Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Darüber schüttelt wohl manch grauhaariger Kollege den Kopf. Und mehr noch manch junger, den der jähe Schrill der Nachtglocke wie ein Messer ins Herz trifft. Aber sobald man mit Arbeitsrock und Stock sein besseres Ich angezogen, wird es doch anders. All das Verwirrende, Hetzende des Tages fehlt, das drängende Gleichzeitige und Übereinander. Die Urform ärztlicher Hilfe steht wieder auf; im einsamen kranken Menschen, der in Not und Elend den Menschen ruft, und im Arzte, der im Geleit der Nacht ihm zuwandert. Ruhig und klar steht seine Aufgabe vor ihm, und sie zu lösen, ist ihm eine fast unbegrenzte Fülle an Zeit gegeben. Wenn er ein genügsamer Schläfer ist, ein nüchterner Mann und – worauf es im Leben wohl immer ankommt – wenn er's richtig intus hat.
Es gibt wohl keine Stunde der Nacht, die mich nicht auf solchem Weg gefunden, keines ihrer stummen Gesichte, das mir nicht ins Auge geschaut: die heumahdduftige Juninacht, wenn der Wachtelkönig im Kornfeld rätscht, trübseliger Nebelregen im November, die taghelle Rauhreifnacht um Weihnacht, die föhndurchpfauchte, pechschwarze Frühlingsnacht. Und welch köstliches Gefühl, nach rechtgelöster Aufgabe heimzuwandern über mondbeglänzte Höhen, an verschlafenen Höfen vorbei, durch die hallenden Gassen, an einsamen Lichtlein hoch droben, wo die Not des Tages die Müden noch im Traume schreckt. Und mir zur Seite geht vielleicht ein alter Bauernknecht, der »Krankenbot«, nachdenklich oder stumm und stumpf, wie es eben seine Art sein mag. Oft ist es dann merkwürdig, wie auch ihm die Stille der Nacht die Riegel löst vom langsam mahlenden Bauernhirn und ihm Bilder weist, die im hellen Licht des Tages versunken lagen. Von den Burgtrümmern über dem Wald weiß er manch dunkle Kunde, der brausende Südwind – »Jauk« nennt er ihn aus dem Munde seiner slawischen Vorfahren – weckt Abenteuer mit dem »Wildgjoa«, das ihm, und er kann es mit hundert Eiden beschwören, in der Hauensteiner Klausen einst den »Wehtam« wie ein Hackl ins Kreuz geschlagen, daß es die schärfste Kranabettschmier durch Monate nicht hat heben können. »Obar oamol hat's a Papst abotn – und derselbige Papst is dann verkemmen …« Immer kehrt dieser gleiche Ausdruck in den Erzählungen des Landvolkes wieder: er ist nicht gestorben, er ist verkemmen. So treu bewahrt die Mundart im Volk das Schicksal jenes sechsten Sixtus, der in seiner Bulle gegen den Aberglauben ihn vergeblich bekämpft und sich, müde des höfischen Glanzes, wieder in die Einsamkeit seiner Sabinerberge zurückgezogen. Heinrich Federer hat ihm in seinem » Sisto e sesto« ein stilleuchtendes Denkmal gesetzt.
Die Nacht, die freie, ungestörte, ist die Welt ohne Menschen. Vor ihrem ungeheuren Hintergrunde, der uns wie winzige Wesen unter ewigen Gestirnen wandeln läßt, wird die Seele frei und weit. Alles Geschehen in urtümlichen Bildern, in hallenden Stimmen findet offene Tore. Alles Triebhafte, Liebe und Haß, Mord und Zeugung, Raub und Brunst, fand seit undenklichen Zeiten seine ungebrochene Stimmungsgewalt im Mantel der Nacht, die alles Verwirrende der Alltäglichkeit abblendet und oft Schicksale in shakespearischen Maßen an die Tafel der Unendlichkeit malt.
So hängt der Nacht im Volke noch heute ein Unheimliches an. Wenn im Anfange aller Religionen der Sonnendienst stand, der strahlende Aufstieg des Tagesgestirns, der uns auch heute noch ein beglückendes Wunder blieb, so war die Nacht stets das Reich böser Geister und feindlicher Mächte, die Hochzeit alles Schattseitigen, Sonnabgewandten. Noch unsere Urgroßväter dachten mit gemischten Gefühlen an nächtliches Reisen. Gefahren und mancherlei Mißlichkeiten überwogen zu sehr. Raub und Diebstahl drohten im Wald und in der Schenke, nächtliche Untat lauerte sprungbereit in der Klause, am Kreuzweg unterm Rabenstein hockten glotzäugige Gespenster, Radbruch und Wettergüsse zwangen zu schlafloser Wacht in verrufener Herberge. Erst der Waldhornruf der Romantik zerriß das lastende Schweigen und erschloß nächtlichen Fahrten bei Mondesglanz und Sternenklarheit ihr geheimnisvolles Zauberreich.
Heute verblassen die Sterne überm Blinklicht der Bogenlampen, der Schlafwagen überholt donnernd das wilde Gejaid und unser »Nachtleben« hat mit Romantik nicht mehr zu tun als ein Kabarettchanson mit einem Abendsegen von Claudius. Daheim aber ist uns die elektrische Lampe längst zum lieben, stets dienstbereiten Hausgeist geworden – bis ein Kurzschluß sie löscht! Mit der Ratlosigkeit des jäh Verarmten tappen wir nach der Tür. Doch schon kommt ein Lichtlein gewandert wie mit Kinderschritten und auf dem Tische steht – siehe, da bin ich wieder! – der Märchenfreund der Kinderzeit, die Kerze. Da werden alte Sorgen wach, in Winkeln und Ecken warten die Märchen, auf Großvaters Bücherspind reiben sich würdige Meister, Basedow und Lavater, Gellert und Gleim, ein Jahrhundert aus den Augensäcken und vor den frostinkrustierten Scheiben steht der Winterwald mit dem Strahlenstern überm verschneiten Tannenwipfel. So steht sie still und tapfer mit reiner Flammenzunge gegen die heidnische Finsternis. Und wandert bescheiden in die Ecke, wenn die Lichtflut wieder durch die Drähte schießt.
Auch beim Landvolk hat sich die Zeit gewendet, da man am frühen Winterabend die letzte Hantierung nur mehr im Dunkel tat und aus sicherer Gewohnheit durch Stall und Stadel, durch Gänge und Winkel schritt. Und wir Kinder mit Pfeifen und Singen das heimliche Grauen zu großmächtiger Tapferkeit logen.
Aber ein Reich ist der Nacht noch heute geblieben, unbegrenzt und ungeschmälert in der freien Natur. Aus blassen Erinnerungen der Kinderzeit wissen wir vom Nachtleben der Tiere, jener fremd-seltsamen Welt, die, ob sie auch Tür an Tür mit uns wohnt und nach Legionen zählt, uns kaum mehr vertraut ist als ihre Vorfahren vor Jahrmillionen. Zwei Welten von Lebewesen, die seit Jahrtausenden aneinander vorübergehen, unbeachtet und unbehindert. Wer außer den wenigen Fachgelehrten – und nicht alle dürften sinnende Grübler sein – weiß die Spuren ihres Lebens tagsüber zu finden, die offen zutage liegenden auch nur zu deuten? Aber wenn die Sonne hinter die Berge geht, dann steigt aus Ritzen und Spalten, aus Gängen und Klüften, aus wehrhaften Burgen und armseligen Hütten, aus kunstvollen Bauen und dürftigen Verstecken, aus Luft und Erde, aus Stein und Wasser ihr unabsehbares Geschlecht. Kommt gegangen, gelaufen, gekrochen, geflogen, äugt und wittert mit nachtgewohnten Sinnen, rafft mit nachtbewehrten Gliedern, singt und ruft, schlemmt und schlingt, baut und nagt, paart sich und mordet, führt sein verhohlenes Leben unterm Mantel der Nacht, unbekümmert um ein fernes Blitzlicht und Sirenengeheul, lebt nach seinen Gesetzen, triebhaft, hastig oder nachdenklich schleichend, bis das nahe Tagesgestirn zur Flucht mahnt. Oder wir denken ans ewige Nachtleben oder vielmehr den trüben Dämmer der Tiefsee mit ihren Orgien der Unerschöpflichkeit. Wo durch stille Korallenhaine stieläugige Fische ziehen, denen der zahnstarrende Rachen den halben Dickkopf schlitzt und phosphoreszierende Blendlaternchen die Räuberpfade weisen.
Nachttiere – ob die auch fröhlich sein können? Wir meinen doch. Und denken ans zirpende Heimchen, an den geschwätzigen Froschchor im Kolk. Aber der Unkenruf tönt doch wie einer Verwunschenen Klagelaut aus der Tiefe und das Lachen des Waldkauzes höhnt mit satanischer Schadenfreude im Dunkel. Das macht wohl nur, weil wir als Menschen – anthropozentrisch heißt der Wortkyklop – nach menschlichen Maßen wägen. »Wenn die Motte wüßte, daß sie vom Staub lebt, möchte sie ihr Lebtag nicht froh werden«, hat Freund Sittenberger einmal nachdenklich gesagt. Und so wird ihrer vielen in der Nacht ihres Daseins das Licht zum blendenden Wunder, an dem sich der Nachtfalter – ich spreche nicht vom Menschen – die Flügel versengt, dem der Krebs zu seinem Unheil bedächtig zuwandert.
Wandern in der Nacht, man sollte es öfters treiben. Oder nur mit einem roten Lichtlein in der Laterne, das die Stämme des Waldes ins Ungewisse wachsen läßt und Kraut und Strauch zu wunderlichen Formen wandelt. Aber dann gesellt sich ein freundlicher Bergknappe fürsorglich zu uns. Seine Azetylenlampe enthüllt mit einem Schlage grell und schonungslos die Marterzüge im Furchengesicht der alten Erde. Und dann bricht mit einem Male an einer Wegbiegung aus einem schimmernden Palaste von Glas und Eisen ein Meer von Licht. Hebel gleiten, Förderseile schwirren, hurtig aus der Tiefe wachsende Hunde donnern die Kohle in gierig schlingende Rachen. Und rußige Gesichter mit klaren Augen und ernsten Stirnen nicken uns vertraut zu. Die Nacht der Arbeit ist um uns, ihr erregendes Leben springt in unsere Nerven, handfest und herzhaft, und führt den grübelnden Stimmungskrebs an starker Hand ins weite Feld der Pflicht.