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Das Gleichnis der Freundschaft

Ein Handelsherr hatte einen einzigen Sohn, den er sehr herzlich liebhatte, und ließ ihn mit viel Sorgfalt erziehen und sparte nichts zu seiner Herzens- und Geistesbildung. Die Erziehung des jungen Mannes war beinahe vollendet, als er beschloß, ihn auf Reisen zu schicken. »O mein Sohn,« sprach er eines Tages zu ihm, »glaube mir, unter allem, wessen man zum Leben bedarf, ist das größte Erfordernis, einen guten Freund zu haben. Verschwendung nimmt uns unsern Reichtum, die Kehrseite des Glücks läßt die Mächtigsten in Not versinken; doch nur der Tod allein raubt uns einen Freund, wie er uns selbst uns raubt; er ist der einzige Vorzug, den uns keine menschliche Gewalt entreißen kann; finde einen einzigen Freund in deinem Leben, und du hast das erste und größte aller Güter gefunden. Ich will deshalb, daß du die Welt durchwanderst; Reisen geben die wahre Kenntnis, je mehr Menschen man gesehen hat, desto besser weiß man unter ihnen zu leben. Die Welt ist ein großes Buch, das den belehrt, der in ihm zu lesen vermag; sie ist ein treuer Spiegel, der unseren Augen alle Dinge wiedergibt, deren Kenntnis uns fördern kann. Reise ab, o mein Sohn, und denke auf allen deinen Wegen nur die eine Erwerbung zu machen: die eines wahren Freundes. Opfere, wenn es not tut, ihm alles, was du an Kostbarkeiten mehr hast!«

Der junge Mann nahm Urlaub von seinem Vater und reiste in ein Land, das wenig entfernt lag von dem, das er verlassen hatte; dort verweilte er kurze Zeit und kehrte dann in sein Vaterland zurück. Sein Vater, der erstaunt war ob einer so eiligen Rückkunft, sprach zu ihm: »Ich erwartete dich nicht so bald zurück.« Der Sohn antwortete ihm: »Du hattest mir aufgetragen, einen Freund zu suchen, und ich habe ihrer fünfzig gewonnen, die das Muster wahrer Freundschaft sind.« Der Vater erwiderte: »O mein Sohn, mißbrauche diesen heiligen Namen nicht; hast du vergessen, was der Dichter sagt? Rühme dich des Freundes nicht, ehe du ihn geprüft hast. Freundschaft ist ein selten Ding; fast alle, die um diesen Titel werben, sind nur Heuchler: sie gleichen einer Sommerwolke, die beim geringsten Sonnenstrahle zunichte wird, und gehen mit denen, die sie zu lieben vorgeben, um, wie Trinker mit einem vollen Kruge Weines, den sie liebevoll an sich ziehen, solange er noch des köstlichen Nasses birgt, und den sie zu Boden werfen, wenn er leer ist; ich befürchte, daß die, derer du so zufrieden bist, solchen falschen Freunden ähneln, deren Wesen ich dir eben gezeigt habe!« Der Sohn entgegnete: »Dein Mißtrauen, o Vater, ist ungerecht; die, welche ich zu meinen Freunden zähle, würden mich auch im Unglück kennen, ohne daß sich ihr Herz verleugnet!«

»Sechzig Jahre habe ich gelebt«, sprach der Vater darauf, »und Glück und Unglück erfahren, viele Menschen zogen vor meinen Blicken vorüber; kaum habe ich da in dem Wirbel so vieler Jahre einen Freund erlangen können, wie hast du in deiner Jugend und in so kurzer Zeit ihrer fünfzig gefunden? Lerne durch mich die Menschen kennen!«

Der Handelsherr aber tötete einen Hammel, steckte ihn in einen Sack und bemalte mit dem Blute des Tieres die Gewänder seines Sohnes; nachdem dies alles für den Zweck, den er im Auge hatte, geschehen war, verschob er die Ausführung auf die Nacht. Dann nahm er den Sack mit dem Hammel, lud ihn dem jungen Manne auf die Schulter; dem er die Rolle, die er spielen mußte, beigebracht hatte, und beide gingen also gerüstet fort.

Der Jüngling klopfte an das Tor eines seiner fünfzig Freunde; der öffnete ihm mit geschäftigem Eifer und fragte ihn nach dem Grunde seines Kommens. »Ich komme im Unglück,« hub der Sohn des Handelsherrn an, »um die zu prüfen, die ich liebe. Ich habe dir oft von der alten Feindschaft erzählt, die zwischen meiner Familie und der eines Würdenträgers besteht; der Zufall führte uns an einem abgelegenen Orte zusammen, und der Haß zwang uns die Waffen in die Hand: ich sah ihn leblos zu meinen Füßen liegen. In meiner Furcht vor gerichtlicher Verfolgung habe ich seine Leiche genommen, sie steckt in dem Sacke, den du auf meinen Schultern siehst; ich bitte dich, die Leiche in deinem Hause zu verbergen, bis die Sache eingeschlafen ist!« Sein Freund entgegnete mit schmerzlicher und verlegener Miene: »Mein Haus ist so klein, daß es kaum die Lebenden, die in ihm wohnen, fassen kann, wie könnte ich da einen Toten verbergen? Jeder Mensch kennt den Haß, der zwischen dir und dem Manne besteht, den du getötet hast: man würde bald mutmaßen, daß du der Urheber seines Todes bist; man würde Nachforschungen anstellen; und da unsere Freundschaft stadtbekannt ist, würde man sie in meinem Hause beginnen; es möchte dir nicht zum Guten ausschlagen, wenn ich mich in dein Unglück mischte; der einzige Dienst, den ich dir leisten kann, ist, dein Geheimnis zu wahren!«

Der junge Mann erhob von neuem Einwände, aber vergebens; nachdem er es aufgegeben hatte, diesen Undankbaren zu erweichen, machte er sich daran, der Reihe nach die fünfzig Menschen aufzusuchen, auf die er so leichtsinnigerweise gebaut hatte, und fünfzigmal erhielt er dieselbe Antwort.

»Erkenne nun, mein Sohn,« sprach der Handelsherr, »wie wenig man mit den Menschen rechnen kann; was ist aus dem Eifer derer geworden, welcher du mit so prunkendem Lobe gedachtest; alle haben sie dich im Unglück verlassen. Sie sind gemalte Wände, Wolken ohne Regen, Bäume, die keine Früchte tragen; nun will ich dir die Verschiedenheit zeigen, die zwischen dem einzigen Freunde, den ich habe, besteht und den deinigen!« Also plaudernd, kamen sie vor dem Hause dessen an, den er seinem Sohne als das Muster wahrer Freundschaft angepriesen hatte. Ihm erzählte er das angeblich seinem Sohne zugestoßene Unglück. »O dreimal glücklicher Tag,« rief dieser Mann aus, »der mir Gelegenheit gibt, dir meine Anhänglichkeit an dich zu beweisen; wenn du auf mich rechnest, kommst du mir gerade recht; mein Haus ist groß genug, um tausend Leichen zu verbergen; selbst wenn mir Gefahr daraus erwachsen könnte, ich würde ihr freudig die Stirne bieten, in der Hoffnung, dich zu retten. Komme mit deinem Sohne auf meinen Grund und Boden, ihr lebt dort ruhig, unbekannt und geschützt vor allen gerichtliehen Nachforschungen!«

Nachdem der Handelsherr seinem Freunde für alle seine hochherzigen Anerbietungen gedankt hatte, sagte er ihm, daß alles, was er eben erzählt hätte, erfunden sei, um seinem Sohne den Unterschied zwischen falschen und wahren Freunden zu lehren.


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