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Da liegt ein Land, still und sonnig und geheimnisvoll, weit draußen am Anfange einer langen, staubigen Lebensbahn. Das hat kühle Brunnen und köstliche Schatten und saftige Wiesen mit leuchtendem Löwenzahn und Kornblumen im reifen Feld. In den blühenden Apfelbäumen schlagen Finken und Meisen und weiße Schäfchenwolken segeln hoch im reinen Blau. Und ein Tag darin ist länger als ein ganzes Jahr der großen Leute und gibt den Sinnen zu trinken, vor allem den Augen, von Bildern und Dingen, daß man des Abends steinmüde zu Bette sinkt, sorglos und sicher vor Räubern und wilden Tieren, denn die Mutter hat uns zur Ruh gebracht und wacht über uns beim Lampenschein. Und Besseres gibt's auf der ganzen Welt nimmer. Das weiß ich auch heute noch.
Denn wie ein Märchen begann das Leben. Die Vögel sprachen und die Tiere, die Dinge standen still und nachdenklich in ihrem Winkel und warteten, bis man sie nähme, um mit ihnen zu spielen. Menschen gab's nur wenige. Die Mutter – und Kinder. Alles übrige waren Leute. Die hatten wohl anderes zu tun, kamen und gingen und trugen nur hie und da etwas an sich, das vorübergehend aufsehen ließ. Im wesentlichen aber waren es die Kinder und die Dinge. Im Frührot der ersten Lebensjahre waren sie aus dem Dunkel getreten und standen nun im hellen Sonnenschein des Tages. Noch gab's keinen Weg, kein Ziel, kein Messen und Schätzen. Eins löste das andere ab, der leuchtende Kelch einer Lilie, darin ein Goldkäfer grübelnd saß, schwingender Glockenklang über unendlichen Wiesen, der Duft eines roten, leckenden Rebenfeuers, der Wohlgeschmack eines gebratenen Apfels.
Das wurde genossen, nein, erfahren, in stiller Einsamkeit oder mit anderen Kindern. Man traf sich in dem Meer von Zeit wie das Wild im Wald. Am Wege, in einem stillen Winkel hatte man was zu schauen, fand wohl ein anderes Kind, und die Welt ringsum und Ort und Zeit versanken im Spiel. Zwei junge Seelen gingen unbewußt nebeneinander auf die Wanderschaft in die Welt der kleinsten Tatsachen. Oder beim Viehweiden am Felde schlüpfte auf einmal ein fremdes Menschenkind durch die Rebenhecke, braun und verwundert. Ein wortloses Mustern, ein Beobachten, ermunternd oder zurückweisend, und wieder war die Welt untergegangen in all dem Neuen, das zwei junge Menschlein an Beobachten und Erkennen sich zu geben hatten. So versank man ins Spiel wie in einen tiefen Brunnen und sah man, durch ein Äußeres, einen Ton, einen Ruf geweckt, einmal auf, so lag die Welt so winzig klein in der Ferne, wie die ziehenden Wolken hoch überm Brunnenrand.
Die weite Welt – wie wenig Anteil hatte man für sie. Man wußte, da lief die Straße fort ins Weite, bis ans Ende der Welt und weiter noch – bis Graz, wo zur Nacht Gasflammen wie gelbe Schmetterlinge in den Laternen brennen sollten. Möglich, aber was tat's? Im Bereiche der Welt lag nichts, das einem so nahe ging wie Haus und Garten und Hof und der Bodenraum mit seinen tausend Geheimnissen.
Da war unser Garten – und damit steht mir mit einem Male mein eigenes Jugendland morgenklar vor Augen – da war unser Garten, über alles Bedürfen groß nach kindlichen Maßen, mit leuchtenden Blumen und Wegen und Winkeln, mit Schnecken im Burbaum und Käfern im Laub, mit hundert Stiefmütterchen, deren jedes ein anderes Großmuttergesicht trug, als wollten sie sprechen und könnten's nicht; mit Blumenherzen, die, an schwanken Ranken gereiht, immer kleiner wurden, und mit Rosen, die – für uns – von hohen Bäumen sich lauschend niederbogen nach den spielenden Kindern. Und wenn ein Falter eine Zentifolie an den dicken Backen nahm und sie tief, so recht tief ins Herz küßte, so waren's eben zwei belebte Wesen, wie ich und mein Spielgesell, nur stiller und daher vornehmer, daß man ihnen andachtsvoll zusah.
Am Garten vorbei lief die Landstraße zur vollen Höhe des Marktplatzes. Das war die weite Welt überm Zaun, oft fremdartig und scharfer Beobachtung wert, aber unsicher und gefahrenumlauert. Die Füße auf den Planken, mit beiden Händen an die Sprossenköpfe geklammert, so sah sich's am besten hinaus und am sichersten. Da zog der Fuhrmann vorbei im blauen Kittel, der mit seinem Vierspännerwagen von Kärnten kam, mit dem bellenden Spitz in der Wiege unterm Wagenboden. Oder es kamen weißlodene Slowaken mit dürren Schindmähren an dem Karren, die Zwiebelkränze und aus flachgebauten Fässern Essig verkauften mit dem klagenden Slawenruf: »Essiga, Essiga!« Oder es war großer Jahrmarkt. Da wanderten Ochsen vorüber, Paar auf Paar, schwer und doch hurtig, wie wandelnde Berge, braune, schwarze, scheckige, mit hundert Abwandlungen des Gehörns, oder ramsnasige Schafe vom Ursulaberge. Oder eine »Leich« zog dahin, schwankend auf den Schultern der Schwarzmäntel, mit Posaunenpracht und seltsam glimmenden Laternenlichtlein am hellen Sonnentag. Und kamen wohl gar einmal Dudelsackpfeifer und Bärentreiber mit Kamelen und Affen, dann war's der ganze Orient, wie er sonst nur beim Weihnachtskripperl in der Kirche im Gefolge der Heiligen Drei Könige zu bestaunen war.
Das Köstlichste aber war doch die Fischergrube. So ward sie nach der alten Nachbarin geheißen. Die hohe Stützmauer am unteren Gartenende stieß rechtwinklig mit einer fremden tiefen Hausmauer zusammen und nach dem Winkel zu senkte sich von der Straße herab der Rasen mit Blumen und seltsamem Unkraut zu einem mächtigen Hollerbusch im tiefsten Winkel, der wie ein getreuer Pudel oder eine alte Kinderdirn sich zausen und rupfen ließ, der Zweige gab für Hollerbüchsen und grüne Wimpel für Umzüge und dabei immer wieder in stiller Zufriedenheit den Spielen seiner Gäste zusah. Auch der lebte, war wie ein alter Mann mit dem starken, ernsten Hollergeruch, und die Läuse saßen ihm an den Spitzen wie dem Bettler im Pelz.
Wie eine nachdenklichere Seite des Lebens wehte es einen aus dem kühlen, rauchdurchzogenen Winkel an, wenn man aus dem heißen Sonnenglast des Gartens niedergestiegen war zur Fischergrube. Da führte an der schattigen Moosmauer das Geschlecht der Asseln und Ohrwürmer sein verhohlenes Leben, eine Kröte saß im Grunde mit brunnklaren, goldgeränderten Augen und die Spitzhütchen der Moose standen märchenzart auf dem sammetweichen Boden. Dann hatten wir wohl einmal unter tausendfältigen Gefahren eine mächtige Hummel von einer Taubnessel gefangen und in einem sorgsam geglätteten Lehmverließ hinter einem Glasscherblein eingetürmt. Dahinter tobte sie nun und wir hockten davor mit dem gesicherten Grauen vor der gebändigten Urkraft.
Dazwischen rief einmal die Mutter und wir mußten einen kleinen »Weg machen«, zur Melblerin über der Straße oder zum Kaufmann marktaufwärts.
Die »Kürschnerlenzin« war ein steinaltes, verhutzeltes Weiblein, bleich wie Teig, das vor sich sann, bis das federnde Glöcklein über der Ladentür sie für die kleinen Kunden weckte. Getrocknete Zwetschken, mehlbestaubt und süß, waren die kleine Draufgabe beim Einkauf, die sie uns nahe brachte.
Beim Kaufmann trat man eine Stufe hinab in den Laden, der niedrig gewölbt und in altem Kobaltblau gefärbelt, mit einzelnen Sternen an der Decke, das Firmament versinnbildlichte. Darin roch es von allen Gewürzen Indiens. Über der »Budel« hing von der Decke ein mächtiges hölzernes, nach der Haartracht zu schließen, weibliches Meerwesen mit weitgespreizten Fischflossenbeinen und seltsam leer ins Weite starrenden Augen. Die waagrechten Flossen entlang hingen an Haken Schuhbänder, Peitschenschnüre, Talgkerzen und hundert anderer Kleinkram für die bäuerlichen Kundschaften. Denn noch schlug man am Kirchplatz Feuer mit dem Zunderschwamm und Stein aus dem »stachlernen« Rücken der festen Messer. Der ansehnliche Kaufherr aber, ein alter, schneeweißer, ernster Mann, stand bei uns in hoher Achtung. Ob seine Frachtwagen nun die Waren auch nur von Graz oder Leibnitz brachten, für uns war's so weit, als ob sie an den Häfen des Weltmeeres aufgeladen worden wären. Und doch nahm er es wieder gutmütig auf, wenn der Ankauf eines Bundes »Süßwurzel« um einen Kreuzer durch einen von uns von der draußen harrenden Übernahmskommission abgelehnt wurde, und tauschte die Ware gelassen um.
Und so verging ein langer, langer Tag, bis wir zu Bette mußten, noch im Abenddämmer, wenn draußen noch die letzten Kinder um den Marktbrunnen jagten oder singende Burschen nach dem Feierabend die Straße hinabzogen zur Abendrast an der alten Steinbrücke am Bach.