
Bis diese ganze glückselige Welt vor den Toren des Gymnasiums ihr Ende fand. Heimweh – der Kulturmensch lächelt wohl darüber; aber das Naturkind packt's mit stiller, tiefer Gewalt, die fast über alle Kraft geht. Welch bitterer Weg von freier Halde bis hinauf zum dritten Stock des Johannenhofes in der Villefortgasse zu Graz! Und wenn man am spätherbstklaren Sonntagnachmittag von der Buchkogelwarte gegen Süden spähte, hin nach dem blauenden Radl, wo die Mutter im Gärtlein für den Studenten nähte, wo sie am nächsten Morgen vielleicht froh auszogen zur Türkenschlacht, bis sich die Kolben häuften zum jährlichen Abendfeste des »Woazschälens« – dann war's nicht zu verstehen, wie da drunten die Menschen so glücklich sein durften, und man wanderte der steinernen Stadt zu mit einem Herzen, so schwer, wie ich's seither nicht mehr getragen. Daran denk ich noch heute. Und durch all die Wirrsal unserer Tage tönt's zuzeiten wie ein verlorenes Kinderlied: Es ist ein Markt in Steier –